«Die Fragen bleiben herausfordernd»

Organtransplantationen sind nicht nur unter medizinischem Blickwinkel eine hochkomplexe und anspruchsvolle Angelegenheit; sie werfen auch weitreichende ethische Fragen auf.

Ein junger Mensch liegt im Sterben, die Angehörigen nehmen Abschied, die Frage nach einer Organentnahme steht im Raum. Für diese höchst anspruchsvolle Situation hat die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) 2017 neue Richtlinien1 erlassen. Michelle Salathé und Prof. Jürg Steiger geben Auskunft.

SKZ: Wo liegen aus ärztlicher Sicht die grössten ethischen Herausforderungen bei einer postmortalen Organentnahme?
Salathé/Steiger: Aus ärztlicher Sicht besteht ein Dilemma: Auf der einen Seite warten zahlreiche Patienten, die dringend ein Organ benötigen. Auf der anderen Seite gibt es Patienten mit einer aussichtslosen Prognose, deren Organe andere Leben «retten» könnten. In dieser Situation müssen Ärzteteams unbedingt neutral bleiben: Intensiv- und notfallmedizinische Entscheidungen, insbesondere die Entscheidung, eine lebenserhaltende Therapie abzubrechen, dürfen nie von der Möglichkeit einer Organspende abhängen. Die Entscheidung für oder gegen eine Organspende muss immer freiwillig sein. Das medizinische Behandlungsteam respektiert den Entscheid des Patienten für oder gegen eine Spende und darf Angehörige, die anstelle eines Patienten entscheiden, nicht unter Druck setzen. Die SAMW-Richtlinien geben u.a. Hilfestellungen für das Gespräch mit den Angehörigen.

Das sind schwierige Gespräche an der Schwelle von Leben und Tod.
Genau, denn zum traurigen Verlust eines Menschen kommen ethische oder religiöse Überlegungen hinzu. So kann die Durchführung der für eine Organentnahme notwendigen «vorbereitenden medizinischen Massnahmen» als Eingriff in den Sterbeprozess empfunden werden. Solche Massnahmen sind aber nötig, um die Organe weiterhin mit Blut und Sauerstoff zu versorgen und damit die Voraussetzungen für eine Transplantation zu schaffen. Es ist die Aufgabe des medizinischen Betreuungsteams, während des gesamten Prozesses die Bedingungen für einen würdigen Tod zu gewährleisten und mit dem Leichnam mit demselben Respekt umzugehen, wie dies bei jeder verstorbenen Person der Fall ist. Zudem müssen die Angehörigen begleitet und so weit als möglich in den Prozess einbezogen werden.

Aus welchen Gründen wurde 2017 die Wartezeit bis zur formellen Feststellung des Todes bei anhaltendem Herz-Kreislauf-Stillstand von zehn auf fünf Minuten verkürzt?
Bei den meisten Organspendern tritt der Tod nach einer endgültigen Hirnschädigung ein. Nur etwa zehn Prozent der Spender erleiden den Tod als Folge einer Schädigung anderer Organe (z.B. Herz-Kreislauf-Versagen). In diesem Fall führt die anhaltende Unterbrechung der Durchblutung zum endgültigen Ausfall der Hirnfunktionen. Für diese Situation wurde in den SAMW-Richtlinien die Vorgehensweise präzisiert. Zum Nachweis der fehlenden Herzaktivität (Pulslosigkeit) wird neu ein Ultraschall des Herzens, eine Echokardiografie, durchgeführt. Im Anschluss daran wird eine Wartezeit von mindestens fünf Minuten verlangt. In dieser Zeit darf der Patient nicht reanimiert werden. In den bisherigen Richtlinien betrug diese Wartezeit zehn Minuten. Folgende drei Gründe waren für die Verkürzung der Wartezeit ausschlaggebend:

  1. Hirnzellen sind äusserst anfällig auf Sauerstoffmangel und bereits nach drei Minuten endgültig geschädigt.
  2. Die Schweiz ist eines der wenigen Länder, in denen der Kreislaufstillstand nicht nur durch Ertasten des fehlenden Pulses, sondern mittels der Echokardiografie diagnostiziert werden muss. Mit dieser Untersuchung kann präzise nachgewiesen werden, dass in den Herzhöhlen kein Blutfluss mehr besteht und somit kein Blut mehr ausgestossen wird. Im Gegensatz zum Ertasten des Pulses, bei dem ein Restfluss nicht ausgeschlossen werden kann, ist das eine sehr zuverlässige Methode. Mit dem Nachweis des fehlenden Blutflusses ist klar, dass das Gehirn nicht mehr durchblutet wird.
  3. Nach der Wartezeit von fünf Minuten muss eine sogenannte «Hirntoddiagnostik» gemäss SAMW-Richtlinien erfolgen.

In jüngerer Zeit melden sich Zweifel am Hirntodkriterium. Der irreversible Hirnfunktionsausfall besage nicht, dass der Mensch tot, sondern erst, dass er sterbend sei.
Wann ein Mensch «tot» ist, ist eine Grundsatzfrage, deren Antwort entscheidende Auswirkungen für jede Person hat. In der jüngsten Vergangenheit führte die Diskussion über Organent- nahmen nach Hirntod resp. nach Herz-Kreislauf-Stillstand in der Laienpresse und damit in der Öffentlichkeit zu grosser Verunsicherung. Auch deshalb ist entscheidend, dass es in der Gesellschaft ein gemeinsames Verständnis des Todeszeitpunktes gibt. Dieser wird im neuen Transplantationsgesetz2 folgendermassen definiert: Ein Mensch ist dann tot, wenn die Funktionen seines Gehirns einschliesslich des Hirnstamms irreversibel ausgefallen sind. Der Begriff des Hirntodes ist allerdings irreführend, denn er verleitet zur Annahme, dass im Stadium des Hirntods nur das Gehirn tot ist. Richtigerweise müsste man vom «Tod des gesamten Organismus durch den Ausfall des gesamten Gehirns» sprechen. Das bedeutet, dass alle Funktionen des Organismus als Ganzes ausfallen. Das Gehirn ist nicht nur Sitz der individuellen Persönlichkeit jedes Menschen, sondern steuert zugleich die lebensnotwendigen Funktionen. Fällt es aus, tritt der Tod ein.

Stellen sich auch ethische Fragen bei der Organimplantation?
Die Organimplantation als medizinische Operation ist aus ethischer Sicht unproblematisch. Ethische Debatten gibt es aber bezüglich Wartelisten und der Zuteilung von Organen. Bei der Aufnahme auf die Warteliste kann zum Beispiel die Frage aufkommen, ob ein Patient, dessen Leber durch übermässigen Alkoholkonsum zerstört wurde, überhaupt eine Lebertransplantation erhalten soll. Muss er – bevor er auf die Warteliste kommen kann – eine Abstinenzperiode eingehalten haben? Und sind es zwei Wochen, zwei Monate oder sogar zwei Jahre, in denen er seine Abstinenz beweisen muss? Haben Empfänger von Organen nicht auch eine Verantwortung für dieses kostbare Gut, das einer anderen Person ebenso geholfen hätte? Sollten rein medizinische oder auch andere Kriterien bei der Zuteilung eine Rolle spielen? Wäre es sinnvoll, eine junge Mutter gegenüber einem Rentner zu bevorzugen oder «junge Organe» nur an junge Empfänger zu transplantieren? Eine weitere zentrale Frage ist, ob bei der Zuteilung primär der Nutzen berücksichtigt werden soll. Aber ist damit der Nutzen des Organs gemeint oder zählt der Nutzen für den Patienten? Teilt man eine Niere einem Diabetiker zu, so hat dieser Patient den grösseren Nutzen als zum Beispiel ein Patient, dessen Niere aufgrund einer genetischen Krankheit zerstört wurde. Andererseits würde diese Niere einem Patienten, der seine Niere aufgrund einer genetischen Erkrankung verloren hat, wahrscheinlich deutlich länger helfen, weil diese Patienten in der Regel länger leben. Diese Fragen sind heikel und bleiben herausfordernd.

Seit Oktober 2017 läuft die Unterschriftensammlung für die eidgenössische Volksinitiative «Organe spenden – Leben fördern»*. Ziel der Initiative ist eine Ver- fassungsänderung, die jeden Erwachsenen im Todesfall zum potenziellen Spender macht. Welche Konsequenzen hätte dieser Wechsel für die Ärzte?
In der Schweiz gilt aktuell die erweiterte Zustimmungslösung. Hat ein Patient seinen Spendewillen nicht festgehalten, werden die Angehörigen gefragt, ob sie einer Organspende zustimmen. Dabei müssen sie den mutmasslichen Willen des Patienten beachten. Bei der erweiterten Widerspruchslösung wäre die Frage umgekehrt, nämlich ob ein Widerspruch zur Organspende besteht. Der Unterschied ist übrigens nicht so gross: In beiden Situationen müssen die Angehörigen befragt werden.
Die Diskussion über das «richtige» Zustimmungsmodell ist nicht neu. Die SAMW hat bereits 2013 im Zusammenhang mit der Motion Favre** ablehnend zu einer allfälligen Einführung der Widerspruchslösung Stellung genommen. In einem so sensiblen Bereich wie der Organspende muss die Einführung einer Widerspruchslösung gut bedacht sein. Das Vertrauen der Bürger in den Organspendeprozess ist eine wesentliche Voraussetzung für die Bereitschaft zur Organspende. Kommt die Initiative zur Abstimmung, wird das Thema breit in der Öffentlichkeit diskutiert. Das wäre ein Vorteil. Die Bürger würden sich vermehrt Gedanken machen, ob sie Organe spenden wollen oder nicht, und dies auf der Spendekarte dokumentieren und auch den Angehörigen kommunizieren.

Mit einem Systemwechsel ist eine Zunahme an Spendeorganen nicht zwingend gegeben. Gibt es Alternativen? Woran arbeitet die Forschung?
In der Forschung zeichnet sich bislang kein Durchbruch ab. Im Zentrum steht die regenerative Medizin bzw. die Herstellung von Organen im sogenannten Bioreaktor. Im Labor können bereits einzelne Zellen, die gewisse Funktionen haben wie etwa die Insulinproduktion, gezüchtet werden. In der Klinik kommen diese aber noch nicht zum Einsatz. Noch viel komplizierter als das Züchten von Zellen ist das Herstellen von ganzen Organen. Obwohl es Ansätze gibt, wird es voraussichtlich noch Jahre bis Jahrzehnte dauern, bis ein Organ künstlich hergestellt werden kann. Auch die Erwartungen an die Xenotransplantation haben sich bislang nicht erfüllt. Im Gegenteil: Diese Hoffnungen sind weiter in die Zukunft gerückt.

Interview: Maria Hässig

 

1 «Feststellung des Todes im Hinblick auf Organtransplantationen und Vorbereitung der Organentnahme» (2017) unter www.samw.ch/de/Ethik/Organtransplantation.

2 Vgl. Bundesgesetz über die Transplantation von Organen, Geweben und Zellen vom 8. Oktober 2004 (SR 810.21, Transplantationsgesetz); Botschaft zum Bundesgesetz über die Transplantation von Organen, Geweben und Zellen vom 12. September 2001 (SR 01.057).

* Die Unterschriftensammlung für die Volksinitiative «Organspende fördern – Leben retten» des Jeune Chambre International (JCI) Riviera läuft noch bis am 17. April 2019. Detaillierte Informationen finden sich unter www.initiativeorganspende.ch

** Laurent Favre FDP beauftragte in seiner Motion vom 13.12.2013 den Bundesrat, ein nationales Register für Organspender zu schaffen und den Organspendestatus der Bürger zu erfassen.

 

 

 

Michelle Salathé (l.) und Jürg Steiger

Lic. iur. MAE Michelle Salathé ist seit 2007 stellvertretende Generalsekretärin und Leiterin des Ressorts Ethik der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW).

Prof. Dr. Jürg Steiger (Jg. 1959) ist seit 2000 Chefarzt Nephrologie und Transplantationsimmunologie und seit 2013 Bereichsleiter Medizin am Universitätsspital Basel. 2016 wurde er von der SAMW zum Präsidenten der Zentralen Ethikkommission gewählt. Seit 1999 ist er Ordinarius an der Universität Basel.

 

BONUS

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