Der universale Heilswille Gottes als bleibende Herausforderung für gelebte Religionsfreiheit

Die Visionen eines eschatologischen Fest- bzw. Hochzeitsmahls für alle Völker und Menschen prägen den 28. Sonntag im Jahreskreis. Nicht nur der darin zum Ausdruck kommende universale Heilswille Gottes, sondern auch sein nicht eingrenzbares Heilswirken provozieren unweigerlich all diejenigen, die (ihre) Religion bzw. Konfession nur exklusivistisch denken können. Die römisch-katholische Kirche hat diesbezüglich einen Lernprozess durchlaufen, der es ihr ermöglicht, in aller Demut und Entschiedenheit für das einzutreten, was dank der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils «Dignitatis Humanae» (DiH) ein nicht mehr hintergehbarer Teil ihres Selbstverständnisses geworden ist: die Religionsfreiheit.

1. Was in Fribourg begann …

«Es ist ein Hauptbestandteil der katholischen Lehre, in Gottes Wort enthalten und von den Vätern ständig verkündet, dass der Mensch freiwillig durch seinen Glauben Gott antworten soll (…). Es entspricht also völlig der Wesensart des Glaubens, dass in religiösen Dingen jede Art von Zwang vonseiten der Menschen ausgeschlossen ist» (DiH 10). Diese Sätze, erstritten und errungen in einem fünfjährigen Lern- und Reflexionsprozess, fanden Eingang in die Erklärung «Dignitatis Humanae» (DiH), die am 7. Dezember 1965 von Papst Paul VI. feierlich verkündet wurde. Ihr vorausgegangen waren sechs Textfassungen, deren Reflexionsgrundlage am 27. Dezember 1960 von einer Arbeitsgruppe im bischöflichen Palais in Fribourg erarbeitet worden war. Diese Fribourger Reflexionsgrundlage stellte die Weichen für das katholische Verständnis von Religionsfreiheit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil.

2. … hat eine lange Vorgeschichte

Die Vorgeschichte der Verhältnisbestimmung «Kirche und Religionsfreiheit» kann nicht anders als ausserordentlich schmerzlich bezeichnet werden. Sie ist geprägt von der Suche der Kirche nach ihrem Verhältnis zur Welt, zu den politischen Gemeinschaften, zu anderen Religionen, Konfessionen und Philosophien sowie zu den individuellen (Freiheits-)Rechten – vor allem dem Recht auf Gewissensfreiheit. Bei diesen leidvollen Suchprozessen war und ist die Kirche (leider immer noch) Opfer und Täterin. Auf kirchengeschichtliche Einzelheiten kann und muss hier verzichtet werden. Bis in unsere Gegenwart hinein kennen wir für das eine wie für das andere genügend Beispiele. Unbestreitbar jedoch ist, dass mit DiH die Kirche einen nicht mehr hintergehbaren «Wendepunkt» in Sachen Religionsfreiheit eingeleitet hat. In diesem Sinn stimmt, was 1965 der italienische Journalist Vittorio Gorresio in seinem Beitrag vom 9. Dezember in der Turiner Zeitung «La Stampa» meinte, dass nämlich DiH «einen echten Fortschritt in der Lehre» der katholischen Kirche darstelle, «vielleicht den grössten und charakteristischsten, den das Konzil gemacht hat».1

3. … erwächst einem (neuen) kirchlichen Geschichtsbewusstein

Der in DiH vollzogene Wendepunkt findet sich schon angezeigt in dem, was Papst Johannes XXIII. in seiner Eröffnungsrede zum Zweiten Vatikanischen Konzil über die Geschichte als ideologiekritische «Lehrmeisterin des Lebens» meinte. Was der Mensch über sich, seinen Glauben, seine Würde und seine Erwartungen anderen gegenüber sagen kann, fällt nicht einfach vom Himmel, sondern generiert sich schrittweise in und aus den Reflexions-und Lernprozessen seiner menschlichen Erfahrungsgeschichten. Im Lichte dieses (heils-) geschichtlichen Offenbarungsverständnisses kann die Pastoralkonstitution «Gaudium et Spes» über die kirchlichen Reflexions- und Lernprozesse sagen: «Wie es aber im Interesse der Welt liegt, die Kirche als gesellschaftliche Wirklichkeit der Geschichte und als deren Ferment anzuerkennen, so ist sich die Kirche auch darüber im Klaren, wieviel sie selbst der Geschichte und Entwicklung der Menschheit verdankt. Die Erfahrung der geschichtlichen Vergangenheit, der Fortschritt der Wissenschaften, die Reichtümer, die in den verschiedenen Formen der menschlichen Kultur liegen, durch die die Menschennatur immer klarer zur Erscheinung kommt und neue Wege zur Wahrheit aufgetan werden, gereichen auch der Kirche zum Vorteil» (GS 44).

4. … gründet in der Würde der menschlichen Person

Es ist diese sich in der Geschichte vollziehende Wahrheitssuche und Wahrheitsfindung, die immer wieder die Bedeutung und die Brisanz der Religionsfreiheit für die Kirche ausmacht. Denn diese wird dem Menschen nicht von aussen zugesprochen, sondern sie kommt ihm seinem Wesen nach unverlierbar zu. Anders gesagt: Nicht nur im Sinne der Aufklärung, sondern auch und gerade im Lichte der christlichen Offenbarung darf sich der Mensch als ein Wesen verstehen, das sich – mit Vernunft und freiem Willen ausgestattet – zur Verantwortung einer Lebenspraxis befreit erfahren darf, nach der Wahrheit (seines Lebens) zu suchen und seine Lebenspraxis gemäss der Wahrheit in Freiheit auszurichten. Diese unverlierbare Freiheit ist dem Menschen so innerlich und nicht stellvertretbar, dass sie als Freiheit des Gewissens zu bezeichnen ist und als Rechtsanspruch – auch und gerade in religiösen Fragen – weder von einer politischen noch von einer religiösen Instanz missachtet oder subversiert werden darf.

5. … verdichtet sich in der «Pastoral Jesu» (Christoph Theobald)

 Die Täterschaft der Kirche im Hintergrund gestaltet sich die Frage der praktischen Verhältnisbestimmung von «Religionsfreiheit und Kirche» immer wieder als schwierig. Sie kann letztlich nicht anders angegangen werden, wie es in DiH 11 geschehen ist – nämlich auf dem Hintergrund einer narrativen, heilsgeschichtlichen Rückbindung an die Praxis Jesu, die keinen Menschen zu etwas zwingt. Anders gesagt: In der zwangsfreien «Pastoral Jesu» verdichtet und exegetisiert sich all das, was den innersten Freiheitscharakter der Gott-Mensch-Beziehung ausmacht, wonach Gott «die Menschen zu seinem Dienst im Geiste und in der Wahrheit» ruft, «und sie werden deshalb durch diesen Ruf im Gewissen verpflichtet, aber nicht gezwungen. Denn er nimmt Rücksicht auf die Würde der von ihm geschaffenen menschlichen Person, die nach eigener Entscheidung in Freiheit leben soll» (DiH 11). Es ist diese zwang-und zweckfreie «Pastoral Jesu», die der Kirche immer wieder bewusst machen will, dass eine gelebte Religionsfreiheit jeden Menschen als Adressaten des Evangeliums Gottes wahr- und ernst nimmt, d. h. als einen, der schon «‹im› Evangelium ist» (Joachim Ringleben). Anders gesagt: Es gilt, allen Menschen «Freiheit aus Glauben» und «Glauben in Freiheit» zu ermöglichen.

6. … sollte stilbildend für die «Pastoral der Kirche» sein

 Unter den Vorzeichen dieses positiven Verständnisses von Religionsfreiheit impliziert eine «Pastoral der Kirche» aus der «Pastoral Jesu» nicht nur den grundsätzlichen Verzicht auf (pastoralen) Zwang, sondern ebenso den Verzicht auf eine institutionelle Verzweckung Gottes und der Menschen. Für das missionarische Selbstverständnis der Kirche ist das in der Tat stilbildend. Denn es bedeutet, dass an die Stelle einer «missionarischen Eroberungshaltung» eine «missionarische Entdeckungshaltung» (Michael Gabel) tritt, für die Dialog, Toleranz und gelebte Pluralität Wesenseigenschaften und keine pastoralen Attitüden sind. Nur aus dieser pastoralen Grundhaltung heraus kann sie sich auch überzeugend für ein positives Verständnis von Religionsfreiheit und die öffentliche Präsenz von Religion(en) einsetzen. Dabei muss sie sich frei machen von der Angst, dass eine solche Praxis den Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens relativiert. Im zwang- und zweckfreien Einsatz für Religionsfreiheit trägt sie vielmehr dem Rechnung, was sie selbst glaubt: dass nämlich alle Gottespräsenz und Gottesbegegnung sich der Freiheit Gottes selbst verdankt – und welcher Mensch vermag auf dem Hintergrund der Lesungen des 28. Sonntags sich anzumassen, diese Freiheit Gottes einzuschränken?

1 Zitiert nach Pietro Pavan: Einleitung und Kommentar zur Erklärung über die Religionsfreiheit, in: LThK Erg.-Bd. II 21968, 703–711, hier 711.

Salvatore Loiero

Salvatore Loiero

Dr. theol. habil. Salvatore Loiero ist Professor des deutschsprachigen Lehrstuhls für Pastoraltheologie, Religionspädagogik und Homiletik an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg i. Ü.