Der Vor-Läufer: Johannes und seine Taufe

Aus christlicher, nachösterlicher Perspektive scheint es klar: Johannes ist «nur» der Vorläufer. Der «Stärkere», der erst nach ihm kommt, ist Jesus. Aus dieser Perspektive erzählen auch die Evangelien von Johannes dem Täufer. Doch es lohnt sich, sich für einmal in die vorösterliche Perspektive zurückzuversetzen.

Das ist die Perspektive der Frauen und Männer, die wohl im Jahr 27/28 n. Chr., noch vor dem Beginn des Wirkens Jesu, in grosser Zahl zu Johannes in die Wüste hinauszogen: Sie wollten sich von ihm neue Perspektiven für ihr Leben eröffnen lassen. Dabei setzte Johannes ganz auf die Kraft prophetischer Tradition: Er kleidete sich wie Elija (2 Kön 1,7f) und rief damit die Lebenshoffnungen der einfachen Bevölkerung wach, die schon bei Elija und Elischa ein offenes Ohr fanden. Geschichten von Heilungen und Geschenkwundern (1 Kön 17; 2 Kön 4), einer Brotvermehrung (2 Kön 4,42–44), einer wiedergefundenen Axt (2 Kön 6,1–7) waren noch in Erinnerung.

Matthäus formuliert die Verkündigung des Johannes, im Unterschied zu den anderen Evangelisten, exakt mit denselben Worten, mit denen er später die Botschaft Jesu beginnen lässt: «Kehrt um! Denn nahegekommen ist das Königtum der Himmel» (3,2 und 4,17). Matthäus macht Johannes und Jesus damit zu «theologischen Brüdern», so wie das Lukasevangelium sie zu leiblichen Verwandten macht. Johannes und Jesus gehören weitaus enger zusammen als wir es zu sehen gewohnt sind. Und: Gemeinsam sind sie Teil einer immer wieder neu aufkommenden frühjüdisch-messianischen Bewegung im 1. Jh. n. Chr. Flavius Josephus und das NT berichten von zahlreichen weiteren Predigern, Propheten und Messiasanwärtern, die mit Aufsehen erregenden Auftritten sowie einer eschatologischen Verkündigung bekannt geworden sind und rasch von den Römern umgebracht wurden (Apg 5,36f). Umso interessanter ist es, dem Spezifischen in ihrer Botschaft nachzugehen.

Die Johannestaufe: Ein jüdisches Umkehr-Ritual

Johannes verdichtete seine Verkündigung in einem Ritual, das tief in den heiligen Schriften wurzelte und zugleich ausserordentlich originell war. Er verband die jüdische Praxis regelmässiger, kultischer Reinigungsbäder und Waschungen (z.B. Lev 11; Mk 7,3f und auch 2 Kön 5) mit einer endzeitlichen Perspektive, die andere Propheten lange vor ihm formuliert hatten. Das Taufritual des Johannes könnte u. a. von folgenden Texten inspiriert sein: Wascht euch, reinigt euch! Lasst ab von eurem üblen Treiben! Hört auf, vor meinen Augen Böses zu tun! Lernt, Gutes zu tun! Sorgt für das Recht! Helft den Unterdrückten! Verschafft den Waisen Recht, tretet ein für die Witwen! (Jes 1,16f) Ich giesse reines Wasser über euch aus, dann werdet ihr rein. Ich reinige euch von aller Unreinheit und von allen euren Götzen. (Ez 36,25) An jenem Tag wird für das Haus David und für die Einwohner Jerusalems eine Quelle fliessen zur Reinigung von Sünde und Unreinheit. (Sach 13,1)

Die Waschungen werden bei Johannes zu einem einmaligen Geschehen verdichtet, das eine entschiedene innere Umkehr, gerechtes Handeln und eine Ausrichtung auf das gegenwärtig rettend-eschatologische Handeln Gottes zum Ausdruck bringt. Mit diesem Ritual und seiner Verkündigung sah sich Johannes als Vor- Bote endzeitlicher Ereignisse, aber offensichtlich nicht als alle(s) überragende messianische Figur. Wenn er von einem «Stärkeren» spricht, der nach ihm kommt, so kann damit aus seiner «vor-jesuanischen» Perspektive und im Licht des Mischzitats in Mt 3,3 nicht nur der Messias gemeint sein, wie es die nachösterliche Perspektive der Evangelisten selbstverständlich auf Jesus bezieht, sondern auch das Kommen Gottes selbst im Sinne des biblischen «Tages JHWHs».

Wüste und Galiläa als pastorale Lernorte

Diese Gerichtsbotschaft des Johannes wird häufig der Frohbotschaft Jesu gegenübergestellt. Allerdings hat diese «katechetische Polarisierung» gerade im Matthäusevangelium keinen Anhaltspunkt: Beide verkünden das Königtum Gottes und auch Jesus spricht im Mt häufig vom Gericht. Nach einer Zählung des Neutestamentlers Daniel Marguerat sind im Mt 40 Prozent aller Perikopen vom Endgericht «berührt», im Lk dagegen 19 Prozent und bei Mk nur 11 Prozent. Zwar ist es bezeichnend, dass Johannes seine Botschaft im rauen, asketischen Wüstenklima Judäas verkündet, Jesus hingegen später im überaus fruchtbaren, viel lebensfreundlicheren Galiläa und am See Genezareth. Darin dürften nicht nur persönlich-biografische, sondern auch theologische und «pastorale» Akzente zum Ausdruck kommen: Johannes setzt auf die persönliche und asketische Ausnahmesituation der Wüste, die an den Exodus erinnert. Jesus traut hingegen auch dem lebendigen Alltag viel Ausserordentliches zu. Doch ein allzu grosser Graben sollte zwischen Johannes und Jesus nicht aufgerissen werden: Beide verkünden das Königtum Gottes und stehen mit ihrer ganzen Existenz dafür ein.

Vor-Läufer heute

Wer könnte heute in die Fussstapfen des Vor- Läufers Johannes treten, den Boden bereiten für eine Verkündigung, bei der Gott selbst – das Königtum der Himmel, wie Matthäus sagt – wirken kann? In Zeiten von Pegida, Trump und Minarettverbot ist es kein Qualitätsmerkmal, wenn viele Menschen einer Person oder Sache nachlaufen. «Liken» kann beliebig, belanglos und sogar bösartig sein. Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber hat das schon vor 65 Jahren auf den Punkt gebracht: «Erfolg ist keiner der Namen Gottes.» Nicht nur deshalb ist es anspruchsvoll, das Wirken Johannes’ des Täufers im Lichte der Botschaft des Matthäusevangeliums in unsere Zeit zu übersetzen. Vielleicht müsste man angesichts unserer heutigen Massenphänomene gerade den umgekehrten Weg gehen und fragen, wo uns eine Person und Botschaft so tief berührt, dass sie unser Leben schöpferisch-penetrant durcheinanderzubringen vermag. Umkehr-Wege sind mühsam und geschehen oft im Verborgenen. Wer oder was öffnet mich dafür, dass solche Wege überhaupt beginnen können? Die Antworten dürften genauso individuell vielfältig sein wie die Motivationen derer, die damals zu Johannes in die Wüste hinausgezogen sind.

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Johannes der Täufer

Melodie: «Kommt herbei, singt dem Herrn» = GL 270 = KG 43 Lied im Wechselgesang!

V Vorläufer sein, fremd und allein, Zeichen am Weg, aber nicht das Ziel,

A Kommendes sehn, Wüsten begehn, Läufer, nicht König im grossen Spiel:

V dazu rief der Herr der Welten dich, Johannes, in seinen Dienst,

A und du liessest sein Wort gelten, als du mahnend am Fluss erschienst.

V Vorläufer sein, machtlos und klein vor dem, der handelt an Gottes statt,

A nur ein Prophet, der wieder geht, wenn er den Auftrag beendet hat:

V unbeirrter Wüstenrufer, treu erfülltest du deinen Teil,

A tauftest dort am Jordanufer und bezeugtest das nahe Heil.

V Vorläufer sein, Gott lädt euch ein, werdet Propheten mit Wort und Tat!

A Gebt, was ihr seid, ihm, der befreit, er braucht zur Ernte auch eure Saat.

V Dieser Ruf geht um die Erde – du, Johannes, bist sein Gesicht.

A Mit prophetischer Gebärde zeig uns Christus, das wahre Licht!

Peter Gerloff

http://people.freenet.de/sehnde-kath/Johannes_der_Taeufer_.htm


Detlef Hecking

Detlef Hecking (Jg. 1967) ist Theologe, Bibliodrama- und Bibliologleiter. Nach Tätigkeiten als Pfarreiseelsorger, Leiter der Bibelpastoralen Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks und Dozent an der Universität Luzern (RPI) ist er seit 2021 Pastoralverantwortlicher im Bistum Basel.