«Die Errichtung einer Versöhnungskultur tut Not»

Im soeben erschienenen Buch «Versöhnungskultur»1 zeigt der unerwartet verstorbene Mitherausgeber Markus Arnold neue Wege in der Katechese des Busssakramentes auf. Darüber sprach die SKZ mit ihm im Sommer.

Dr. theol. Markus Arnold war von 1999 bis 2018 Dozent für Ethik und Studienleiter am Religionspädagogischen Institut Luzern. Seit seiner Pensionierung arbeitet er teilzeitlich in der Seelsorge.

 

SKZ: Was motivierte Sie, sich intensiver mit dem Sakrament der Versöhnung zu befassen?
Markus Arnold: Ich habe mich immer mit dem Thema beschäftigt. Als Kind erlebte ich noch die klassische Beichtkultur, während des Studiums und in meinen ersten Praxisjahren ist sie regelrecht verdunstet. In meinem Noviziat in einer Ordensgemeinschaft habe ich die Beichte neu sehr bereichernd erfahren dürfen. Heute stelle ich fest, dass ich einer der wenigen bin, die sich mit dem Thema beschäftigen. Die meisten neuen Publikationen wurden von lutherischen Theologinnen und Theologen herausgegeben. Da geht es aber nie um die Kinderbeichte, sondern um die existenzielle Beichte von Erwachsenen. Pointiert gesagt: Die Lutheraner entdecken die Beichte und die Katholiken bauen auf die Gnade Gottes.

Welchen theologischen Ansatz verfolgt das Buch?
Mich hat schon im Studium das Konzept der Alten Kirche fasziniert: Es existierte eine eigentliche Versöhnungskultur. Sündenvergebung, Versöhnung mit Gott und in der Kirche war in dieser Zeit ein zentrales Thema. Das Busssakrament war für schwere Sünden gedacht und hatte therapeutischen Charakter. Sündenvergebung ereignete sich permanent im kirchlichen Alltag, vor allem auch in der sonntäglichen Eucharistie. Zudem stimmte die Logik beim Busssakrament: Zuerst das Bekenntnis, dann die Busse als Ausdruck der Reue und anschliessend die Wiedereingliederung in die Eucharistiegemeinschaft durch Handauflegung durch den Bischof. Natürlich in Anwesenheit der Gemeinde. Das ist unser Problem heute: Es gibt keine reiche und bewusste Versöhnungskultur mehr, in welche das Busssakrament eingebettet sein könnte – im Sinne der Alten Kirche eher als Ausnahme in Form der Lebensbeichte bei schweren Sünden für Erwachsene. Das Busssakrament in Form der Beichte ist aber tatsächlich zur Ausnahme geworden: Die einmalige Kinderbeichte dürfte für die meisten Katholikinnen und Katholiken die Regel sein.

Im Buch setzen Sie die (Erst-)Beichte im Rahmen der Firmvorbereitung von jungen Erwachsenen an. Weshalb verorten Sie sie hier?
Das Zweite Vatikanische Konzil entdeckte den therapeutischen Charakter der Beichte wieder. In der Folge entstanden Beichtzimmer, die dem neuen Verständnis Ausdruck gaben. Eine solche Beichte ist aber nicht mehr eine Angelegenheit von fünf Minuten, im Idealfall ist sie eingebettet in eine geistliche Begleitung. Damit ist offensichtlich: Wir reden von Erwachsenen. Konzil und Kirchenrecht haben gleichzeitig auch die alte Andachtsbeichte befürwortet. In ihr sollte von Kindesbeinen an das Beichten geübt werden, damit eine gute Gewohnheit entstehe, auch im Hinblick auf einen möglichen Ernstfall. Das hat nicht funktioniert. Die Übergänge von der Kinderbeichte zur Erwachsenenbeichte finden nicht statt. Nur schon aus entwicklungspsychologischen Gründen sind es zwei ganz verschiedene Prozesse, die in Beichten von Kindern oder Erwachsenen stattfinden. Es macht Sinn, die Beichte in einem Alter zu thematisieren, in welchem ein gewisses mündiges Denken bereits vorhanden ist. Der Mensch soll selbst erkennen, warum ein Fehlverhalten in moralischer Hinsicht gravierend ist. Das ist in Firmkursen von 17- und 18-Jährigen gegeben, sicher nicht bei Zehnjährigen.

Nach kirchlichen Vorgaben ist die (Erst-)Beichte vor der Erstkommunion vorgesehen (CIC can 914). Was spricht für diesen Zeitpunkt?
Ich sage es offen: Ausser dem oben erwähnten Übungseffekt, der aber nicht mehr «funktioniert», spricht nichts dafür. Dazu kommt, dass vor allem im angelsächsischen Raum viele sexuelle Übergriffe im Beichtstuhl vorgespurt wurden. Das Thema ist im Moment einfach zu belastet. Warum nicht ein Kinderbeichtmoratorium, bis die Erwachsenen wieder beichten? Dann gibt es neue Impulse. Dass vor der Erstkommunion eine Versöhnungsfeier stattfindet, ist sinnvoll. Zwingend wäre eine Kinderbeichte nur im Falle von schweren Sünden (CIC can 988 § 1). Das sagte auch das Konzil von Trient und sagt heute noch das Kirchenrecht, welche beide die Kinderbeichte aus oben erwähnten Gründen befürworten.  

Oder ist auch die Erstkommunion später bzw. altersunabhängig anzusetzen, womit die Möglichkeit bestünde, die Initiationssakramente in der ursprünglichen Reihenfolge zu feiern?
Wir dürfen nicht vergessen, dass der erste Ort der Sündenvergebung die Taufe ist und nicht das Busssakrament. «Taufe – Firmung – Eucharistie» wäre die korrekte Reihenfolge. Das beinhaltet den Abschied von der Kindertaufe. Dogmatisch wäre das sinnvoll. Pastoraltheologisch bin ich eher skeptisch. Was die Altersunabhängigkeit anbelangt, bin ich aus ethischen Gründen ein Kritiker der ausschliesslichen Orientierung am Individuum. Individuum und Gemeinwohl, nie das eine ohne das andere, ist eine Grundüberzeugung der kirchlichen Soziallehre. Eine altersunabhängige Ansetzung der Erstkommunion würde zu einer völligen Individualisierung der Katechese führen, welche primär auch von den Eltern verantwortet werden müsste. Ich bin nach wie vor dafür, dass Gruppen von ungefähr gleichaltrigen Kindern auf die Sakramente vorbereitet werden. Das sind immer auch Biotope kirchlicher Gemeinschaft. Sowohl in der Busskatechese mit Kindergruppen als auch in der Firmvorbereitung mit jungen Erwachsenen habe ich diesbezüglich sehr gute Erfahrungen gemacht. Wo würde sonst bei uns ethisches Lernen stattfinden? Die grundsätzliche Frage lautet: Ist das Busssakrament in erster Linie ein Erwachsenensakrament? Wer das bejaht, muss sich die Frage stellen, wie Kinder und Jugendliche darauf hingeführt werden. Die zweite Frage lautet: Muss das Busssakrament eingebettet sein in eine umfassendere Versöhnungskultur? Wer das bejaht, kann die Kinder zuerst in diese Versöhnungskultur einführen. Das Busssakrament wird dann zur Hochform und zum Ernstfall von Busse und Sündenvergebung.

Einzelne Menschen bekennen individuelle, Gemeinschaften kollektive Schuld in der Öffentlichkeit. Schuld und Vergebung waren ursprünglich im Raum der Kirche beheimatet. Haben hier die Kirchen eine Entwicklung verpasst, ist ihnen ein für den Menschen heilsamer Dienst abhandengekommen? Und was können sie heute darauf antworten?
Das beschäftigt mich schon lange. Vor allem in der Politik wurde das Thema Versöhnung in den letzten Jahrzehnten immer wichtiger. Denken wir an Wahrheitskommissionen in Südafrika oder Lateinamerika. Der Grundgedanke: Der Täter muss sich zu seiner Schuld bekennen, er muss Wahrheiten anerkennen, die er lieber verdrängen möchte. Wo das geschieht, wird Vergebung und Versöhnung möglich. Dabei sollte man nicht von Kollektivschuld reden, der Begriff ist sehr umstritten. Letztlich müssen immer Individuen konkrete eigene (Mit-)Schuld benennen können. Diese Form entspricht dem altkirchlichen Modell: Eine Busszeit macht Strafe hinfällig, Versöhnung wird möglich. Wir haben einen reichhaltigen Schatz in unserer kirchlichen Tradition. Eigentlich wären wir die Profis für Vergebung und Versöhnung. Durch die Absolutionsbeichte, in welcher der Priester nach der Absolution die Bussauflage verordnet, wurde die Busse zur Strafe. Das positive Wort Busse – Besserung –, welches einen Prozess andeutet, in welchem jemand seine Identität neu findet, bekam so einen durch und durch negativen Beiklang. Darum tut die Errichtung einer Versöhnungskultur so not.

Nicht nur der Ort wechselte, sondern auch der Umgang mit Schulderfahrungen. Die herkömmliche religiöse Verarbeitung von Schulderfahrungen spielt heute keine signifikante Rolle mehr. Wo müsste hier die Kirche in Theologie und Praxis ansetzen?
Hier wird auch in Kirche und Theologie viel verdrängt. Natürlich wurde mit den Begriffen Schuld und Sünde in der jüngeren Kirchengeschichte viel Unfug getrieben. Also verwendet man diese Begriffe lieber nicht mehr und blendet auch das Thema mehr oder weniger aus. Ähnlich in der Gesellschaft: Es läuft nicht gut für die Umwelt, die Wirtschaft kriselt, zunehmende Gewalt wird beklagt. Aber niemand ist daran schuld. Keine Schuldgefühle haben, ist die Devise. Hier wäre eine Chance für die Kirche. Wir können von Schuld und Versagen reden. Wir können auch Schuldbekenntnisse ablegen, weil wir wissen, dass Schuld nicht das Letzte ist. Denn Schuld, auch als Sünde vor Gott, wird uns vergeben, wenn wir sie bereuen. Das ist eine äusserst befreiende Botschaft und sie spielt im Neuen Testament eine grosse Rolle. Das kommt auch im Exsultet zum Ausdruck, wenn von der Felix Culpa gesungen wird, die glückliche Schuld, welche den Erlöser provoziert hat. Das ist in unserer Wahrnehmung etwas schräg, doch es lohnt sich, darüber gelegentlich nachzudenken. Wir sollten den Mut haben, diese existenziellen Themen unverkrampft anzusprechen.

Interview: Maria Hässig

 

1 Arnold, Markus, Graf, Karl u. a. (Hg.): Versöhnungskultur. Busswege und Versöhnungsfeiern in der Gemeinde, Kriens 2020 (Netzwerk Katechese).

 

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

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