Die mühsame Umkehr zur Lernbereitschaft im Vatikanum II (I)

Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil bekehrte sich die römisch-katholische Kirche von einer Haltung der Selbstgenügsamkeit zu einer relationalen Offenheit für Bereicherung durch ein noch näher zu kennzeichnendes «Aussen». Wie zaghaft dies geschah, wird im Rückblick umso deutlicher erkennbar, als die nachkonziliare Kirche – auch lehramtlich – inzwischen weitere Schritte getan hat. Die Konzilsdokumente waren ja nicht als Abschluss gedacht und sind nicht als solcher zu lesen. Vielmehr wurde eine Dynamik initiiert, die sich in nachkonziliarer Zeit auswirken sollte. Manche nennen dies «Geist des Konzils».

1. Eine dynamische Vision von Kirche

Eine Einstellung der Selbstgenügsamkeit brachte sich vorkonziliar im Motiv der «societas perfecta» zum Ausdruck, das als Konzept zunächst auf die Freiheit und Unabhängigkeit der Kirche gegenüber dem Staat pocht, das als Mentalität jedoch umfassender beansprucht, dass die Kirche alles für das Heil und für ihre irdische Verwirklichung Notwendige in sich selbst birgt. «Ausserhalb der Kirche kein Heil» bedeutet so auch: Ausserhalb der Kirche gibt es nichts, was die Kirche zur besseren Realisierung ihrer eigenen Heilsqualität interessieren müsste.

Demgegenüber entscheidet sich das Zweite Vatikanische Konzil für eine neue Sicht auf sich selbst, die eine neue Sicht der «Anderen» ermöglicht. Die neue Sicht auf sich selbst erwächst aus der Einsicht, dass die Kirche selbst noch auf dem Weg und insofern im Wachsen und erneuerungsbedürftig ist.

Mit aller Deutlichkeit kritisieren von Beginn des Konzils an Bischöfe den Triumphalismus des vorgeschlagenen Schemas. In der ersten Konzilssession nennt Bischof Emiel-Jozef De Smedt diesen Triumphalismus beim Namen und moniert, das Schema schwelge allzusehr in dem pompösen und romantischen Stil, an den man vom «Osservatore Romano» und anderen römischen Dokumenten her gewohnt sei, der aber wenig mit der Realität zu tun habe.1 Patriarch Maximus IV. Saigh moniert, der Triumphalismus des Schemas habe keine Grundlage im Evangelium.2 Auch noch in der zweiten Session gibt es zur neuen Vorlage Bedarf, die pilgernde Kirche vom Reich Gottes zu unterscheiden.3

Den Konzilsvätern ist dabei bewusst, dass sie nicht nur eine theologische Präzisierung im Detail zum Verhältnis von Reich Gottes und Kirche einfordern, sondern die Kirche dadurch von Grund auf anders verstehen: als geschichtliche und noch zu vollbringende Grösse, als dynamische statt statische Realität. Bereits in der ersten Session beruft sich Bischof Alberto Devoto dafür auf die Gleichnisse Jesu vom Reich Gottes: Ihnen zufolge sei die Kirche nicht etwas Vollkommenes und Ideales, sondern ein Werk, das trotz der göttlichen Herkunft von den Menschen in der Geschichte zu vollbringen sei.4 Im neuen Entwurfstext 1963 begrüsst Erzbischof Felix Scalais die Rede von der Kirche als dem Volk Gottes, weil sie – durch die Verbindung mit dem Alten Testament und durch die Ausrichtung des Volkes Gottes auf alle Menschen – die historische und die eschatologische Dimension der Kirche ausdrücklich mache.5 Doch immer noch, so die Meinung von Bischof Gabriel Garrone, erscheint die Kirche nicht hinreichend in Hoffnung ausgespannt nach vorn: «Statisch bleibt die Vision der Kirche, welche eigentlich doch auch wesentlich dynamisch ist.»6

«Lumen gentium» (LG) wird die Kirche als Volk Gottes beschreiben, das «von menschlicher Schwachheit [!] angefochten [!]» (LG 8) «auf der Suche [!] nach der kommenden und bleibenden Stadt (vgl. Hebr 13,14) in der gegenwärtigen Weltzeit einherzieht » und «in die menschliche Geschichte» [!] eintritt, ein Volk, das auf einem «Weg durch Prüfungen und Trübsal» [!] nicht aufhören darf, «sich selbst zu erneuern» (LG 9). Dieses Kirchenbild ist in der Mitte des 20. Jahrhunderts in einem lehramtlichen Dokument keineswegs selbstverständlich. Mehr noch: Es wird damit ein Umbruch im Denken eingeleitet, den Ulrich Horst vom Sicherheitsdenken der vorausgegangenen Jahrhunderte abhebt und vor allem in der Metapher des Volkes Gottes angezeigt sieht: «Die Übernahme dieser biblischen Vorstellung gewährte dem geschichtlichen Denken Einlass in die Ekklesiologie, aus der sie einst die Angst, der Glaube müsse dadurch der Unsicherheit ausgeliefert werden, zu verbannen gesucht hatte.»7

Diese Selbsteinschätzung nötigt nun aber dazu, sich der Ressourcen zu vergewissern, aus denen sich die Kirche auf ihrem Weg durch die Geschichte speisen kann. Eine Kirche, die in Selbstgenügsamkeit verharren würde, hätte nicht das nötige Potenzial für Pilgerschaft, Reform und Erneuerung. Das Konzil entwickelt zugleich mit der geschichtlichen Sicht der Kirche neue Aufmerksamkeit für die Orientierungspunkte, auf die die Kirche angewiesen ist. Dies ist zuerst die Heilige Schrift («Dei Verbum»). Auch die Liturgiereform («Sacrosanctum Concilium») will die Kirche aus ihren Quellen erneuern. Die neue Aufmerksamkeit für die kirchliche Bedeutung der Laien wird von Konzilsvätern auch unter der Perspektive eingebracht, dass diese Laien Inspiratoren kirchli chen Lebens sind, gegen die eine selbstgenügsame Hierarchie sich zum Schaden der Kirche verschliessen würde.

Im Folgenden soll gezeigt werden, wie das Konzil sich auch für Orientierungspunkte ausserhalb der Kirche öffnet. Die anderen Konfessionen, Religionen und die Welt ausserhalb der Kirche werden – wenngleich zögernd – als Lernorte entdeckt.

2. Das Ausserhalb mit neuen Augen anschauen

2.1. Das Ausserhalb der anderen Konfessionen

Obwohl man erwarten könnte, dass das Konzil Lernbereitschaft und Aufgeschlossenheit bereitwilliger gegenüber anderen Christen als gegenüber anderen Religionen oder gar der Welt gegenüber äussern würde, ist dies an den konziliaren Texten nicht zu bestätigen. Andere Weichenstellungen waren vorrangig.

Zunächst musste eingestanden werden, dass in den anderen Kirchen8 das Evangelium Christi verkündet, das Reich Gottes angesagt wird und die Taufe sowie andere Sakramente gefeiert werden, und dass sie so für ihre Glieder heilsstiftende Institutionen sind. Die darauf gegründete Aussage von Erzbischof Maurice Baudoux, «dass Gott durch diese Gemeinschaften Menschen rettet und heiligt»,9 ist keineswegs selbstverständlich. Das Dekret über den Ökumenismus «Unitatis Redintegratio» [UR] wird anerkennen, dass «einige, ja sogar viele und bedeutende Elemente oder Güter, aus denen insgesamt die Kirche erbaut wird und ihr Leben gewinnt, *auch ausserhalb der sichtbaren Grenzen der katholischen Kirche existieren können» (UR 3, *das «auch» fehlt im lateinischen Text; vgl. LG 8). Genannt werden das «geschriebene Wort Gottes, das Leben der Gnade, Glaube, Hoffnung und Liebe und andere innere Gaben des Heiligen Geistes und sichtbare Elemente» sowie liturgische Handlungen, die «ohne Zweifel tatsächlich das Leben der Gnade zeugen können und als geeignete Mittel für den Zutritt zur Gemeinschaft des Heiles angesehen werden müssen» (UR 3). Dies aber wird im Blick auf die Glieder anderer Kirchen gesagt, nicht unter der Rücksicht einer Bedeutsamkeit für die römisch-katholische Kirche.

Ein zweiter Wendepunkt in der Einstellung des Konzils zur Ökumene ist das Eingeständnis der Erneuerungsbedürftigkeit der Kirche auch unter ökumenischen Gesichtspunkten. So fordert das Dekret von allen Kirchen, «ihre Treue gegenüber dem Willen Christi hinsichtlich der Kirche» zu prüfen und «tatkräftig ans Werk der notwendigen Erneuerung und Reform» zu gehen (UR 4)10 und schliesst sich selbst in diese Forderung ein. Im Rahmen der vielfältigen Aufgaben, welche die katholischen Gläubigen in ökumenischer Gesinnung übernehmen sollen, wird sogar als vorrangige Pflicht die Erneuerung der eigenen Kirche genannt (UR 4). Nicht einmal das Wort «reformatio» wird in diesem Kontext gescheut: «Die Kirche wird auf dem Wege ihrer Pilgerschaft von Christus zu dieser dauernden Reform gerufen, deren sie allzeit bedarf, soweit sie menschliche und irdische Einrichtung ist» (UR 6).

Konkret wird eingestanden, dass nicht zuletzt infolge der Spaltungen die Verwirklichung von Katholizität, Apostolizität und Einheit beeinträchtigt ist: Durch die Spaltungen wird es auch für die römischkatholische Kirche selbst schwieriger, «die Fülle der Katholizität unter jedem Aspekt in der Wirklichkeit des Lebens auszuprägen» (UR 4). Durch die Erneuerung, die nicht zuletzt den Verschiedenheiten und der Freiheit Raum geben muss, werden die Katholiken die «wahre Katholizität und Apostolizität der Kirche immer vollständiger zum Ausdruck bringen» (UR 4). Ebenso gibt UR 4 zu, dass die «Fülle der Einheit» etwas ist, das als Ziel ökumenischen Strebens noch vor allen Kirchen liegt, wenngleich diese Einheit «unverlierbar in der katholischen Kirche besteht».

Die Texte sind eindrücklich, doch ist ihnen anzumerken, wie sehr um das Eingeständnis der Reformbedürftigkeit gerungen werden muss. Zumal auf der Ebene der «notae ecclesiae» wird Defizienz nur eingestanden, indem sie zugleich relativiert wird. Es ist angesichts der Spaltungen schwieriger (aber möglich?), die Fülle der Katholizität auszuprägen; die Fülle der Einheit ist Ziel der ökumenischen Bestrebungen und besteht doch unverlierbar in der katholischen Kirche.

Von anderen Kirchen lernen?

Vor diesem Hintergrund tut sich das Konzil schwer, eine Lernbereitschaft den anderen Kirchen gegenüber zu zeigen. Denn zwar wird den anderen Kirchen in Bezug auf ihre eigenen Glieder eine Heilsfunktion zuerkannt, doch wird diese ausdrücklich von der katholischen Kirche abgeleitet. «Denn der Geist Christi hat sich gewürdigt, sie als Mittel des Heiles zu gebrauchen, deren Wirksamkeit sich von der der katholischen Kirche anvertrauten Fülle der Gnade und Wahrheit herleitet. (…) Denn nur durch die katholische Kirche Christi, die das allgemeine Hilfsmittel des Heiles ist, kann man Zutritt zu der ganzen Fülle der Heilsmittel haben» (UR 3; vgl. auch das Missionsdekret «Ad Gentes» [AG] 6).

Die katholische Kirche, und nur sie, verfügt über die «Fülle der Heilsmittel». Darüber hinaus ist in der letzten Fassung des Textes auch «die Fülle der Gnade und Wahrheit» der «katholischen Kirche» zugeordnet. Das Attribut «katholisch» wurde in diese Formulierung auf Wunsch des Papstes am 19. November 1964 eingefügt und stellt eine deutliche Verschärfung und Fokussierung der Heilsaussagen auf die römisch-katholische Kirche dar.11

Bei aller immerhin deutlich eingestandenen Erneuerungsbedürftigkeit verfügt demnach die katholische Kirche über die Fülle. Wenn gefragt wird, woher die Quellen ihrer Erneuerung liegen, so klingt vieles doch nach Selbstgenügsamkeit, als könnten die Ressourcen für Reform exklusiv in den eigenen Reihen gefunden werden. In diesem Sinne kritisiert Metropolit Emilianos von Kalabrien nachkonziliar mit einigem Recht den «Geist der Ausschliesslichkeit », den auch das Zweite Vatikanum noch erfüllt.12

Will die konziliare Kirche von anderen Christen und Kirchen bereichert werden? Im konziliaren Prozess stehen die nichtkatholischen Beobachter einerseits und das Sekretariat zur Förderung der Einheit der Christen andererseits für eine institutionelle Lernbereitschaft ein. Die nichtkatholischen Beobachter werden mehr Einfluss gehabt haben als manche Bischöfe, die sich in der Konzilsaula nicht zu Wort gemeldet haben. Wenngleich diese Beobachter viele Prozesse im Konzil positiv einschätzen, so monieren sie doch anlässlich eines Treffens mit dem Sekretariat für die Einheit der Christen im Herbst 1963 ein mangelndes Bewusstsein dafür, dass es den ökumenischen Dialog braucht, um die Fülle der Katholizität erst noch zu erreichen.13 Tatsächlich bleibt das Dekret über den Ökumenismus, dessen Verdienst als wegweisender Schritt hier nicht geschmälert werden soll, in dem Punkt der Lernbereitschaft der römisch-katholischen Kirche gegenüber anderen Kirchen äusserst zurückhaltend.

Ausnahme sind Ausführungen in UR 4, die bei den anderen Kirchen «die wahrhaft christlichen Güter aus dem gemeinsamen Erbe» anerkennen, und zwar als «Reichtümer Christi» und «Wirken der Geisteskräfte ». Ausdrücklich wird angefügt: «Man darf auch nicht übergehen, dass alles, was von der Gnade des Heiligen Geistes in den Herzen der getrennten Brüder gewirkt wird, auch zu unserer eigenen Auferbauung beitragen kann. Denn was wahrhaft christlich ist, steht niemals im Gegensatz zu den echten Gütern des Glaubens, sondern kann immer dazu helfen, dass das Geheimnis Christi und der Kirche vollkommener erfasst werde» (UR 4). Gewürdigt wird hier nicht nur das Wirken Gottes bei den Nicht- Katholiken, sondern auch der daraus resultierende Beitrag zur eigenen Auferbauung. Es kann hier aber nicht übersehen werden, dass diese positiven Güter nicht den Kirchen, sondern den «Brüdern» bzw. den Herzen der getrennten Brüder zugeordnet werden.

Ein Zuwachs an eigener Einsicht wird in UR 11 vom ökumenischen Dialog erwartet: Er gilt als Weg, «auf dem alle in diesem brüderlichen Wettbewerb zur tieferen Erkenntnis und deutlicheren Darstellung der unerforschlichen Reichtümer Christi angeregt werden» (UR 11). Anerkannt werden die Reichtümer geistlicher Traditionen des Ostens, mit denen die Katholiken sich vertraut machen sollen (UR 15). Konkret kommt ein potenzieller Beitrag anderer Kirchen an die Reform der römisch-katholische Kirche vor allem vermittelt durch die mit Rom unierten Ostkirchen mit Blick auf die Patriarchate zur Sprache. Allerdings sind die entsprechenden Voten zwar in LG 23 berücksichtigt worden, ohne jedoch tiefgreifend zur Erneuerung der römisch-katholischen Kirche beigetragen zu haben.

So bleibt die Bilanz der ökumenischen Lernwilligkeit der römisch-katholischen Kirche auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil mager.

Nachkonziliar: Ökumene als Austausch von Gaben und Geschenken

Recht verstanden ist das Konzil indes kein Abschluss, sondern ein Anfang, gerade hinsichtlich der Ökumene. Der entsprechende «Geist» des Konzils wird in der Ökumene-Enzyklika Johannes Pauls II. «Ut unum sint» [UUS] aufgenommen und weitergeführt. Zwar wird in UUS 13 f. noch zugespitzt, dass die Fülle der Heilsmittel in der römisch-katholischen Kirche zu suchen ist, dies wird aber – sehr spannungsreich – ergänzt durch die Anerkennung, dass andere Kirchen ihr in manchen Hinsichten etwas voraushaben können: «Viele und bedeutende Elemente, die in der katholischen Kirche zur Fülle der Heilsmittel und der Gnadengaben gehören, die die Kirche ausmachen, finden sich auch in den anderen christlichen Gemeinschaften. (…) Die Elemente dieser bereits gegebenen Kirche existieren in ihrer ganzen Fülle in der katholischen Kirche und noch nicht in dieser Fülle in den anderen Gemeinschaften [Verweis auf UR 4], wo gewisse Aspekte des christlichen Geheimnisses bisweilen sogar wirkungsvoller zutage treten» (UUS 13 f.). Besser als die Darstellung der römischkatholischen Kirche «in possessione» entspricht der letzte Satzteil14 der Vision Papst Johannes Pauls II. vom ökumenischen Prozess als «Austausch [commercium] von Gaben und Geschenken» (UUS 28). Zu beachten ist, dass es sich bei commercium um ein theologisch äusserst gefülltes Wort handelt. Entschieden setzt der Papst diesen Austausch voraus, wenn er die Kirchen in einem Wachstumsprozess beschreibt und dabei anerkennt: «Ich habe gesagt, dass wir uns als katholische Kirche bewusst sind, vom Zeugnis, von der Suche und sogar von der Art und Weise gewonnen zu haben, wie bestimmte gemeinsame christliche Güter von den anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften hervorgehoben und gelebt worden sind. Unter den Fortschritten, die während der letzten dreissig Jahre erzielt worden sind, muss diesem gegenseitigen brüderlichen Einfluss ein herausragender Platz eingeräumt werden» (UUS 87).15 Ökumene ist hier ein Prozess der Umkehr und Erneuerung. Insbesondere bedarf es der Demut gegenüber der Wahrheit, die erst noch zu entdecken ist «und die Revisionen von Aussagen und Haltungen erforderlich machen könnte» (UR 36).

2.2. Das Ausserhalb der anderen Religionen

In ähnlicher Weise lässt sich auch im Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen eine nachkonziliare Fortentwicklung konziliarer Ansätze lernbereiter Dialogwilligkeit feststellen. Schon innerhalb des Konzils gibt es eine Entwicklung von den Aussagen in LG 16 zur Erklärung «Nostra Aetate» [NA] und zur Pastoralkonstitution «Gaudium et spes» [GS]. Während in den Aussagen über die Zuordnung verschiedener Menschen zum Volk Gottes – von den Katholiken über andere Christen, Andersglaubende bis hin zu allen Menschen guten Willens – in LG 16 der Akzent auf der Aktivität des Menschen liegt,16 thematisiert «Nostra Aetate» darüber hinaus nicht nur den Heilswillen Gottes, sondern anerkennt auch, dass die Religionen selbst Wege des Heils weisen und «nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet» (NA 2). Die katholische Kirche lehnt nichts ab, was in den Religionen «wahr und heilig ist» (NA 2). Dabei werden zwar Anerkennung und Hochachtung (vgl. NA 3) zur Sprache gebracht, doch ein echtes Lernen und Bereichertwerden durch andere Religionen wird hier nicht thematisiert.

Darüber hinausgehend wird in GS 92 der Dialog mit den Vertretern anderer Religionen als Weg hin zu einer grösseren Bereitschaft für die Anregungen des Geistes empfohlen: «Wir wenden uns dann auch allen zu, die Gott anerkennen und in ihren Traditionen wertvolle Elemente der Religion und Humanität bewahren, und wünschen, dass ein offener Dialog uns alle dazu bringt, die Anregungen des Geistes treulich aufzunehmen und mit Eifer zu erfüllen.»

Diesen Ansatz der Lernbereitschaft nehmen nachkonziliare Dokumente auf. 1991 veröffentlicht der Rat für den Interreligiösen Dialog zusammen mit der Kongregation für die Evangelisierung der Völker die Programmschrift «Dialog und Verkündigung» (1991). Sie spricht von «Elementen der Gnade» in den religiösen Traditionen der Menschen und stellt fest, dass «das Konzil ganz offensichtlich nicht nur im religiösen Leben einzelner Gläubiger dieser Religionen positive Werte anerkennt, sondern auch in den religiösen Traditionen selbst, denen sie angehören » (Nr. 17). Dabei wird – wenngleich im Blick auf den einzelnen Christen und nicht auf die Kirche formuliert – anerkannt, dass Christen von anderen religiösen Traditionen profitieren können: «Zudem gibt die in Jesus Christus geschenkte Fülle der Wahrheit nicht jedem einzelnen Christen die Garantie, dass er in deren Vollbesitz sei. Letztendlich wissen wir, dass die Wahrheit nicht einer Sache gleicht, die wir besitzen, sondern eine Person ist, der wir zugestehen müssen, von uns Besitz zu ergreifen. Dies ist ein nicht endender Prozess. Ohne ihre Identität zu verlieren, müssen Christen dazu bereit sein, von und durch andere Menschen die positiven Werte ihrer Traditionen kennenzulernen und zu empfangen. Der Dialog kann sie dazu bewegen, verwurzelte Vorurteile aufzugeben, vorgefasste Meinungen zu revidieren und manchmal sogar einer Reinigung ihres Glaubensverständnisses zuzustimmen» (Nr. 49).

Im Apostolischen Schreiben «Novo millennio ineunte» zum Abschluss des grossen Jubiläums des Jahres 2000 erinnert Papst Johannes Paul II. daran, dass das Konzil eine «Haltung der Öffnung und zugleich sorgfältiger Unterscheidung» gegenüber den anderen Religionen eingeführt habe, und mahnt: «Wir müssen seiner Lehre und Spur mit grosser Treue folgen» (Nr. 55 f.).

 

 

 

 

 

1 Vgl. Bischof Emiel-Jozef De Smedt (Brügge), 1.12.1962: Acta Synodalia Sacrosancti Concilii Oecumenici Vaticani II. Typis polyglottis Vaticanis 1970 –1980 [= AS], hier 1/4, 142.

2 Vgl. Patriarch Maximus IV. Saigh (melkitischer Patriarch von Antiochien), 5.12.1962: AS 1/4, 295.

3 So will Bischof Herculanus van der Burgt (Pontianak/ Indonesien) deutlich ausgedrückt sehen, dass die Kirche in dieser Welt erst noch auf die Fülle und Vollkommenheit des Reiches Gottes hinstrebt: 3.10.1963: AS 2 /2, 59. Die Kirche ist, so Bischof Hermann Volk (Mainz), nicht schlechthin mit dem Reich Gottes zu identifizieren, das in ihr nur anfanghaft enthalten sei: 3.10.1963: AS 2 /2, 46.

4 Vgl. Bischof Alberto Devoto (Goya/Argentinien), 4.12.1962: AS 1/4, 250.

5 Vgl. Erzbischof Félix Scalais (Léopoldville/Kinshasa), 3.10.1963: AS 2 /2, 53 f.

6 Bischof Gabriel Garrone (Toulouse), 1.10.1963: AS 2/1, 374.

7 Ulrich Horst: Die Kirchenkonstitution des II. Vaticanums. Versuch einer historischen Einordnung, in: Münchener Theologische Zeitschrift 35 (1985), 36 –51, hier 41.

8 Ich verwende den Begriff im Sinne der Einladung Papst Johannes’ X XIII. an «die Brüder der getrennten christlichen Kirchen, mit uns an diesem Festmahl der Gnade und Brüderlichkeit teilzunehmen, auf das so viele Seelen in jedem Winkel der Welt hoffen». Zit. nach Peter Hebblethwaite: Johannes X XIII. Das Leben des Angelo Roncalli. Zürich 1986, 409, gemäss dem Wortlaut der vorgetragenen Fassung. Erst die veröffentlichte Fassung tauschte das Wort «Kirchen» gegen «Gemeinschaften» aus.

9 Vgl. Erzbischof Maurice Baudoux (Saint-Boniface/Kanada), 3.10.1963: AS 2 /2, 71.

10 Siehe dazu: Peter de Mey: Church Renewal and Reform in the Documents of Vatican II. History, Theology, Terminology, in: The Jurist 71 (2011), 369– 400.

11 Vgl. Lexikon für Theologie und Kirche, Ergänzungsband [= LT hK.E] 2 , 124 f. Diese Veränderungen werden in der Synopse von Gil Hellín: Concilii Vaticani II Synopsis. Decretum de Oecumenismo Unitatis Redintegratio. Città del Vaticano 2005, 45, nicht kenntlich gemacht.

12 «Obwohl wir uns in einem neuen Klima befinden und das Zweite Vatikanische Konzil die ergänzenden Werte anerkennt, die die anderen Christen offenbaren, so kann man doch einen Geist von Ausschliesslichkeit finden, als ob Rom und niemand anders die Mittel zum Heil in seiner ganzen Fülle hätte»: Metropolit Emilianos von Kalabrien: Gedanken zum Konzil, in: Kyrios 6 (1966), 65–76, hier 67.

13 Vgl. Claude Soetens: Das ökumenische Engagement der katholischen Kirche, in: Giuseppe Alberigo (Hrsg.) / Klaus Wittstadt (Hrsg. der dt. Ausgabe): Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils (1959–1965), Bd. 3: Das mündige Konzil. Zweite Sitzungsperiode und Intersessio (September 1963 – September 1964). Mainz- Leuven 2002, 299– 400, hier 303.

14 Er wird in der Erklärung «Dominus Iesus. Über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche» vom 6. August 2000 in Nr. 17 im Zitat von UU S Nr. 14 weggelassen.

15 Vgl. auch UU S 38: «Ein Vorteil des Ökumenismus besteht darin, dass durch ihn den christlichen Gemeinschaften geholfen wird, den unerforschlichen Reichtum der Wahrheit zu entdecken. Auch in diesem Zusammenhang kann alles, was der Geist in den ‹anderen› wirkt, zum Aufbau jeder Gemeinschaft beitragen und gewissermassen zur Belehrung über das Geheimnis Christi. Der echte Ökumenismus ist ein Gnadengeschenk der Wahrheit.»

16 Vgl. Joseph Ratzinger: Kommentar erstes Kapitel des ersten Teils [GS], in: LThK.E 3, 313–354, 352 f.; Thomas Gertler: Jesus Christus – Die Antwort der Kirche auf die Frage nach dem Menschsein. Leipzig 1986, 132,134. Beide Autoren stellen dies im Vergleich von LG 16 mit GS 22 fest.

Eva-Maria Faber

Eva-Maria Faber

Prof. Dr. Eva-Maria Faber ist Ordentliche Professorin für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Theologischen Hochschule Chur