Die Schöpfung ist gut!

15. Sonntag im Jahreskreis: Kol 1,15–20 (Dtn 30,10–14; Lk 10,25–37)

Der Kolosserbrief ist der früheste Brief der «Paulus-Literatur», der wahrscheinlich nicht von Paulus selber, sondern von einem seiner Schüler stammt. Dieser Schüler hat nicht in betrügerischer Absicht im Namen des Paulus geschrieben, sondern um zu zeigen, dass sein Inhalt den Absichten des Paulus ganz und gar entspricht. Wer auch immer dieser Schüler gewesen sein mag, er war wie Paulus selber mit jüdischen Traditionen vertraut.

Der Hymnus aus dem Kolosserbrief im jüdischen Kontext

Unser Text ist ein christologischer «Schlüsseltext » des Neuen Testamentes, es geht um grundsätzliche Überlegungen zur Stellung von Jesus Christus im Kosmos. Der Text ist in einer feierlichen hymnischen Sprache abgefasst, was seine Bedeutung noch hervorhebt.

Dieser wichtige Text weist einerseits Anklänge an die römisch-hellenistische Kultur auf, er kann aber auch als Teil der frühjüdischen Literatur gelesen werden. Beide – hebräische und griechische Kultur – sind für die Zeit von Jesus und Paulus sowieso nicht voneinander zu trennen: Das Judentum war in den beiden Jahrhunderten vor und nach der Zeitenwende überall und in all seinen Formen von der römisch-hellenistischen Umwelt geprägt. Ich möchte im Folgenden den Hymnus aus Kol 1,15–20 als Teil der frühjüdischen Überlegungen und Fragen über das Verhältnis von Gott – Mensch – Schöpfung lesen, ohne dabei zu vergessen, dass das Christentum zu Antworten gelangt ist, die jüdischerseits nicht akzeptiert werden konnten und können.

Die beiden zentralen Begriffe des Hymnus werden bereits im ersten Vers angesprochen: «Bild» (eikon) und «erstgeboren » (prototokos). «Bild» weist auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen hin, die in Gen 1,27 erwähnt wird: «Gott schuf den Menschen als sein Abbild, als Abbild Gottes schuf er ihn.» Der Begriff «erstgeboren» erscheint wörtlich in der hebräischen Bibel zwar nicht, aber ein ähnlicher Gedanke ist angesprochen, wenn es von der Weisheit heisst, dass sie als Anfang (reschit/arche) von Gott erschaffen worden sei (Prov 8,22): «Der Herr hat mich geschaffen im Anfang seiner Wege, vor seinen Werken in der Urzeit»: Diese Weisheit wird im deuterokanonischen «Buch der Weisheit» als «Widerschein », «Spiegel» und «Bild» von Gottes Kraft bezeichnet (Sap 7,26).

Die beiden Begriffe «Bild» und «erstgeboren » – mit den dazugehörenden Bibelstellen – spielen auch in rabbinischen Auslegungen eine Rolle. Der Verfasser von Kol dachte durchaus in frühjüdischen Kategorien, um dann freilich zu Aussagen zu kommen, die von Juden und Jüdinnen weder damals noch heute akzeptiert werden können.

Ein Beispiel für die jüdische Auslegungsgeschichte der erwähnten biblischen Passagen findet sich im Midrasch Bereschit Rabba, einer rabbinischen Interpretation zum Buch Genesis. Dort lesen wir folgendes Gleichnis: «Erfahrungsgemäss ist es so: Ein König von Fleisch und Blut baut einen Palast. Er baut ihn aber nicht nach eigener Einsicht, sondern nach der Einsicht des Architekten. Der Architekt aber baut ihn nicht nach eigener Einsicht, sondern er hat Pergamente und Tafeln, um zu wissen, wie er Zimmer und Türen machen soll. So der Heilige, gelobt sei er: Er blickte in die Tora und schuf die Welt. Und die Tora sagt: Mittels des Anfangs schuf Gott (Gen 1,1). ‹Anfang› aber bedeutet nichts anderes als Tora; es heisst nämlich: Der Ewige hat mich erschaffen als Anfang seines Weges (Prov 8,22).»1 Sehr anschaulich schildert das Gleichnis, dass Gott bei der Schöpfung nicht allein war, sondern die Tora zu Hilfe nahm. Die Tora ist dadurch sozusagen der «Schöpfungsplan », nach dem alles erschaffen wurde. Auch das Frühjudentum kennt die Vorstellung, dass die Schöpfung in Etappen erfolgte: So gehört gemäss einer verbreiteten jüdischen Auffassung die Tora zu den Dingen, die geschaffen wurde, bevor die Welt ins Dasein trat, die also – paulinisch ausgedrückt – «erstgeboren» war. Und genau diese Tora wird mit der Weisheit gleichgesetzt, die wiederum als «Bild» Gottes verstanden werden kann. Die Tora ist demnach nicht nur das Gesetz, das sich in konkreten Vorschriften äussert, sondern sie ist auch die kosmische Ordnung, die alles zusammenhält.

Die Tora ist es dann auch, die dem Menschen von Gott gegeben wurde, damit er gerettet wird: «Wenn du den Geboten deines Herrn, deines Gottes, gehorchst, die ich dir heute anbefehle, indem du deinen Gott liebst, auf seinen Wegen wandelst und so seine Gebote (…) beobachtest, so wirst du am Leben bleiben (Dtn 30,16).» Ähnliche Gedanken finden sich in unserer Passage aus dem Kolosserbrief: Nur ist für «Paulus» nicht die Tora das Bild Gottes, durch das und auf das hin alles erschaffen wurde, sondern Christus (Kol 1,15–17). Und nicht die Tora hat Gott den Menschen gegeben, damit sie durch sie leben, sondern Christus wird durch seine Auferstehung zum Erstgeborenen der Toten (Kol 1,18; Kol 2,12).

Sowohl Paulus als auch der Verfasser des Kolosserbriefes sind im Judentum verwurzelt. Ausgehend von diesen Wurzeln haben Paulus und seine Schüler und Schülerinnen eine Theologie entwickelt, die nicht mehr Teil des Judentums ist. Doch die Vergegenwärtigung dieses paulinischen «Denkhorizontes» ist wohl für Christinnen und Christen ein ständiger Hinweis und eine ständige Warnung, dass die paulinischen Schriften nicht auf Kosten des Judentums – weder damals noch heute – ausgelegt werden dürfen.

Vielleicht findet sich eine leise und wohl auch implizite Anerkennung der jüdischen Interpretation in der Liturgie des 15. Sonntags im Jahreskreis, nämlich in den Lesungen aus dem Lukasvangelium (Lk 10,25– 37) und aus dem Buch Deuteronomium (Dtn 30,10–14): In beiden Abschnitten geht es nämlich um die Einhaltung des Gesetzes: «Dein Gott verleiht dir Überfluss an Gutem (…), wenn du der Stimme des Herrn, deines Gottes, gehorsam bist, indem du seine in diesem Gesetzbuche aufgezeichneten Gebote und Bestimmungen befolgst» (Dtn 30,9–10).

Mit dem Verfasser des Kolosserbriefes im Gespräch

Trotz aller Unterschiede gibt es doch auch eine Gemeinsamkeit zwischen der jüdischen und der christlichen Auslegung: Für Juden und Christen ist die Welt gut angelegt, die Weisheit, die Tora, Christus sind ja der «Schöpfungsplan », durch den alles erschaffen wurde. Nicht nur am Anfang der Weltgeschichte, auch am Ende wird die ganze Schöpfung in das Heil einbezogen werden, wie der Verfasser des Kolosserbriefes sehr deutlich schreibt: «Ja durch ihn (Jesus Christus) (zu versöhnen) sowohl was auf Erden als auch was im Himmel ist» (Kol 1,20). Diese Auffassung steht ihrerseits in Kontinuität zur hebräischen Bibel, wo nicht nur die Menschen, sondern auch die Tiere und die Natur Anteil am paradiesischen Frieden haben (Jes 11,6–9).

Abwertungen der Schöpfung – wozu manche Stellen im paulinischen Schrifttum zu Unrecht verleiten – sind also fehl am Platz, die Schöpfung ist gut! Und – so möchte man aus heutiger Sicht hinzufügen – wir Menschen – egal, ob Juden, Christen, Hindus oder Atheisten – sind verantwortlich dafür, dass sie gut bleibt.

 

 

 

1 Zitiert nach Clemens Thoma/Simon Lauer: Die Gleichnisse der Rabbinen, zweiter Teil: Von der Erschaffung der Welt bis zum Tod Abrahams: Bereschit Rabba 1–63. Bern 1991, 34.

Simone Rosenkranz

Simone Rosenkranz

Dr. phil. Simone Rosenkranz ist nach dem Studium von Judaistik, Islamwissenschaft und Philosophie in Luzern, Basel und Jerusalem als Fachreferentin an der Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern sowie als Lehrbeauftragte an der Universität Luzern tätig