Die Sehnsucht nach einem Stück Himmel

«Helden» in der Gegenwartsliteratur? Christoph Gellner gibt Einblicke in vier Romane: Sie erzählen vom Konformitätsdruck überkommener Männermuster und entwerfen Gegenbilder einer neuen Leichtigkeit des Seins.

Auch Jonas fand als Held Eingang in die Literatur, hier im Gemälde «Jona und der Wal» von Pieter Lastman (1583–1633), Amsterdam, Niederlande. (Bild: picture alliance/akg-images)

 

In der Deutschschweizer Literatur war Otto F. Walter (1928–1994) einer der Ersten, der sich im Gefolge der 68er-Bewegung kritisch mit der eigenen Zurichtung «zum starken Mann, zum Unternehmersohn, zum Offizier, zur führenden Kraft in der Gesellschaft» auseinandersetzte und die «Einsicht in die Männermuster», die Folgen der Erziehung zu den «klassischen (militärischen) Männertugenden» literarisch fruchtbar machte. In seinem Roman «Die Verwilderung» (1977)1 liess Walter die junge Protagonistin Leni denn auch sagen: «Irritierte Männlichkeit wär wenigstens ein erster Schritt.»

Die Befragung dessen, was heutige Geschlechterforschung die Konstitution bürgerlicher Männlichkeit nennt, ging bei Otto F. Walter einher mit der Kritik an Religion, Kirche und Vatergott. Im Radiogespräch 1982 mit seiner Schwester Silja (1919–2011) erläuterte der 54-Jährige den Bruch mit seinem katholisch-konservativen Herkunftsmilieu so: «Diese Welt des Christentums ist für mein Gefühl auf eine inakzeptable Art autoritär und patriarchalisch. Mit dem Rebellen aus Nazareth und seiner Liebe als Zentrum hat das nichts mehr zu tun.»

Durch die kritisch-emanzipatorische Männerforschung wurde ihm bewusst, dass sich der Konformitätsdruck hegemonialer Männlichkeit – Walters Roman «Zeit des Fasans» (1988) spricht explizit von der «Diktatur des Patriarchats in uns» – auch gegen Männer richtet, sie deformiert, Gewalt gegen sich selbst und andere erzeugt: «Wir werden nicht als Frauen und Männer geboren; wir werden – durch die verschwiegenen Normen unserer Kultur – je dazu gemacht», hielt er im «Postskript» zum Radiogespräch mit seiner Schwester fest: «Welcher Anteil kommt, bei dieser Halbierung von uns – christlich-abendländischen – Menschen dem Christentum zu?»

«Ich glaube nicht, dass ich Atheist bin», unterstrich Otto F. Walter. Nicht nur «die grossartige Figur dieses Schreinersohns vom See Genezareth» blieb ihm wichtig, auch eine Art mystisch-pantheistisches Grunderlebnis: «Die Mystiker haben eine solche Erfahrung des Göttlichen wohl das ‹Fünkelin› genannt.»

Der Wal hatte ihn ausgespuckt

Für Christian Eschenbach, den 55-jährigen Helden von Uwe Timms (*1940) Roman «Vogelweide» (2013)2, geht der Bankrott als Software-Firmenchef mit dem Zerbrechen seiner engsten Beziehungen einher. «Sieben, acht Jahre lang war er ein reicher Mann gewesen. Allerdings arm an Zeit. Es gibt eine Zeitarmut. Die wiederum zur Verrohung führt. Eine Brutalisierung des eigenen Selbst. Er arbeitete. Verhandelte. Reiste … Keine Nacht vor drei ins Bett. Früh morgens raus. Zu Hause das Rudergerät. Der Sandsack in der Firma, an dem nicht nur er seine Wut, seinen Hass abarbeiten konnte, sondern auch die anderen, die Programme zur Optimierung erstellten und ihren Frust an den Sandsack prügelten.» Mit spürbarer Sympathie schildert Timm, einer der wichtigsten Autoren der 68er-Generation, wie Eschenbach nun als Vogelwart auf einer winzigen Insel in der Elbmündung eine wohltuend-befreiende Entschleunigung erlebt.

«Der Wal hatte ihn ausgespuckt. Das war alles.» Nicht länger ins Hamsterrad aufreibenden Erfolgs- und Karrierestrebens eingespannt, kostet Eschenbach «dieses Gefühl der Sinnentleerung» regelrecht aus: «Ich bin ein Ballonfahrer, der Ballast abwerfen musste, so gewinnt man wieder Höhe und sieht mehr von Land und Leuten.» In der Freude an Brandseeschwalben und Strandläufern findet er eine Art ‹Stillness of Heart›: «Er hatte nie Yoga gemacht, dachte, genauso müsse es sein, wenn man langsam in sich hineinsank und das Hin und Her der Gedanken und Bilder, das Wollen und Wünschen in einem Helldunkel unter den Lidern verschwand. Was ihn von all denen, die er in der Stadt zurückgelassen hatte, unterschied, war das Planlose. Er musste nicht planen, nicht über den Tag hinaus [...] Er war jetzt Sammler von ein paar Daten über Vogelflug und -arten, über Wetter und Gezeiten, Wasser und Watt […], es ist die Leichtigkeit, die Abwesenheit von allem hier, die Strassen, die Häuser, das Fernsehen, das Reden und das Gerede […] alles, was bindet, was über diesen Moment hinausgeht.»

Jenseits von Fleiss, Ehrgeiz und Arbeit

In Lukas Bärfuss’ (*1971) autobiografisch gefärbtem Roman «Koala» (2014)3 erhält ein Schriftsteller kurz vor Weihnachten die Nachricht, dass sich sein Bruder mit 45 Jahren in der Badewanne mit einer Überdosis Heroin getötet hat. Nach und nach verdichten sich seine Erinnerungen zum Bild eines Menschen, dem eine sonderbare Trägheit und Antriebslosigkeit eigen war: «Er lehnte die Arbeit ab, die Anstrengung, und verfolgte niemals ein Ziel. Er nahm, was ihm zufiel. Er besass keinen Fleiss, er arbeitete nicht, er hing herum und liess die Zeit verstreichen. Nicht dass er diesen Tod verdient hatte – aber er war die logische Folge seines Verhaltens.»

Über Freunde seines Bruders erfährt er dessen Pfadfindernamen, «der unter Eingeweihten als geheimer Ruf, als Totem zirkulierte, der Name eines Beutelsäugers, eines Tieres vom anderen Ende der Welt». In der Imagination malt er sich aus, wie der Bruder in seinem Spitznamen Koala das Ideal eines einfachen, stillen und friedlichen Lebens verkörpert fand. In der Schule hatte man ihm gesagt, Fleiss und Ehrgeiz seien unabdingbar, wenn er etwas erreichen wolle. «Sein Totem aber existierte, ohne nach etwas zu streben. Es bewegte sich nicht einmal, lag den ganzen Tag nur herum und tat keinem etwas zuleide. Unglücklich schien es deswegen nicht zu sein.»

Bärfuss’ Romanrecherche über die Koalas führt zur verstörenden Einsicht: «Faulheit war […] nicht hinzunehmen. Wer auf ihr bestand, musste vernichtet werden. Nur in geringer Zahl, in Zoos und Naturreservaten, zu plüschigen Kuscheltieren entstellt in harmlosen Kinderbüchern, ertrug man die Kreaturen der Faulheit. Das Prinzip ihrer Existenz, die Ehrgeizlosigkeit, sollte sich nicht frei entwickeln dürfen, so gross war die Gefahr und die Provokation», bilanziert der Büchner-Preisträger des Jahres 2019. «Die Arbeit war keine Strafe mehr [wie in der Bibel], sie war zur einzigen Tätigkeit geworden. Die Faulheit wurde ausgelöscht und vergessen, ihre Geschichten, ihre Segnungen, ihre Blüten, ihre Verse und Lieder.»

Ungleich Versehrte

Der jüngste Roman4 des Basler Schriftstellers Martin R. Dean (*1955) erzählt von zwei sehr gegensätzlichen Männern, die seit ihrer Jugend befreundet sind: Florian Füssli ist Anästhesist, Samuel Butt Künstler. Schon im Elternhaus der Butts war alles anders als bei den Füsslis. Nachdem sie sich einige Jahren aus den Augen verloren hatten, bringt ein schrecklicher Unfall sie als Arzt und Patient zusammen. Das titelgebende «Ein Stück Himmel» meint zunächst nur die eingeschränkte Sicht von Sam, der infolge einer Rückenverletzung querschnittsgelähmt im Spital durch die Deckenöffnung über seinem Krankenbett kaum etwas anderes sehen kann.

Florian besucht ihn regelmässig und allmählich gelingt es den von ihrem Temperament her grundverschiedenen Männern, eine neue, verwandelte Freundschaft aufzubauen. Lange merken sie nicht, dass sie beide Versehrte sind: Sams Lähmung trifft sich mit Florians Selbstanästhesie in der Arbeit, nach der Trennung von seiner Frau Yvonne lebt er «wie ein Amputierter mit dem Phantomschmerz, ein Migrant seiner Sehnsucht».

Wie bei Walter, Timm und Bärfuss die Vision einer neuen Leichtigkeit des Seins aufscheint, ermöglicht bei Dean der Aufbruch einer gemeinsamen Reise nach Portugal, dass Florian und Samuel in die schwarzen Löcher schauen, die ihre Lebensgeschichten geprägt haben: Liebe und Verrat, Verluste und Enttäuschungen. Gerade so deckt das fragende einander Umkreisen der beiden ihre Sehnsucht nach einem Stück Himmel auf.

Christoph Gellner

 

1 Walter, Otto F., Die Verwilderung, Reinbek bei Hamburg 1977.

2 Timm, Uwe, Vogelweide, Köln 2013.

3 Bärfuss, Lukas, Koala, Göttingen 2014.

4 Dean, Martin R., Ein Stück Himmel, Zürich 2022.

 


Christoph Gellner

Dr. theol. Christoph Gellner (Jg. 1959) ist Leiter des Theologisch-pastoralen Bildungsinstituts der deutschschweizerischen Bistümer TBI in Zürich und nimmt Lehraufträge an den Universitäten Freiburg i. Ü., Luzern und Zürich wahr.