Beginnen soll die Serie mit der grössten Bibel, die je Heimat fand in unserem Land, was sowohl das Format wie auch die Bedeutung betrifft, nämlich die Bibel von Moutier-Grandval. Die Handschrift (um 840 im Kloster St. Martin in Tours entstanden) gehörte im späten 16. Jh. dem Kloster Moutier-Grandval/Münster-Garnfelden und befindet sich heute in der British Library (nur das British Museum vermochte den Kaufpreis zu stemmen …). Das grosse Format liegt auch am theologischen Hintergrund. Die sogenannten karolingischen Pandekten banden den lateinischen Text von Altem und Neuem Testament repräsentativ in ein Buch, um die Zusammengehörigkeit der beiden Teile der Bibel wortwörtlich zu demonstrieren.
Im Bild sehen wir in der oberen Bildhälfte denn auch Christus gleichzeitig durch eine alt- wie eine neutestamentliche Symbolfigur dargestellt: Am Thron Gottes und des Lammes (Offenbarung 22,3) stehen das Lamm und der Löwe Judas. Auf dem leeren Thron, der «Hetoimasia», steht die Heilige Schrift, hier weniger gut erkennbar als in einer parallelen Darstellung in der «Bibel Karl des Kahlen». Der leere Thron, die Hetoimasia, ist in vielen orthodoxen Kirchen an die Decke gemalt – als Mahnung: Die Wiederkunft Christi steht noch aus, eigentlich haben wir immer Sedisvakanz! Spannend, und vielleicht gegen die Illustratoren zu lesen, ist die untere Bildhälfte: Paulus erinnert in 2 Kor 3,12 an Mose, der sein Haupt verhüllt habe. Nämlich um – und hier flunkert Paulus grob fahrlässig, legt er doch in die ersttestamentliche Lesung hinein, was er herausdeuteln will – zu verbergen, dass sein Gesicht nicht mehr strahle, dass Gottes Glanz bei Mose vergangen sei und so eben auch der Glanz Israels. Von wegen Zusammengehörigkeit von Altem und Neuem Testament: Exodus 32 erzählt im Gegenteil davon, dass das Gesicht Moses gestrahlt habe und er nur zu Schutz des Volkes sein Haupt verhüllt habe. Paulus aber verschleiert, woher er seine Idee hat, dass eine Hülle auf dem alten Bund liege! Gemalt hat der Illustrator, wie die vier Evangelistensymbole den Schleier von Mose wegnehmen, damit er wieder Klarsicht hat. Die Evangelisten sind nun in einem Rhombus angeordnet, in der Diagonalen können wir ein Kreuz einschreiben. Heute ist das auch so lesbar: Wo sich die Evangelien kreuzen, in der Mitte der Frohbotschaft, sehen wir unvermutet den klarsichtigen Mose.
Pandekten (von griechisch pandektes, «allumfassend») zeigen in der Tat die Zusammengehörigkeit von Altem und Neuem Testament: Mose ist nicht überholt, sondern gehört integriert. «Das Neue Testament ist geboren aus dem Alten», schreibt der Titulus, die Gedichtzeile zwischen den Bildhälften:
SEPTEM SIGILLIS AGNVS INNOCENS MODIS
SIGNATA MIRIS IVRA DISSERIT PATRIS
LEGES ET VETERIS SINV NOVELLAE
ALMIS PECTORIBVS LIQVANTUR ECCE
QVAE LUCEM POPULIS DEDERE MULTIS
Übersetzt:
Das schuldlose Lamm löst auf wundersame Weise
das mit sieben Siegeln verschlossene Gebot des Vaters.
Siehe es fliesst vom Schoss des alten das neue Gesetz
aus nährenden Brüsten, das vielen Völkern Erleuchtung brachte.