Die Liturgie prägt die Feiernden!? (I)

Macht uns die Feier des Gottesdienstes zu besseren Menschen, verhilft gar zu einer besseren Welt? Oder dient sie nur der Gottesverehrung und der geistlichen Erbauung der Feiernden? Barbara Feichtinger beschreibt das Verhältnis von Liturgie und sozialem Handeln.1

Die Liturgiekonstitution des II. Vatikanischen Konzils bezeichnet die Liturgie als Quelle und Höhepunkt des gesamten und nicht nur des geistlichen Lebens der Gläubigen.2 Die Liturgie «treibt (…) die Gläubigen an, dass sie, mit den ‹österlichen Geheimnissen› gesättigt ‹in Liebe eines Herzens sind›; sie betet, dass sie ‹im Leben festhalten, was sie im Glauben empfangen haben›; wenn der Bund Gottes mit den Menschen in der Feier der Eucharistie neu bekräftigt wird, werden die Gläubigen von der drängenden Liebe Christi angezogen und entzündet».3

Die Feier des Gottesdienstes verpflichtet nicht nur zu einem Leben und einer Weltgestaltung gemäss dem Willen Gottes (dies ein häufig ausgeführter Gedanke), sondern – so meine These – sie prägt die Feiernden so, dass diese von innen heraus den Willen Gottes tun. Von dieser prägenden Wirkung spricht die Konstitution auch in Art. 33. Jedoch ist dieser Aspekt in der deutschen Übersetzung verdeckt: «Obwohl die heilige Liturgie vor allem Anbetung der göttlichen Majestät ist, birgt sie doch auch viel Belehrung für das gläubige Volk in sich.» An Stelle des Deutschen Belehrung steht im lateinischen Text der Begriff eruditio. Dieser meint die «gesamte geistige, gemüthafte und sittliche Formung»4. Es geht also auch hier um die prägende Kraft der Liturgie.

Ist eine die Feiernden, die Kirche und letztlich die Welt verändernde Wirkung der Liturgie eine reine Behauptung? Wie können wir uns diese vorstellen? Trauen Sie den von Ihnen erlebten Gottesdiensten zu, dass sie die Feiernden in ihrer Haltung und ihrem Handeln prägen? Wann gelingt es, wann nicht?

In diesem Beitrag stelle ich dar, wie aus theologischer und kultanthropologischer Sicht die Prägung der Feiernden durch die Liturgie verstanden werden kann. Ein späterer Beitrag lenkt die Sicht auf konkrete Gestaltungsfragen.

Liturgie als «Proberaum»

«Der Charakter des einzelnen Christen wird geformt durch das Zusammensein mit der Gemeinschaft, die die Sprache, die Rituale und die moralischen Handlungsweisen verkörpert, aus denen diese besondere Lebensform erwächst»5, formuliert es der methodistische Ethiker Stanley Hauerwas und sieht die so definierte Gemeinschaft vor allem im Gottesdienst. Das Kennenlernen Gottes im Gottesdienst verändert uns moralisch und rational. Im Gottesdienst erkennen wir, dass die Welt nur Welt ist und wir nicht von den Herrschern dieser Welt abhängig sind.6

Der Amerikaner Don E. Saliers entfaltet Hauerwas’ Ansatz aus liturgiewissenschaftlicher Perspektive. Er verwendet für den Gottesdienst das Bild von einer Probe – im Sinne einer Einstudierung oder Theaterprobe –, in der es darum geht, die persönlichen Einstellungen in Einklang mit dem Willen Gottes für die Welt zu bringen. Die verschiedenen liturgischen Handlungen sind Teil der Einstudierung von Einstellungen, die einem Leben in Christus entsprechen.7 Aufgrund der bildenden Kraft der Liturgie kommt Saliers zur markanten Aussage: «Worship characterizes human beings – men and women who are rehearsing a story of their world.»8

Das Bild von der Probe ist auch zentral für den englischen Theologen Mark Searle, wenn er vom Zusammenhang von Liturgie und sozialer Gerechtigkeit spricht. Er sieht die Liturgie als Proberaum, in dem gerechtes Handeln eingeübt wird: «Die liturgische Versammlung ist (…) der Ort, wo Gerechtigkeit proklamiert wird, allerdings nicht wie in einer Schulklasse, einer politischen Versammlung oder einer Anhörung. Sie ähnelt eher einem Proberaum, wo Handlungen immer und immer wiederholt werden, bis sie sorgfältig angeeignet und zur Perfektion gebracht sind (…), bis sich die Handelnden völlig mit der ihnen zugeschriebenen Rolle identifiziert haben.»9 Liturgisches Feiern ist ein Einüben des Stückes vom Reich Gottes, eines Stückes, das in den Mählern Jesu mit Ausgestossenen und Sündern erstmals aufgeführt worden ist. Im «Einüben» eignen sich die Feiernden ihre Rolle an, so dass sie sie auch im ausserliturgischen Leben verwirklichen.10

In seiner Habilitationsschrift vertieft der evangelische Systematiker Bernd Wannenwetsch Hauerwas’ Thesen. Er vergleicht das christliche Verhalten mit einer Sprache: Diese kann nach Ludwig Wittgenstein nur in ihrem Mutterland richtig gelernt werden, «dort, wo Begriffe und Sätze zusammen mit der sie tragenden Lebensform erfasst werden»11. So wird auch die christliche «Verhaltensgrammatik» innerhalb der kirchlichen Sprach- und Handlungsgemeinschaft gelernt, zuallererst im Gottesdienst. Wannenwetsch bezeichnet darum den «Gottesdienst als ‹Beginn› christlicher Ethik»12, denn im Gottesdienst wird die Urteilskraft geformt und erneuert, weil der Mensch dort das Gute, Wohlgefällige, Vollkommene erfährt, «wie es im Gottesdienst präsent und verheissen ist».13

Liturgie als anamnetische Vergegenwärtigung

Gottesdienst kann auch deswegen zu einem Leben gemäss dem Reich Gottes prägen, weil in ihm das frühere Heilshandeln Gottes sowie seine verheissene Zukunft liturgische Gegenwart werden.

Angelus Häussling zeigt auf, wie dies verstanden werden kann: Das liturgische Gedenken «ist kein blosses ‹denken an› (…) (und) kein Vorgang im Kopf, hinter der Stirn»14. Es ist die spirituell-existenzielle und ganzheitliche Bewegung des Menschen auf Gott hin.15 Die Frage, wie die Heilstaten Gottes in der Geschichte jetzt noch Kraft haben können, beantwortet er mit dem Verweis auf Textzitate, die die Feiernden übernehmen, wenn sie etwa einen Psalm rezitieren oder das Vaterunser beten. Dadurch begeben sich die Liturgie Feiernden in die Rolle des Volkes Israel oder der historischen Zeitgenossen Jesu. Indem sie deren Zeugnis zu ihrem eigenen machen, finden sie sich selbst in der Zeitgenossenschaft dieser Heilszeit.16

Verdeutlicht am Magnifikat bedeutet dies: Durch das Singen des Magnifikat treten wir in die Zeitgenossenschaft mit Maria und der urchristlichen Gemeinde ein (deren Lied Maria im Lukasevangelium in den Mund gelegt worden ist). Wenn wir uns mit der urchristlichen Gemeinde bewusst sind, dass Gott die Mächtigen vom Thron stürzt und die Niedrigen erhöht, dann können wir nicht mehr mit den Mächtigen paktieren auf Kosten der Schwächeren, dann dürfen wir, wenn wir zu den Erniedrigten gehören, Hoffnung schöpfen, dass Gott die ungerechten Verhältnisse nicht hinnehmen wird, und wir können Mut gewinnen, um selber an der Befreiung von Unterdrückten mitzuarbeiten.

Häussling nennt Textzitate als Mittel zur Rollenidentifikation. Genauso lassen sich auch «Handlungszitate» einbeziehen: Die heutige Gemeinde identifiziert sich mit den Jüngerinnen und Jüngern mittels Handlungen, in denen sie tut, wie diese taten. Indem die Gemeinde das eucharistische Mahl hält, identifiziert sie sich mit den mit Jesus Mahl haltenden Jüngern. Sie identifiziert sich mit ihnen, indem sie im Gottesdienst auf das Wort Gottes hört wie die Jüngerinnen und Jünger, die auf das Wort Gottes aus dem Munde Jesu gehört haben. Menschen identifizieren sich mit Jesus Christus, indem sie in der Taufe symbolisch wie er durch Tod und Auferweckung gehen. Diese Identifikation durch Handlungen hat die gleiche, wenn nicht – da die Feiernden ganzheitlich einbeziehend – noch intensivere den Menschen bzw. die Gemeinde verändernde Wirkung.

Gefährliche Erinnerung

Johann Baptist Metz hat darauf hingewiesen, dass in der Kirche eine subversive memoria wachgehalten wird.17 Überraschenderweise machte er diese gefährliche Erinnerung an den «kirchlichen Lehr- und Bekenntnisformeln»18 fest und nimmt nicht die Liturgie als Vollzugsform dieser memoria in den Blick. Denn gerade dort gedenken Christen der Liebe Jesu, der sich an die Seite der Ausgestossenen und Unterdrückten stellte und in dem die Herrschaft Gottes erschienen ist. Eine Feier dieses Gottes stellt bestehende Strukturen in Frage und ermächtigt die Gemeinde aufzustehen gegen Unterdrückung und Ausbeutung.19

Liturgie als Unterbrechung

Liturgie bedeutet in verschiedener Hinsicht eine Unterbrechung des Alltäglichen: Sie unterbricht die Zwänge des Alltags, in denen der Mensch funktionieren muss. Sie ist auch Unterbrechung der alltäglichen Sicht der Dinge. Dadurch entsteht ein offener «Raum», in dem etwas Anderes – die «Alternative Gottes» – Platz greifen und die Feiernden als Einzelne wie als Gemeinschaft beeinflussen und prägen kann.

Mit Richard Schaeffler lässt sich der Gottesdienst als offen gehaltener Raum verstehen. In ihm kann göttliche Wirklichkeit je neu bei den Menschen ankommen und so die einzelnen Feiernden wie auch die Welt erneuern. Schaeffler nennt Kriterien, die beachtet werden müssen, damit sich diese erneuernde Wirkung tatsächlich entfalten kann: Die Liturgie muss transparent sein für die Wirklichkeit Gottes, und sie darf nicht in die Irre weisen.

Ein biblisches Beispiel für eine irreführende Gestalt der Abbildhandlung findet sich beim Herrenmahl in Korinth (1 Kor 11,17–34): Wenn jeder sogleich seine eigenen Speisen verzehrt, und dann der eine hungert, während der andere schon betrunken ist, wird nicht mehr erfahrbar, was im Herrenmahl gegenwärtig werden soll, nämlich die solidarische Einheit unter den Glaubenden. Nicht nur die Einheit wird nicht erfahrbar, sondern es wird gerade das Gegenteil ausgedrückt: eine Spaltung der Gemeinschaft in Reiche, die sich ein üppiges Mahl leisten können, und Arme, die hungern.20 «Eine Kultfeier solcher Art wird zum Lügenzeichen.»21

 

 

 

1 Beitrag aufgrund eines Vortrags der Autorin vor dem Arbeitskreis Schweizer Liturgiker im Juni 2017 in Zürich. Vgl. Barbara Feichtingers Dissertation: Liturgie und soziales Handeln. Afrikanische Praxis als Inspiration, Stuttgart 2008.

2 Vgl. Liturgiekonstitution Art. 10.

3 Ebd.

4 Emil J. Lengeling: Die Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die heilige Liturgie (1964) 68.

5 Stanley Hauerwas: Character and the Christian life. San Antonio 1975, 210. Übers. B.F.

6 Vgl. Stanley Hauerwas: The liturgical shape of the Christian life: Ders.: In good company. The church as a polis, Notre Dame 1995, 153–168, 156.

7 Vgl. Don E. Saliers: Worship as theology. Foretaste of glory divine, Nashville 1994, 175 f.

8 Don E. Saliers: A servant church today: Worship 46.1972, 473–481, 477: «Gottesdienst charakterisiert Menschen – Männer und Frauen, die eine Geschichte ihrer Welt einstudieren.» Übers. B.F.

9 Mark Searle: Serving the Lord with justice: Ders. (Hg.), Liturgy and social justice, Collegeville 1980, 13–35, 32. Übers. B.F.

10 Ebd. 32.

11 Bernd Wannenwetsch: Gottesdienst als Lebensform. Ethik für Christenbürger, Stuttgart 1997, 43.

12 Ebd. 25.

13 Ebd. 42.

14 Angelus A. Häussling: Liturgie: Gedächtnis des Vergangenen und doch Befreiung in der Gegenwart, Ders. (Hg.): Vom Sinn der Liturgie, Düsseldorf 1991, 118–130, 122.

15 Vgl. Diana Güntner: Das Gedenken des Erhöhten im Neuen Testament, München 1998, 43.

16 Vgl. Häussling, aaO. 119 f, 122.

17 Vgl. Johann B. Metz: Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie, Mainz 51992, 93–102.

18 aaO. 95.

19 Vgl. Norbert Greinacher: Im Angesicht meiner Feinde – Mahl des Friedens, Gütersloh 1982, 35 f.

20 Vgl. Richard Schaeffler: Kultisches Handeln. Die Frage nach Proben seiner Bewährung und nach Kriterien seiner Legitimation, in: Ders. / P. Hünermann: Ankunft Gottes und Handeln des Menschen, Freiburg 1977, 9–50, 33 f.

21 aaO. 34.

Barbara Feichtinger

Barbara Feichtinger ist Pastoralassistentin in der Seelsorgeeinheit St. Gallen-Ost.