Die Freiheit der Kinder Gottes

Martin Grichtings «Katholische Antwort auf den Pluralismus»

Eingestimmt durch etliche Interviews in den Deutschschweizer Medien erschien soeben das knappe Bändchen «Im eigenen Namen, in eigener Verantwortung» (Basel 2018, 61 Seiten) unseres Herausgeberkommissionsmitglieds Martin Grichting. In einem selber erstellten Frage/Antwort-Modus, der nur formal an den alten Katechismus erinnert, stellt sich der Autor der Grundsatzfrage, welches die Stellung der Kirche in einer offen-pluralistischen Gesellschaft wie der unseren ist. Und es sei gleich zu Beginn gesagt: Grichting entfernt sich mit diesem Text im Schnelltempo aus der geistigen Schmuddelecke, in die er (aus welchen Gründen auch immer) oftmals in unseren Medien gestellt worden ist. Die Schrift enthält im ersten Kapitel nicht nur ein eindeutiges Votum für den säkularen und darum religiös neutralen Staat der Neuzeit (auf Grundlage der Texte von «Dignitis humanae»), sondern auch das Zugeständnis, dass sich gerade die katholische Kirche erst Mitte des 20. Jahrhunderts mit diesem Staat und seinem Verständnis der Grundrechte versöhnt hat und ihn nicht mehr als «Ort der Gefahr» versteht. Gerade wegen dieses harzigen Anmarschweges – hier bin ich mit Grichting völlig konform – könnten wir in Zukunft auch Diskussionspartner für einen Islam sein, der beschlossen hat, dem Gedanken des «Gottesstaates» abzusagen und sich in die Säkularität einbinden zu lassen. «Friedliche Koexistenz und Kooperation» von Religionsgemeinschaften und Staat, «ganz Gottesgläubiger und zugleich loyaler Bürger sein zu können» (S. 41) – das sind nicht nur die Stichworte des Autors, das sind unsere gemeinsamen Hoffnungen auf eine versöhntere Welt. Und Grichting ist urplötzlich mitten im «Projekt Weltethos», das Hans Küng angestossen hat, angekommen!

Im mittleren Teil der Arbeit beschäftigt sich der Autor dann mit der hochaktuellen Frage, wieweit in einem säkularen Staat die Vertreter kirchlich-religiöser Obrigkeit sich noch zu politischen Tagesfragen äussern sollen und dürfen. Gerade die eben erfolgte Stellungnahme der Schweizer Bischofskonferenz zur «No Billag»-Initiative stellt sie uns neu. Und Grichting wiederholt hier seine schon bekannte These: Die Kirchenhierarchie würde ihre religiöse Autorität missbrauchen, wenn sie parteiliche Politik betreibt. Unter «parteilich» versteht er Einmischungen in und Stellungnahmen zu «tagesaktuellen» Fragen, Fragen, bei denen es «aus christlicher Sicht mehrere legitime Antworten gibt» (S. 27). Dieses Tagesgeschäft soll die Hierarchie bewusst den mündigen Laien überlassen, die meist über bessere Sachkompetenz verfügten: «So ist die Kirche durch ihre Laien politisch, aber nicht klerikalistisch» (S. 39). Natürlich bestreitet Grichting nicht, dass Religionsgemeinschaften und Kirchen «Stellung zu Grundfragen des Menschen» (S. 33) nehmen dürfen, sein Kampf gilt der religiös-kirchlich motivierten «Entmündigung des mündigen Bürgers der Neuzeit».

Die Schrift überrascht in der Klarheit und Deutlichkeit ihrer Stellungnahme für die Autonomie der aufgeklärt-westlichen Gesellschaft. Kirche soll nicht weiterhin als belehrendes Gegenüber wahrgenommen werden müssen, die Zeit der Herrschaft über die Seelen der Gläubigen ist vorbei. Der Dauerkonflikt mit den «Landeskirchen» unserer Zonen, in den der Verfasser ständig verwickelt ist, klingt nur knapp an (S. 43 f) und dominiert in keiner Art und Weise. Wenn kritische Anfragen bleiben, dann in der Frage, ob der Grundansatz nicht noch weitergedacht werden muss. Denn auch in «Grundfragen des Menschen» verlangt der mündige Mensch der Neuzeit, dass er nicht am Gängelband geführt wird, sondern dass seine sittlich verantworteten Entscheide respektiert und als Zeichen der Gottesebenbildlichkeit des Menschen verstanden werden.


Heinz Angehrn


Heinz Angehrn

Heinz Angehrn (Jg. 1955) war Pfarrer des Bistums St. Gallen und lebt seit 2018 im aktiven kirchlichen Dienst als Pensionierter im Bleniotal TI. Er ist Präsident der Redaktionskommission der Schweizerischen Kirchenzeitung und nennt als Hobbys Musik, Geschichte und Literatur.