«Der verletzliche Körper»

Am 2. November 2015 wurde an der Universität Freiburg ein vom Forschungs- und Lehrschwerpunkt «Alter, Ethik und Rechte» des interdisziplinären Instituts für Ethik und Menschenrechte organisiertes, internationales Kolloquium zum Thema «Der verletzliche Körper» abgehalten. Die Tagung, unterstützt vom Ethikzentrum, stand unter dem Zeichen des Dialogs zwischen verschiedenen Disziplinen und Denkansätzen und liess sowohl den Ethiker mit dem Anthropologen und den Soziologen wie den Theologen mit dem Archäologen und dem Philosophen in Diskussion treten.

Die Klausurtagung ermöglichte, Brücken zu schlagen zwischen der theoretischen Ebene und derjenigen der Praktiker, die mit der Verletzlichkeit des Körpers in einer sich durch einen Wettlauf nach Perfektion, Effizienz, einen makellosen und unverletzlichen Körper definierenden Gesellschaft konfrontiert sind.

Der Körper als Schwachpunkt

Der Körper des Kranken wie auch des Pflegenden steht im Zentrum zahlreicher medizinethischer Herausforderungen. Dies ist in einem Kontext umso wahrer, der den technischen Fortschritt im Pflegebereich feiert, der Kontrolle über das eigene Schicksal Vorschub leistet und dadurch eine immer grössere Körperbeherrschung erfordert. Je länger, je mehr wird der Körper als eine zu nutzende Materie, eine nach den eigenen Wünschen modellierbare Ressource dargestellt. Weit davon entfernt, als Gabe angesehen zu werden, wird der Körper zunehmend als Hindernis zur Erreichung des Möglichen und als Schwachpunkt des menschlichen Wesens betrachtet, der seine Produktivität und seine Selbstverwirklichung behindert. Bernard Schumacher, Lehr- und Forschungsrat in Philosophie an der Universität Freiburg, hob in seinem Referat «Verletzlicher Körper und menschlicher Vollbesitz» gewisse Aspekte dieser modernen Selbstüberschätzung hervor. Zeigt sich in der Tendenz zur stetig grösser werdenden Körperbeherrschung nicht die Angst vor dem Tod und der Wunsch nach ewiger Jugend? Die endlose Jagd nach Kontrolle und Autonomie ist jedoch nicht der einzig gangbare Weg. Ein anderer bestünde darin, den Sinn des menschlichen Körpers in unserer Gesellschaft neu zu definieren, indem dieser eher als Gabe und nicht als nutzbare Ressource betrachtet würde.

Dem wachsenden Wunsch nach Autonomie, die als Unabhängigkeit aufgefasst wird, eine Haltung entgegenzusetzen, die der Verfügbarkeit und Aufnahmefähigkeit, dem Loslassen absoluter Kontrolle sowohl auf der Ebene des Körpers wie des Willens und der Vernunft Raum lässt, ist vielleicht die wünschenswerteste Lösung, die sich jedem Menschen und besonders Personen in einer verletzlichen Situation bietet.

Der zwiespältige Körper

Der vorherrschenden Auffassung, den Körper dank der Technik als nutz- und modellierbare Ressource wahrzunehmen, liegt vielleicht eine dem Körper eigene Zwiespältigkeit zu Grunde. Diesen Ansatz erläuterte Stéphanie Perruchoud, Philosophin an der internationalen Universität Katalonien, ausgehend von Gedanken über den französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty, in ihrem Vortrag «Der Körper im 20. Jahrhundert: ein geschundenes Prinzip». Als Quelle von Möglichkeiten ist der Körper durch seine Verankerung in der Welt zugleich auch Quelle von Unmöglichkeiten und dadurch das Objekt, dessen Grenzen man hinauszuschieben versucht. Im 20. Jahrhundert wurde man sich jedoch dieser Ambiguität bewusst, und es wurde die traditionelle Unterteilung zwischen Geist einerseits und Körper als zu nutzende Ressource andererseits in Frage gestellt. Davon zeugt das von Merleau-Ponty erarbeitete Konzept des Leibes.

Der Philosoph hebt hervor: «Unser Jahrhundert hat sich der Trennung des ‹Körpers› und des ‹Geistes› entledigt und sieht nun das menschliche Leben als durch und durch spirituell und zugleich körperlich an (…). Ende des 19. Jahrhunderts war der Körper für viele Denker ein Stück Materie, eine Anhäufung von Mechanismen. Das 20. Jahrhundert hat den Begriff des Leibes, d. h. des lebendigen Körpers wiederhergestellt und vertieft.»1

Diese Erkenntnis bleibt jedoch bruchstückhaft, was Laurent Denizeau, Dozent für Anthropologie an der katholischen Universität in Lyon, in seinem Vortrag «Den leidenden Körper denken» aufzeigte. Er stellte sich Fragen über die Begriffsauffassung der in der aktuellen Debatte in Mode gekommenen «Verletzlichkeit». Es ist sehr ungewiss, ob die eindringliche Betonung der Verletzlichkeit auch eine Akzeptanz ihrer selbst hervorruft. Im Gegenteil, sie wird oft als Schwäche dargestellt, die es zu beseitigen gilt.

Tatsächlich wird die Verletzlichkeit nicht im Entferntesten in einem Sinnhorizont angegangen, der die Frage nach der menschlichen Endlichkeit und dem im Wesentlichen tragischen Charakter des Lebenden stellen würde. Sie wird vor allem in einem Tathorizont verstanden und ist weiterhin der traditionellen Auffassung der «guten Behandlung», des Respekts und der Verantwortung verpflichtet. Das Hirngespinst der wissenschaftlich-technischen Beherrschung des menschlichen Lebens wird nicht genügend in Frage gestellt.

Verletzlichkeit im Altertum

In antiken Kulturen erfährt man jedoch, dass gewisse kulturelle Formen der Verletzlichkeit des Körpers durchaus einen wichtigen Platz einräumen. In ihrem Vortrag «Amulette und Verletzlichkeit» analysierte Véronique Dasen, Professorin für klassische Archäologie an der Universität Freiburg, die Rolle der Amulette in der römischen Kaiserzeit. Sie vertritt die Ansicht, dass diese eine visuelle und materielle Aussage über die Verletzlichkeit des Körpers beinhalten. Aus kostbaren Materialien wie Gold oder gravierten Edelsteinen oder aus bescheideneren wie Tierzähnen gefertigt, waren diese Steine vor allem für die verletzlichsten Glieder der Gesellschaft, für Frauen und Kinder, bestimmt.

Altwerden als Reifung, nicht als Zerfall

Zusätzlich zu einer erneuten Überprüfung des Konzepts der Verletzlichkeit würde in unserer Gesellschaft eine neue Definition des Körpersinns auch einen Wandel in der Darstellung des Alters nach sich ziehen. Marie-Jo Thiel, Professorin für Ethik und Theologie an der Universität Strassburg, legte in ihrem Referat «Was tun mit meiner Verletzlichkeit?» dar, dass die Darstellungen unserer Gesellschaft durch die Anti-Aging-Kultur, die Prophezeiungen auf eine baldige «Altenschwemme» und die zukünftige «Alzheimer-Epidemie» für alte Menschen eher niederschmetternd sind. Auch hinter dem scheinbar wohlwollend gemeinten Konzept des «guten Altwerdens» versteckt sich in Wirklichkeit eine Norm (Gesundheit, Energie, Effizienz), die für viele alte Menschen schwer zu erreichen ist. Dieser soziale Druck bedeutet eine zusätzliche Belastung für alternde Menschen, die durch eine im Alter zunehmende Verletzlichkeit in ihrer Existenz ohnehin auf eine harte Probe gestellt werden. Es ist deshalb unbedingt notwendig, das kollektive Bewusstsein zu verändern und sich in Erinnerung zu rufen, dass das Altwerden ebenso eine Zeit der Reifung und im Bewusstwerden der eigenen Endlichkeit eine Besinnung auf das Wesentliche mit sich bringen kann. Es ist ebenfalls ein «hermeneutischer (erklärender) Zeitpunkt», in dem das Individuum sein Leben in seiner Gesamtheit interpretiert, manchmal auch eine Zeit des «geistlichen Erwachens» und schliesslich eine Erfahrung der Annäherung zu anderen verletzlichen Wesen.

Beziehung durch Berührung

In der Tat bleibt der verletzliche Körper die alles entscheidende Bedingung einer echten Beziehung mit einem menschlichen Wesen. Pierre-Yves Meyer, Philosoph an der Universität Freiburg, führte in seinem Vortrag «Tolstoi, Levinas und der verletzliche Körper» anhand einer Analyse von «Der Tod des Iwan Iljitsch» aus, dass der Körper das alles beherrschende Thema einer Pflegebeziehung ist: einerseits charakterisiert sich eine echte Pflegebeziehung durch eine Akzeptanz des Körpers, die im Berühren gipfelt, und andererseits ist der Körper des Pflegepersonals selbstaufopfernder Grundbestandteil dieser Beziehung. Bei Emmanuel Levinas, dem französischen Philosophen, «ist der Körper die Grundbedingung des Gebens mit allem, was das Geben kostet».2 Ein körperloses Erbarmen ist demzufolge ein Widerspruch in sich.

Gleich zur Eröffnung der Tagung wies Thierry Collaud, Professor für Moraltheologie an der Universität Freiburg, in seinem Vortrag «Seinen Körper auf Gedeih und Verderb riskieren» darauf hin, dass der Körper der Ort der risikobehafteten Exponiertheit des menschlichen Wesens in der Welt ist. Körpersein bedeutet das Ausgesetztsein einer möglichen Begegnung, einer Begegnung mit weichen oder verletzenden Objekten, aber auch einer Begegnung mit anderen menschlichen Wesen, die das Risiko eines Bisses oder die Chance einer Liebkosung in sich bergen. Der französische Philosoph Emmanuel Mounier fasst dies folgendermassen zusammen: «‹Ich existiere subjektiv, ich existiere körperlich› ist eine einzige und gleiche Erfahrung. Ich kann nicht denken, ohne zu sein, und nicht sein ohne meinen Körper: Durch ihn bin ich mir selbst, der Welt, anderen gegenüber ausgesetzt, durch ihn entfliehe ich einem Gedanken, der nur Gedanke meines Gedanken wäre.»3 Thierry Collaud schloss seinen Vortrag mit einem Überblick über das Schaffen Msgr. Oscar Romeros am Ende der siebziger Jahre in San Salvador, das aufzeigt, wie die Exponiertheit des Körpers die Möglichkeit erlaubt, dass andere sich verbinden und zu einem Ganzen, zu einer Körperschaft finden.

Der Blickwinkel des Mangels

Welchen konkreten Inhalt soll demzufolge der Betreuung des verletzlichen Körpers verliehen werden? Dieser Frage ging Bertrand Quentin, Dozent für Philosophie an der Université de Paris-Est Marne-la-Vallée, in seinem Referat «Der verletzliche Körper: Wie ein Abenteuer im Land der Menschen» in Bezug auf die Pflege behinderter Personen nach. Ein zentrales Thema ist hier die Beanspruchung und Mobilisierung des Körpers der behinderten Menschen durch das Pflegepersonal, um sowohl deren physische wie psychische Fähigkeiten beibehalten zu können. In diesem Sinn müssen Alternativen zur Ruhigstellung gefunden werden. Das Beispiel aus Deutschland zeigt, dass es mögliche Lösungen gibt. Gleich wie für die alten Menschen stellt der Blick der Gesellschaft auf die behinderten Personen ein grösseres Problem dar: Die «egozentrierte Empathie» besteht darin, dass die behinderte Person aus der Warte der gesunden Person betrachtet wird, und führt zwangsläufig dazu, die Behinderung unter dem Blickwinkel des Mangels und des Unglücks anzusehen. Bertrand Quentin rief in Erinnerung, dass im Gegensatz zum Mangel, der objektiv feststellbar ist, die Behinderung von konkreten Situationen abhängt: So kann eine Person behindert oder nicht behindert sein, je nachdem, ob sie in einen normalen oder korrekt ausgerüsteten Bus einsteigen kann.

Eine Deutung der Alzheimer-Krankheit

Die durch Bertrand Quentin aufgezeigte Verbindung zwischen Körper, Geist, physischer und geistlicher Mobilisation fand ein Echo im Vortrag «Nachlassen im Altwerden: zwischen Rückzug und Verschwinden» von David Le Breton, Professor für Soziologie an der Universität Strassburg. Er interessierte sich für Menschen mit Alzheimer und entwickelte die Idee, dass die Alzheimer-Krankheit Personen betrifft, die «alles gegeben» haben und die sich sanft aus dem sozialen Verbund zurückziehen, ohne den Tod zu wählen. In diesem Fall wird beim alten Menschen «ein Wille, die Anstrengung, zu leben nicht mehr weiterzutreiben» festgestellt.

Er will nicht sterben, er will einfach seine Existenz nicht verlängern und nimmt durch die geistige Beschränkung Abschied von seinem Engagement in der Welt. Die Alzheimer-Krankheit erweist sich so als «radikale Form» der «nachlassenden Anbindung an die Aussenwelt». Wie soll nun aber das engere Umfeld eine solche Entfremdung begleiten? Und auch hier ist die Betreuung des verletzlichen Körpers ausschlaggebend: «Die Abwesenheit jeglicher sozialer Anerkennung in den Einrichtungen, wo die Person betreut wird, führt zur Verfinsterung des Gesichts (…). Der Angehörige oder der Pflegende jedoch, der vor diesem Gesicht Halt macht und es in seiner ganzen Menschlichkeit erfasst, knüpft wieder an seine Zugehörigkeit zum sozialen Verbund an.»

Über die Müdigkeit

Trotz der berechtigten Überlegungen zur Betreuung des verletzlichen Körpers des Kranken ist es schliesslich wichtig, ebenso den verletzlichen Körper des Pflegenden zu berücksichtigen. Eric Fiat, Professor für Philosophie an der Université de Paris-Est Marne-la-Vallée, erläuterte in seinem Beitrag «Abtauchen von Körper und Geist: Gedanken über die Müdigkeit», dass die ethischen Vorschriften sich allzu oft an ein körperloses Subjekt wenden, das keine Müdigkeit kennt.

Im Gegensatz zu Lastern, die sich leicht eingrenzen lassen, hüllt die Müdigkeit das Individuum von allen Seiten ein und kann nicht wirklich bekämpft werden – ausser, man mache sich noch müder. Man sollte also darauf verzichten, der Müdigkeit mit der Bildsprache des Kampfes die Stirn zu bieten, und sie viel eher als Gelegenheit für den Pflegenden wahrnehmen, seine eigene Verletzlichkeit anzunehmen und externe Hilfe anzufordern.

Wie über Verletzlichkeit denken?

Die an dieser Tagung angebotene, zwischen theoretischem Ansatz und praktischer Erfahrung angesiedelten interdisziplinären Überlegungen ermöglichten die Betonung hauptsächlich auf zwei voneinander untrennbare Aspekte des verletzlichen Körpers. Einerseits führt das Ernstnehmen der Verletzlichkeit des Körpers dazu, das menschliche Wesen in seiner existenziellen Passivität in Betracht zu ziehen. Sich dessen bewusst zu werden, führt dazu, das Hirngespinst der wissenschaftlich-technischen Kontrolle über das menschliche Schicksal in Frage zu stellen, aber auch, das traditionelle ethische Paradigma der Tat zu durchbrechen. Die Hauptproblematik der Verletzlichkeit spielt sich vor allem in einem Sinn-oder Vorstellungshorizont ab.

Die Erfahrung der Verletzlichkeit des anderen, die als unüberwindbare Passivität begriffen wird, muss letztlich dahin führen, weniger darüber nachzudenken: «Was tun, um diese Verletzlichkeit zu überwinden?» als vielmehr der Frage nachzugehen: «Was sagt die Verletzlichkeit über den Menschen im Allgemeinen aus?» Wie kann ich im Speziellen meine Vorstellungen ändern, damit das Altwerden oder die Behinderung nicht mehr als Fluch wahrgenommen werden? Wie soll ich über die Verletzlichkeit denken, damit sie nicht mehr als lebensverneinend, sondern als ein Ausdruck des Lebens wahrgenommen wird?

Antworten und neue Fragen

Andererseits zeigte das Kolloquium das Verhältnis zwischen verletzlichem Körper und menschlicher Beziehung, besonders in der Pflege, auf. Der verletzliche Körper ist der Ort, an dem man dem Leiden, aber auch anderen gegenüber ausgeliefert ist. Daher bestimmt der verletzliche Körper jede echte Beziehung, sowohl vonseiten der leidenden wie der pflegenden Person (die sich nicht zuletzt der Müdigkeit aussetzt). Deshalb geht eine echte Pflegebeziehung mit einer Betreuung des Körpers in allen seinen Belangen einher. Dies erklärt, wie wichtig die Mobilisierung der körperlichen Funktionen und die Beachtung der physischen Bedürfnisse der verletzlichen Person sind. Und so rufen die an der Tagung gegebenen Antworten neue Fragen hervor: Tatsächlich können die Grenzen der Übernahme der Verantwortung für andere in einem für das Pflegepersonal einengenden Umfeld hinterfragt werden. Man kann sich ebenfalls fragen, welche körperlichen Dimensionen bei der leidenden Person in Betracht gezogen werden sollten, und nicht zuletzt, unter welchen Rahmenbedingungen die Sexualität einer verletzlichen Person in einen pflegerischen Rahmen einbezogen werden kann. 

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Die Zwischentitel sind von der SKZ-Redaktion gesetzt, die Übersetzung aus dem französischen Originaltext besorgte Barbara Marti (Basel).

 

 

1 Maurice Merleau-Ponty: L’homme et l’adversité, in: Maurice Merleau-Ponty: Signes Paris 1960, 284 ff.

2 Emmanuel Levinas: Dieu, la Mort et le Temps. Paris 1993, 216.

3 Emmanuel Mounier: Le personnalisme. Paris 1949, 25.

Bernard Schumacher

Bernard Schumacher

PD Dr. Bernard Schumacher ist Lehr- und Forschungsrat am Departement für Glaubens- und Religionswissenschaft sowie Philosophie der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg i. Ü.