Dem Gesamtleiter des Vereins Kloster Fischingen, Walter Hugentobler, platzte kürzlich ob der Debatte um Dreadlocks usw. angesichts der drängenden Probleme auf dieser Welt die Hutschnur. Der altgediente, der Ethik der christlichen Nächstenliebe verpflichtete Sozialdemokrat, machte kürzlich seinem Unmut in seiner Kolumne in einer Schweizer Regionalzeitung mit dem Titel «Aneignung – so ein Schmarren» wie folgt Luft: «Übrigens: Es herrscht immer noch Krieg in Europa. Vielleicht ist das ein wirkliches Problem, um das wir uns Gedanken machen müssen.» Und weiter: «Vielleicht hätte ja auch da kultureller Austausch das Schlimmste verhindern können – anstatt nationalistischer Ab- und Ausgrenzung.»1
Glaubensvorstellungen greifen auf das zurück, was sie vorfinden
Susanne Schröter, Ethnologin der Uni Frankfurt, weist in ihrem soeben erschienen neusten Buch darauf hin, dass der Begriff der «kulturellen Aneignung» aus wissenschaftlicher Sicht auf etwas «höchst Triviales» verweise: «Menschen erfinden die Gegenstände und Techniken, die sie nutzen, die Sitten und Bräuche, die sie praktizieren, oder die Glaubensvorstellungen, mit denen sie sich die Welt erklären, nicht permanent neu, sondern sie greifen auf das zurück, was sie vorfinden.»2 Diese Aneignung geschehe sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene. Kulturelle, damit auch religiöse Aneignungen ermöglichen die Entwicklung menschlicher Kultur, indem Erworbenes über die eigene Gruppe hinaus weitergegeben wird. Und effektiv: Was wäre die römisch-katholische Liturgie ohne kulturelle Inklusion? Oder anders gefragt: Was bliebe übrig, wenn man all die Komponenten, die uns das Judentum geschenkt hat, weglassen müsste? Wo stünden wir in der jüdisch-christlichen Verständigung, wenn wieder auf Abgrenzung und Exklusion gesetzt würde? Eines sei gewiss, so die Ethnologin Schröter: «Kultur ist fluide. Sie ist immer in Bewegung und kann – über einen längeren Zeitraum betrachtet – nur in seltenen Fällen einem geografischen Raum oder einem bestimmten Kollektiv zugeordnet werden.»3 So lassen sich verfilzte Haare in vielen Teilen der Erde nachweisen. Indische Gurus etwa tragen sie, in afrikanischen Ländern hingegen sind sie nur selten anzutreffen.
Schröter ortet in der freien kulturellen Aneignung aber auch ein Mittel gegen Ausgrenzung, Hass und letztlich Krieg: «Sie dient nämlich ganz massgeblich der friedfertigen Verständigung unterschiedlicher Gruppen bzw. ist bereits Ausdruck einer Haltung, die auf Kontakt und Akzeptanz zielt.»4 Erst so würden vorurteilsfreie Beziehungen möglich, erst so, wenn man neugierig auf einander zugehe, werde man immunisiert gegen feindselige Abgrenzungen. Wer sich um Ökumene bemüht und auch um interreligiöse Verständigung, kann davon ein Liedchen singen. Schröter weiter, und man erweitere das Adjektiv «kulturell» durchaus mit «religiös»: «Wer dagegen betont, dass jeder Hautfarbenträger oder Angehörige einer kulturellen Gruppe im alleinigen Besitz kultureller Attribute sein müsse, die mit anderen nicht geteilt werden könnten, der zementiert Differenzen und verspielt die Chance eines gemeinsamen Miteinanders.»5
«Man nennt eine solche Haltung völkisch, und man kennt sie aus der Geschichte.»
Alfred Bodenheimer, Professor für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums an der Universität Basel, der breiteren Öffentlichkeit durch seine herrlichen Krimis um Rabbi Klein bekannt – einer davon handelt kurz auch am Institut für jüdisch-christliche Forschung der Uni Luzern –, schrieb unlängst, der wahre Skandal bei der Debatte um die «kulturelle Aneignung» sei das «völkische Kulturverständnis», das dahinterstecke.6 Eine Warnung, die es in sich hat. Die bisher vorgebrachten Argumente seien alle zu defensiv, etwa, wenn zwar richtig bemerkt worden sei, «dass die Musikkultur der Moderne ohne kulturelle Aneignung gar nicht existieren würde.» In ihrer Defensivität enthüllten diese Argumente «ein Unverständnis für das wahre Skandalon des Vorwurfs, Angehörige bestimmter Kulturen, Hautfarben oder Ethnien hätten nicht das Recht, eine Vorliebe für bestimmte Kleider, Musikstile oder Frisuren zu pflegen, die ihnen ‹fremd› seien.» Und weiter: «Man nennt eine solche Haltung völkisch, und man kennt sie aus der Geschichte.» Ein Paukenschlag von Bodenheimer. Er erinnert daran, dass nach 1933 jüdische Künstlerinnen und Künstler «gecancelt» worden seien, man sprach ihnen die Befugnis ab, sich an die Interpretation von Werken «arischer» Komponisten oder Dichter zu wagen – wie es dann weiterging Richtung Massenmord, ist hinlänglich bekannt. Und was taten die Christinnen und Christen? Mehrheitlich schwiegen sie. Der Jahrhunderte alte christliche Antijudaismus tat seine Wirkung. Und heute? Damals habe man sich noch nicht «mit begrifflichen Verrenkungen wie ‹kulturelle Aneignung›» herumgeschlagen, sondern offen rassistisch argumentiert respektive gehetzt, so Bodenheimer weiter: «Die Kriterien künstlerischer Interpretation waren von der Hingabe und Virtuosität in die Rassetabellen einer wissenschaftlich fehlgeleiteten, menschenfeindlichen Medizin verschoben worden.»
Auch Harald Fischer-Tiné, Professor für Geschichte der modernen Welt an der ETH Zürich mit Forschungsschwerpunkt Kolonialismus und Imperialismus, sieht in der Debatte eine Annäherung an «rassistische Denkansätze»: «Nämlich, dass es so eine Form von Authentizität oder ‹kultureller Reinheit› gebe und man zu einer Deckungsgleichheit kommen müsse zwischen einer ethnisch definierten Gruppe und einer bestimmten kulturellen Ausdrucksform.»7 Etwas, was in der Willensnation Schweiz mit ihren vier hauptsächlichen Sprachgruppen schon gar nicht geht. Der Ansatz der kulturellen Aneignung negiere, «dass es gegenseitige Anleihen, Befruchtungen, Bereicherungen geben kann.»
Folgen von Kolonialismus und Imperialismus noch längst nicht aufgearbeitet
Es ist schon richtig: Die Folgen von Kolonialismus und Imperialismus sind noch längst nicht aufgearbeitet – auch kirchlicherseits nicht. Und: Die Verächtlichmachung anderer Kulturen, auch mit religiösem Hintergrund, war und ist ein reales Problem. Zum Glück aber erobern sich immer mehr Historikerinnen und Historiker der ehemaligen Kolonien ihre Geschichte zurück und werden dabei assistiert von rechtschaffenen westlichen Kollegen.
Seit 2007 ist das UNESCO-Übereinkommen «über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen» in Kraft. Eines seiner Ziele lautet: «Einen ausgewogenen Austausch an kulturellen Gütern und Dienstleistungen erreichen und die Mobilität von Kunst- und Kulturschaffenden steigern.» Wären wir nicht gut beraten, dem Anliegen der UNESCO-Erklärung Nachachtung zu verschaffen? Wieder Brücken zu schlagen anstatt sie abzureissen? Auch als Antidot gegen weitere kriegerische Verstrickungen? Wir Christinnen und Christen hätten dabei viel beizutragen.
Thomas Schaffner
Syllabus errorum und Index librorum prohibitorum sind wieder da
Britische Hochschulen versehen Klassiker der Literatur mit Warnhinweisen, sogenannten «trigger warnings», und «rahmen» so die Lektüre, so sie denn nicht gänzlich verboten wird, in einer Art und Weise, die man aus totalitären Staaten kennt: Was die katholische Kirche glücklich überwunden hat – den Index der verbotenen Bücher und den Syllabus errorum, eine Liste mit verbotenen Gedanken –, was Nationalsozialisten und Marxisten mit gewaltsam durchgesetztem Rassen-, respektive Klassenstandpunkt aufoktroyiert haben, feiert nicht nur im Vereinigten Königreich, sondern auch in den USA und zunehmend in Kontinental-Europa Urständ. Vor der Bibel wird gewarnt wegen «schockierender sexueller Gewalt» oder vor Shakespeare wegen «Klassendenken», um nur wenige Werke zu nennen. 2021 wurden in den USA 1597 Bücher aus den Bibliotheken entfernt. Schöne neue Welt?