Die Bibel von Moutier-Grandval

Die Serie «Bibelspezialitäten» zeigt Bilder zur Bibel, aufgeschlüsselt und interpretiert. Die Bilder stammen aus der umfangreichen Bibelsammlung von Thomas Markus Meier. Sie kann in Frauenfeld besucht werden.

Bilderseite aus der Bibel von Moutier-Grandval.

 

Beginnen soll die Serie mit der grössten Bibel, die je Heimat fand in unserem Land, was sowohl das Format wie auch die Bedeutung betrifft, nämlich die Bibel von Moutier-Grandval. Die Handschrift (um 840 im Kloster St. Martin in Tours entstanden) gehörte im späten 16. Jh. dem Kloster Moutier-Grandval/Münster-Garnfelden und befindet sich heute in der British Library (nur das British Museum vermochte den Kaufpreis zu stemmen …). Das grosse Format liegt auch am theologischen Hintergrund. Die sogenannten karolingischen Pandekten banden den lateinischen Text von Altem und Neuem Testament repräsentativ in ein Buch, um die Zusammengehörigkeit der beiden Teile der Bibel wortwörtlich zu demonstrieren.

Im Bild sehen wir in der oberen Bildhälfte denn auch Christus gleichzeitig durch eine alt- wie eine neutestamentliche Symbolfigur dargestellt: Am Thron Gottes und des Lammes (Offenbarung 22,3) stehen das Lamm und der Löwe Judas. Auf dem leeren Thron, der «Hetoimasia», steht die Heilige Schrift, hier weniger gut erkennbar als in einer parallelen Darstellung in der «Bibel Karl des Kahlen». Der leere Thron, die Hetoimasia, ist in vielen orthodoxen Kirchen an die Decke gemalt – als Mahnung: Die Wiederkunft Christi steht noch aus, eigentlich haben wir immer Sedisvakanz! Spannend, und vielleicht gegen die Illustratoren zu lesen, ist die untere Bildhälfte: Paulus erinnert in 2 Kor 3,12 an Mose, der sein Haupt verhüllt habe. Nämlich um – und hier flunkert Paulus grob fahrlässig, legt er doch in die ersttestamentliche Lesung hinein, was er herausdeuteln will – zu verbergen, dass sein Gesicht nicht mehr strahle, dass Gottes Glanz bei Mose vergangen sei und so eben auch der Glanz Israels. Von wegen Zusammengehörigkeit von Altem und Neuem Testament: Exodus 32 erzählt im Gegenteil davon, dass das Gesicht Moses gestrahlt habe und er nur zu Schutz des Volkes sein Haupt verhüllt habe. Paulus aber verschleiert, woher er seine Idee hat, dass eine Hülle auf dem alten Bund liege! Gemalt hat der Illustrator, wie die vier Evangelistensymbole den Schleier von Mose wegnehmen, damit er wieder Klarsicht hat. Die Evangelisten sind nun in einem Rhombus angeordnet, in der Diagonalen können wir ein Kreuz einschreiben. Heute ist das auch so lesbar: Wo sich die Evangelien kreuzen, in der Mitte der Frohbotschaft, sehen wir unvermutet den klarsichtigen Mose.

Pandekten (von griechisch pandektes, «allumfassend») zeigen in der Tat die Zusammengehörigkeit von Altem und Neuem Testament: Mose ist nicht überholt, sondern gehört integriert. «Das Neue Testament ist geboren aus dem Alten», schreibt der Titulus, die Gedichtzeile zwischen den Bildhälften:

SEPTEM SIGILLIS AGNVS INNOCENS MODIS
SIGNATA MIRIS IVRA DISSERIT PATRIS
LEGES ET VETERIS SINV NOVELLAE
ALMIS PECTORIBVS LIQVANTUR ECCE
QVAE LUCEM POPULIS DEDERE MULTIS


Übersetzt:
Das schuldlose Lamm löst auf wundersame Weise
das mit sieben Siegeln verschlossene Gebot des Vaters.
Siehe es fliesst vom Schoss des alten das neue Gesetz
aus nährenden Brüsten, das vielen Völkern Erleuchtung brachte.

 

Die Bibelsammlung von Thomas Markus Meier bildet einen Querschnitt ab durch die Geschichte der Bibelillustrationen. Es hat darunter hochwertige Faksimiles (originaltreue Nachbildungen) spätantiker Purpurhandschriften, mit denen die Geschichte christlicher Bibelbebilderungen beginnt. Noch mehr Bibelillustrationen finden sich in theologischen Werken des Mittelalters: Biblia pauperum, Bible moralisée und ähnliches. Beim Blättern darin merken wir, dass es eine oft nachgebete Mär ist, die Bilderbibeln seien für Leseunkundige. Auch Bilder müssen lesen gelernt werden. Weitere Informationen: www.kath-frauenfeldplus.ch/Bibelsammlung


Thomas Markus Meier

Dr. theol. Thomas Markus Meier (Jg 1965) arbeitet als Pastoralraumleiter der Pfarrei St. Anna Frauenfeld und ist Mitglied der Redaktionskommission der SKZ. Auf Facebook betreibt er die Seite Biblioblog. Dort bespricht er Beobachtungen zur Bibel und kommentiert auch die Übersetzungsänderungen der revidierten Einheitsübersetzung – es fehlen nur noch die Samuelbücher, Teile von Jesaja und Ezechiel sowie das ganze Jeremiabuch. www.facebook.com/Nutzernamenfrei