Die letzte Ketzerhinrichtung in Luzern

Antiklerikales Flugblatt, das noch 1820 auf der Luzerner Landschaft herumgeboten wurde. (Bild: ZHB Luzern Sondersammlung; Eigentum Korporation)

 

Was ein erster Gedanke dem Mittelalter zurechnen würde, hat in der Stadt Luzern noch mitten im Aufklärungszeitalter stattgefunden: Am 27. Mai 1747 wurde auf der Richtstätte beim Zusammenfluss von Emme und Reuss der Kleinbauer Jakob Schmidlin von Wolhusen hingerichtet – die Anklage lautete auf Abfall vom katholischen Glauben, Verbreitung von Irrlehren und Teilnahme an reformierten Gottesdiensten. Es war eine Prozedur von unbeschreiblicher Grausamkeit: Geschwächt von harter Haft und Folter musste der Verurteilte sich vom städtischen Weinmarkt hinaus zum Galgen schleppen und brauchte dafür geschlagene zwei Stunden. Am Richtplatz erwürgte ihn der Henker, verbrannte den Leichnam und entsorgte die Asche im Fluss. Dem Feuer übergeben wurden auch die «ketzerischen und verführerischen Bücher», welche Schmidli gehört hatten. Genau gleich verfuhr die Justiz mit seinem Wohnhaus: Sie liess es niederbrennen und an seiner Stelle zur fortdauernden Abschreckung eine Schandsäule aufrichten.

Dieses dunkle Kapitel der Luzerner Geschichte blieb in Erinnerung. Noch Jahre später waren im Hinterland Gebetszirkel auszumachen, deren Mitglieder sich im Geiste Schmidlins zusammenfanden. Kritik am Urteil kam aus der reformierten Nachbarschaft, aber auch aus dem eigenen Land. In der Moderne wirkte das Andenken weiter: Den kulturkämpferisch Gestimmten mehrerer Generationen diente die Geschichte als Paradebeispiel für klerikale Rückständigkeit und religiöse Gegenaufklärung. Angehörige konfessioneller Minderheiten, welche im 19. Jahrhundert in der Zentralschweiz unter Zurücksetzung und Marginalisierung zu leiden hatten, sahen sich als Schmidlins Nachfahren und als Verfolgte um einer biblisch orientierten Frömmigkeit willen.

Der Ketzerprozess von 1746/47 ist Anlass zu kritischer und selbstkritischer Erinnerung geblieben – auch, nachdem das selbstverständlich gewordene Bekenntnis zur Religionsfreiheit die Traditionslinien unterbrochen hat. Einzelne wie auch das Gemeinwesen grenzen sich heute ab gegen das Erbe der Altvorderen in der Überzeugung, dass sie mit damaliger Geisteshaltung ganz und gar nichts mehr zu schaffen haben. Seit 2001 gibt es am Ort der vor zwei Jahrhunderten gefällten Schandsäule eine neue Gedenktafel, diesmal im Dienst kollektiver Aufarbeitung. Andere Verbindungen fristen ein eher verborgenes Dasein – etwa die Silberbüste des Landespatrons Franz Xaver, welche das Kollegiatstift St. Leodegar nach der Hinrichtung noch im Sommer 1747 in Dankbarkeit der Regierung übereignen liess. Die vielen, teils in Spannung zueinander stehenden Überlieferungsstränge rufen nach wissenschaftlich fundierter Interpretation aus historischer, theologischer und rechtsgeschichtlicher Sicht.

Markus Ries*

 

 

* Prof. Dr. Markus Ries (Jg. 1959) studierte Theologie in Luzern, Freiburg i. Ü. und München. Seit 1994 ist er Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.