Die erste Freiburger Doktorandin - auf einer Luxemburger Briefmarke

Marie Speyer

Die Luxemburger Post widmete im vergangenen September Marie Speyer (1880–1914), der grossen katholischen Germanistin und Pädagogin, die als erste Frau an der Universität Freiburg i. Ü. den Doktortitel erworben hatte, eine Briefmarke.

Am 18. Juni 1914 hatte ein früher Tod die Schaffenskraft einer jungen Luxemburger Germanistin und Pädagogin, von der man noch hätte Grosses erwarten können, jäh beendet. Aber auch das, was sie in den nur wenigen Jahren ihres Wirkens geschaffen hatte, hat für die damalige Zeit einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Marie Speyer wurde 1880 in Vianden als Tochter des Richters Johann Peter Speyer und seiner Ehefrau Aanna-Marie Botzem geboren. Nach der École supérieure der Schwestern von St. Sophie trat sie 1895 in das Pensionat der Schwestern ein, um Lehrerin zu werden. In all diesen Klassen zeichnete sie sich bereits durch ihre grosse Intelligenz und Lernfreude aus. Obwohl sie das Lehrerinnenexamen mit der Note ausgezeichnet bestand, erhielt sie keine Anstellung. Deshalb schlugen ihr die Sophieschwestern vor, noch ein Jahr in ihrem Pensionat in Nancy anzuhängen, um die Französisch-Sprachkenntnisse zu vertiefen. Auch dieses Pensionat verlängerte sie noch um ein Jahr, um in Haushaltungskursen auch praktische Dinge zu lernen. 1901, sechs Wochen vor dem Tod ihres Vaters, legte sie zusammen mit ihrer jüngeren Schwester das zweite Lehrerinnenexamen ab. Der Tod des Vaters im November 1901 führte die Familie in die Mittellosigkeit. Die beiden Töchter nahmen in der Folge viele Aushilfstätigkeiten in Volksschulen als Aushilfslehrerinnen an, aber eine feste Anstellung fanden sie nicht. Als Marie Speyer im September 1905 die vierte Ablehnung für eine Lehrerinnenstelle erhielt, empfahl ihr ihr väterliche Freund, Dompfarrer Friedrich Lech (1850–1921), den Volksschullehrerinnenposten abzusagen und eine akademische Ausbildung zu beginnen. Dompfarrer Lech hatte als Erster das Potenzial und Talent der jungen Frau erkannt. Er empfahl ihr auch gleich einen Studienort, nämlich die 1889 gegründete Universität der Schweizer Katholiken in Freiburg i. Ü.

Von der Doktorandin zur Direktorin in Freiburg

Unter der Matrikelnummer 2645 war Marie Speyer neben Mary McCarthy aus dem damals noch britischen Irland und Helena Sokolowska aus dem österreichischen Galizien eine der ersten drei Studentinnen an der philosophischen Fakultät der noch jungen Universität. In Freiburg belegte sie Vorlesungen in deutscher und französischer Literatur und Geschichte, vor allem musste sie zunächst Latein nachholen, das sie in Luxemburg nur privat bei ihrem Vater gelernt hatte. In der Schweiz half ihr ein weiterer Luxemburger Geistlicher, Prälat Dr. Jean-Pierre Kirsch, der den Lehrstuhl für Patrologie und christliche Archäologie innehatte, die lateinische Sprache nachzuholen. Während sie zunächst in einem privaten Studentinnenheim, der Villa des fougères, wohnte, bezog sie ab dem zweiten Studienjahr ein Zimmer in einem Wohnheim bei den Menzinger Ordensschwestern in der Académie Sainte-Croix. Jetzt fand sie die nötige Ruhe und Weite, sich ganz auf ihr Studium einzulassen. Im Literaturprofessor Wilhelm Kosch (1879–1960), einem Deutschmähren, der in Prag über Adalbert Stifter promoviert hatte, fand sie einen einfühlenden, fast gleichaltrigen Doktorvater, der ihre aussergewöhnliche Belesenheit und Leistungsbereitschaft erkannt hatte und der ihr die Liebe zur deutschen Romantik vermitteln konnte. Er wollte zunächst, dass Marie Speyer eine Seminararbeit über das Werk «Hollunderblüte» des westfälischen Romantikers Wilhelm Raabe zu einer Dissertation ausbaute. Doch Marie Speyer lehnte ab. Sie wollte eine Dissertation über den in Luxemburg durch die Arbeiten von Nikolaus Welter und Leopold Tibessar bereits bekannten Friedrich Wilhelm Weber (1813–1894) schreiben. Der Titel ihrer Doktorarbeit lautete «Friedrich Wilhelm Weber und die Romantik». In der Schweiz verlebte sie die schönsten Jahre ihres Lebens. In ihrem Studium ging sie voll auf, und vor allem auch die schöne Landschaft hatte es ihr angetan. Nach einem Auslandssemester an der deutschen Universität Prag promovierte sie 1909 mit «summa cum laude» als erste Frau an der Universität Freiburg. Ihre Arbeit soll die bis dahin beste seit Bestehen der Universität Freiburg gewesen sein.

Obwohl Marie Speyer in Freiburg die erste und in Luxemburg eine der ersten promovierten Frauen war, vermied sie sorgfältig den Schein einer «emanzipierten» Frau. Sie schrieb einmal an ihre Schwester: «Die Studentinnen sollten sich so wenig wie möglich als Frauen bemerkbar machen, nur in den Seminaren und bei der Arbeit sollen sie mitreden.» Nach Abschluss ihrer Dissertation stieg in ihr wieder die Unsicherheit über ihre berufliche Zukunft auf, sie fühlte sich nicht zur Pionierin geboren. Ihr schwebte immer noch eine beschauliche Festanstellung als Primarschullehrerin vor. Da kam ihr ein weiterer Zufall zu Hilfe. Im Jahre 1909 sollte in Freiburg in der Schweiz das erste Mädchengymnasium des Kantons eröffnet werden. Trägerinnen sollten die Lehrschwestern vom Heiligen Kreuz von Menzingen unter Generaloberin Paula Beck sein, bei denen Marie Speyer einige Jahre als Studentin gewohnt hatte. Auch der Bruder von Mutter Paula Beck, Professor Joseph Beck, der den Lehrstuhl für Pastoraltheologie an der Uni Freiburg innehatte, gehörte zum Gründungskreis der neuen Schule. Diese beauftragten Marie Speyer jetzt mit den Vorarbeiten zur Gründung der Schule. Im Herbst 1909 wurde die Schule eröffnet, und im Dezember 1909 erhielt Marie Speyer ihre Ernennungsurkunde als erste Direktorin des ersten Mädchengymnasiums des Kantons Freiburg. An dieser zweisprachigen, deutsch-französischen, Schule musste sie jetzt doch Pionierarbeit als Frau leisten, weil es die erste ihrer Art war und es keine Vorarbeiten gab, worauf man sich hätte stützen können. Marie Speyer stürzte sich in die Arbeit, entwickelte Curricula und Einsatzpläne und verhalf der Schule zu einem guten Start. Sie musste selbst zu ihrer Arbeit als Direktorin noch zwölf Unterrichtstunden in Latein und deutscher und französischer Literatur halten, dazu noch Vorlesungen an der Académie Sainte-Croix in Freiburg, die 1904 als kleine Schwester der Universität von den Geschwistern Beck gegründet worden war. Mit der Académie Sainte-Croix wollten sie einerseits akademisch gebildete Lehrerinnen heranziehen, andererseits Mädchen, die nach einer wissenschaftlichen Qualifikation streben, eine angemessene Ausbildung geben. Lehrer an der Académie waren ausschliesslich Professoren der Universität Freiburg, die nach zwei Jahren das Abschlussexamen abnahmen. Obschon Marie Speyer keine Berechtigung zur Lehre an einer Hochschule hatte, wurde sie von den Freiburger Professoren als gleichberechtigte Partnerin zu Vorlesungen über deutsche Literaturgeschichte an der Académie zugelassen. Im Wintersemester 1909/1910 bot sie zum Beispiel eine dreistündige Veranstaltung mit praktischen Übungen zum Thema «Von den Heidelberger Romantikern bis zum ‹jungen Deutschland› einschliesslich» an.

Der Wechsel von der Universität zur Schule findet seinen Niederschlag auch in Marie Speyers Schriften. Zwar blieb sie als Fachwissenschaftlerin ihren Spezialgebieten Romantik, Eichendorff und Raabe treu, doch machte sich insofern eine Verlagerung ihres Interessenschwerpunkts bemerkbar, als sich ihre Schriften in zunehmendem Mass um Fragen der Literaturvermittlung und der Literaturdidaktik erweiterten. Ihre Arbeiten verschafften ihr Zugang zu den einschlägigen Publikationsorganen katholischer Bildungsinstitutionen. Unverkennbar ist ihre Freude, als sie nach Wilhelm Raabes Tod 1910 von der bekannten und angesehenen Monatsschrift «Hochland» um einen Raabe-Artikel gebeten wird. Eine ähnliche Genugtuung erfuhr sie, als sie der Verlag Herder zur Mitarbeit am ersten grossen fünfbändigen Lexikon der Pädagogik einlud, in dem sie drei Beiträge schrieb.

Beigeordnete Direktorin am Meedercherslycée in Luxemburg

1911 wurde ihr endlich ein Posten in Luxemburg angeboten, nach dem sie sich immer gesehnt hatte, der Posten der stellvertretenden Direktorin am Mädchenlyzeum in Luxemburg. Das Lycée de jeunes filles in Luxemburg wurde 1909 von der Association pour la création d’un lycée de jeunes filles à Luxembourg, einer privaten Gesellschaft, die von Hüttendirektorgattin Aline Mayrisch-de Saint-Hubert ins Leben gerufen worden war, gegründet. Ab Juni 1911 stand die Schule in der Trägerschaft des Staates, und ab Oktober 1911 wurde zunächst Unterricht für Mädchen bis zur Mittelschulreife erteilt. Das Schulprojekt Meedercherslycée in Luxemburg war bewusst als Konkurrenz zu der katholischen Ste.-Sophie-Schule errichtet worden, wo es bereits eine mittlere Mädchenschule in Trägerschaft einer Ordensgemeinschaft gab, die Marie Speyer selbst als Schülerin besucht hatte. Die Konkurrenz wurde auch öffentlich zur Schau gestellt, indem die Schülerinnen der Ste.- Sophie-Schule weisse Hüte trugen, die Schülerinnen des Meedercherslycée Baskenmützen.

Die Entstehung der neuen Schule in Luxemburg ging auf den Verein für die Interessen der Frau zurück, der 1906 im Anschluss an eine Konferenz der deutschen Frauenrechtlerin Käthe Schirrmacher auf Einladung der Liberalen Liga in Luxemburg gegründet worden war. Dieser Verein wollte gleiche Bildungschancen für Jungen und Mädchen durchsetzen. Der Lehrkörper, der die ersten beiden Jahre praktisch ohne Besoldung arbeitete, bestand ausschliesslich aus Männern, weibliche Akademikerinnen gab es ja noch nicht. Erst 1909 wurde mit Anne Beffort, die an der Sorbonne eine Doktorarbeit über Alexandre Soumet abgeschlossen hatte, eine erste Frau eingestellt, die vor Marie Speyer den Posten der Unterdirektorin innehatte. Das Bistum Luxemburg ging von Anfang an auf Konfrontationskurs zu der neuen Mädchenschule. Obwohl zwei Stunden Religionsunterricht vorgesehen waren, verweigerte Bischof Jean-Joseph Koppes (1883–1918 im Amt) die Bestellung eines Lehrers. Diese Konfrontation in ihrer neuen Schule bedeutete von Anfang an einen grossen Gewissenskonflikt für die neue Unterdirektorin der Schule, die durch ihre Beiträge im «Hochland» und der «Kölnischen Volkszeitung» ihre Nähe zu jenen Kreisen zeigte, die sich für eine Modernisierung und Öffnung des katholischen Laienmilieus einsetzten. Ins erste Jahr ihrer Anstellung in Luxemburg fiel der Schulkonflikt von 1912 zwischen Kirche und Gesellschaft in Luxemburg. Marie Speyer war eine durch und durch katholische Lehrerin und Erzieherin. Dies trug ihr, die sich in Wort, Schrift und Tat für die Religion in der Schule einsetzte und auch verbandspolitisch beim katholischen Lehrerverband aktiv wurde, manche Gegnerschaft bis in den Lehrkörper ihrer neuen Schule ein. Man warf ihr in der Presse «Helferdienste für die Klerikalen» vor. Auch an ihrer fachlichen Qualifikation wurde öffentlich gezweifelt. Marie Speyer ging solchen Angriffen offensiv entgegen, indem sie fast alle Schulferien für Vortragsreisen nach Berlin, Dortmund, Freiburg i. Ü. und zuletzt auch nach Boppard/ Rhein nutzte. In diesen Vorträgen und Reisen fand sie Entschädigung für eine Anerkennung, die sie im eigenen Lande und in ihrer hauptberuflichen Tätigkeit, infolge eines kleinkarierten Schulkampfes zwischen Kirche und Staat, nicht fand. Rückhalt fand sie in dieser schweren Zeit in ihrer alternden Mutter, ihrem grossen Gönner Domdechant Friedrich Lech, der jedoch selbst bereits krank war, und in ihrem starken, von Kindheit an prägendem Glauben.

Bereits seit Herbst 1912 hatten sich erste Symptome einer Krebserkrankung manifestiert. Eine Operation im November 1912 verschaffte zunächst etwas Aufschub, bis die Krankheit ab Sommer 1913 verstärkt auftrat und immer mehr Kräfte aufzehrte. Trotzdem schleppte sich Marie Speyer bis November 1913 in die Schule, um ihre 18 Unterrichtsstunden zu halten; von ihren Verpflichtungen als Autorin hatte sie sich bereits früher losgesagt. Danach folgten Monate und Wochen in Kliniken und zu Hause, in denen das Leiden stärker wurde und zusätzlich auch Depressionen auftraten. Die junge Luxemburger Grossherzogin Marie Adelheid und ihre Mutter Maria Anna besuchten sie regelmässig und versuchten, noch ärztlichen Rat aus dem Ausland herbeizuholen. Am 18. Juni 1914 ging der Leidensweg von Marie Speyer zu Ende, nur wenige Tage vor ihrem 34. Geburtstag. Beerdigt wurde sie einige Tage später in Wormeldingen an der Mosel, dem Geburtsort ihrer Mutter, in der Familiengruft, in der schon ihr Vater und später auch ihre Mutter ruhen sollten.

Mehr als durch ihr in der Blüte geknicktes Schaffen und durch ihre kurzen beruflichen Leistungen blieb Marie Speyer wegen ihrer Geradlinigkeit und tapferen Ganzheit und ihrer unverbrüchlichen Treue gegenüber sich selbst in der Erinnerung der Luxemburger wach. Auch wenn sie eine Pionierin wider Willen war, verkörperte sie mehr als andere die Tugenden, die man als Pionierin und Wegweiserin brauchte. «Wie sie mit ihren Gegebenheiten, in ihren Verhältnissen und auf ihre Art das Leben meisterte bis in den frühen Tod und sich zu goldechtem schönen Menschentum durchkämpfte und -läuterte, das ist das Bleibende und Wegweisende an ihr», schrieb ihre Schwester über sie noch 16 Jahre nach ihrem Tode. Das Luxemburger «Wort» würdigte die Verstorbene damals folgendermassen: «So steht die Verstorbene da, als ideal veranlagte, mit den schönsten Fähigkeiten des Geistes und des Herzens ausgestattete Erzieherin, Lehrerin und Schriftstellerin. Dabei ist sie von einer grenzenlosen Bescheidenheit und von beständigem Gleichmut, immer ergeben trotz mancher Prüfungen, immer hilfsbereit trotz manchen Undanks, immer höher strebend trotz manchen Misserfolgs. Ihr streng katholischer und energisch fester Charakter regelte ihr ganzes Leben und Streben.» Auch die Luxemburger Post hat dies noch 100 Jahre nach ihrem Tode zu würdigen gewusst und ihr mit der Briefmarke in diesem Jahr ein kleines Denkmal gesetzt.

 

Literatur:

Germaine Goetzinger: Marie Speyer: eine Karriere im Spannungsfeld von Germanistik und Pädagogik, in: «Wenn nun wir Frauen auch das Wort ergreifen …»: 1880–1950: Frauen in Luxemburg = femmes au Luxembourg (= Publications nationales du Ministère de la culture). Luxemburg 1997, 45–61; Marie Speyer: Erinnerungsblätter, ausgewählte Vorträge und Aufsätze. Hrsg. von ihren Luxemburger Freunden. Luxemburg 1930.

Das Historische Lexikon der Schweiz» widmet Marie Speyer ebenfalls einen Artikel (siehe: Christine Fracheboud: Artikel Speyer, Marie, in: HLS Bd. 11 [2012], 691).


Bodo Bost

Bodo Bost studierte Theologie in Strassburg und Islamkunde in Saarbrücken. Seit 1999 ist er Pastoralreferent im Erzbistum Luxemburg und seit 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Public Responsibility an der kircheneigenen Hochschule «Luxembourg School of Religion & Society».