Albino Lucianis Weg zum Martyrium Johannes Pauls I.

Johannes Paul I.

Die fünf offenen Stunden des Todes von Johannes Paul I. zwischen 22 Uhr und drei Uhr in der Früh vom 28. auf den 29. September 1978 fordern uns seit 16 Jahren einmal mehr zur Nachtwache heraus. Ein Blickfang mag genügen, um über 712 Jahre hinweg Erstaunliches zu entdecken: Das vom Florentiner Maler Cimabue, eigentlich Cermi di Pepe, vermutlich zu Beginn des 13. Jahrhunderts gemalte Bild zeigt Franz von Assisi – mit dem einen Auge lächelnd und dem andern eher traurig – genau so, wie dies aus einer sehr seltenen Fotografie von Albino Luciani – dem zweiten der drei Päpste des Jahres 1978, nur 33 Tage im Amt – herausgelesen werden kann. Wurde Johannes Paul I. auch bald für alle, die ihn oberflächlich kennen lernten oder auch nur von den Medien her kannten, weltweit als «der lächelnde Papst» bezeichnet, so zeigt dieses eine – sehr seltene Bild – einen völlig andersartigen Papst. Wobei freilich die erhebliche Gefahr besteht, dass man etwas hineinprojiziert, das von andern nicht wahrgenommen wird. Doch selbst in dieser vielleicht täuschenden Hinsicht sagen beide Bilder – das uralte Gemälde (in Assisi zu sehen) und die Fotografie des nur 33 Tage währenden Pontifikates – etwas Wichtiges aus: Johannes Paul I. sträubte sich – so gut er konnte – gegen die Beförderung vom Patriarchen von Venedig zum Papst. Als Albino Luciani (was wenige wissen und was noch weniger bedacht wird), der bereits im dritten Urnengang weit über die erforderliche Zweidrittelmehrheit hinaus gewählt wurde, diese Wahl im ersten Anlauf nicht annahm, sagte er mit der ihm eigenen eindrücklichen journalistischen1 Ausdrucksweise: «Con questa pasta non potete fare un pane» («Aus diesem Mehl könnt ihr kein Brot backen»).

Diese anfängliche Nicht-Annahme der Wahl, die erst im vierten Wahlgang überwunden werden konnte, führt uns zurück ins Jahr 1935, genau zum 8. Juli 1935, als der Seminarist Albino Luciani gegen seine eigenen Bedenken – ermuntert durch seinen Beichtvater (vermutlich Don Caio) – angehalten wurde, trotz aller Bedenken mit der Priesterweihe die Verantwortung der Seelsorge auf sich zu laden.

Die ausgeprägte Bescheidenheit ebnete die Wahl gegen seinen Willen

Der lange Weg vom Seminaristen zum Seelsorger, zum Dorfpfarrer, zum stellvertretenden Seminardirektor, zum Bischof von Vittorio Veneto, zum Patriarchen von Venedig und schliesslich zum Bischof in Rom trägt den Stempel des Zweifels und des Verzichts. In der Tagebuchnotiz stehen die unmissverständlichen Sätze: «Ich sagte dem Beichtvater, dass ich mich nicht vorbereitet fühle, auch zu jung, um Priester zu werden. Er antwortete: ‹Mein Sohn, es ist Gott, der dich gerufen, der dich erwählt hat. Du kannst dich weder verweigern noch zurückziehen. Das Einzige, was du tun kannst, ist, ein Heiliger zu werden. Du musst nicht an die grossen Dinge, die dich erheben, denken. Sie sind Ausdruck der Eitelkeit …›»

 Albino Luciani gehorchte und mag es spätestens bereut haben, als er – einmal Priester – vom Patriarchen von Venedig, Angelo Giuseppe Roncalli, 1958 zum Bischof von Vittorio Veneto auserkoren wurde – trotz der Bedenken von Nahestehenden, Albino Luciani sei häufig krank, es sei ihm wohl als Vizeseminardirektor in Belluno. Nach seiner Art humorvoll und tiefgründig erklärte der Patriach: «Dann stirbt er halt als Bischof.» Der kurz nachher zum Pontifex erkürte Johannes XXIII. spürte über den tiefgründigen Humor hinaus die grosse Bescheidenheit Albino Lucianis.

Desgleichen wusste Paul VI. genau, was er elf Jahre später tat, als er auf Bedenken des Bischofs von Vittorio Veneto, von seiner Wahl zum Patriarchen abzusehen mit der Begründung «Meine Stimme wird immer schwächer, und mit der Gesundheit ist es nicht gut bestellt», erwiderte: «Was die Stimme betrifft, haben wir Mikrofone, und die Gesundheit überlassen wir einer höheren Macht.» Nicht von ungefähr tat Paul VI. bei seinem Besuch in Venedig etwas, das er nie zuvor, in keiner anderen «Kardinalstadt», je getan hatte: Vor allen auf dem Markusplatz Versammelten legte er Albino Luciani die päpstliche Stola um dessen Schultern. «Was tun Sie da, Heiliger Vater?», sagte der Patriarch von Venedig, «rot im Gesicht» vor Scham. «Ich weiss genau, was ich tue.» Diese besondere Auszeichnung mag neun Jahre später – am 25. August 1978 – bei der Wahl Albino Lucianis zum Oberhaupt der katholischen Kirche bereits im dritten,2 nicht erst im vierten Wahlgang für die Kardinäle eine gewisse Rolle gespielt haben. Sie spürten: Der Bescheidenste unter uns muss zum Oberhaupt der von allen Seiten her schwer bedrängten Kirche erkoren werden.

Der Letzte wurde der Erste gegen seinen Willen

Seltsam: Sozusagen alles im Leben, vor allem auch im Sterben Albino Lucianis/Johannes Pauls I. – angefangen von dem im Ersten Weltkrieg erlittenen Hunger über sein Verbleiben-Können im Priesterseminar dank Don Caio,3 wahrscheinlich seinem Beichtvater, die Widerstände gegen seine Wahl als Seelsorger, Bischof, Kardinal und Papst und die fünf offenen Stunden vor seinem Tod am 28. oder 29. September 1978 entzieht sich der Erklärung, gar der Feststellung. Der Vatikan vertraute den Ärzten und nimmt an, der Vorvorvorgänger von Papst Franziskus sei kurz vor Mitternacht gestorben. Niemand kann aber bestreiten, dass er mit den «kruden» Worten der Nachmittagszeitung «Paese sera» einsam und verlassen wie ein Hund diese Welt verlassen musste, während die meisten andern Päpste umgeben von ihren Familienmitgliedern und höchsten Würdenträgern diese verlassen konnten.

Ausgerechnet dieses Römer Blatt war es denn auch, das – wohlverstanden zwei Tage vor dem Heimgang Johannes Pauls I. mit den Worten des Vatikanisten Lillo Spadini – auf die besonderen Nöte dieses Papstes aus den Bergen4 hingewiesen hat: «Er wollte den Papstberuf so schnell wie möglich erlernen, aber sozusagen niemand präsentiert ihm die Probleme auf zutreffende und selbstlose Weise. Meistens hört er schlecht reden über alles und alle …». Zusammengefasst wäre die Lage mehr oder weniger folgende: Papst Luciani ist nicht gewillt, sich den ehemaligen Ministern von Montini blind anzuvertrauen.

Der Bischof von Belluno hat mir während des letzten Besuches des grossen «Centro spirituale Papa Luciani» in Santa Giustina unweit von Belluno erzählt: «Ich wurde von ihm zum Mittagessen eingeladen. Nicht von ungefähr gegen Ende der Mahlzeit betraten Vertreter des Staatssekretariats das Zimmer und wünschten die Zustimmung des Papstes für einen bestimmten Text. ‹Nein, ich will das genauso, wie ich es gewünscht habe, veröffentlicht sehen.›» Diese Episode zeigte mir, wie Johannes Paul I. sehr resolut sein konnte.

Seltsam: Ende der 1980er-Jahre las ich in einer Luzerner Zeitung – vermutlich im «Vaterland» – eine mit Kurt Koch unterzeichnete Kolumne. Sie gefiel mir so gut, dass ich dem «Herrn wer auch immer» meine Zustimmung mitteilte. Dessen Reaktion war für mein ganzes Leben folgenschwer, denn der Herr Koch entpuppte sich als Professor, Dozent an der Theologischen Fakultät in Luzern. Er hatte mein Büchlein «Im Namen des Teufels?», Antwort auf Yallops Bestseller «Im Namen Gottes?» (in der englischen Erstausgabe ohne Fragezeichen!) gelesen und lud mich für eine Vorlesung über Johannes Paul I. ein.

Johannes Paul der Erste – eine franziskanische Papstgestalt

Nach dem Rücktritt Benedikt XVI. wünschte ich mir einen dritten Johannes-Paulus-Papst. Hatten sich die beiden Namensvorgänger – gut befreundet miteinander bereits als Kardinäle – nicht auf geradezu wunderbare Weise ergänzt? Der eine lediglich berufen, in 33 Tagen ein grosses Zeichen der Bescheidenheit und Liebe in gelassener Heiterkeit zu setzen, sein Nachfolger dann aber der zähe Wegbereiter zur friedlichen Beilegung des Kalten Krieges zwischen dem Westen und dem Osten zu werden?5 Als hätte sich auf diese Weise die göttliche Vorsehung erfüllen können?

Als Nachfolger des bereits dem Namen nach kraftvollen Karol Wojtyla aus Polen wünschte ich mir gleichsam eine Synthese zwischen der gleichzeitig auf Bescheidenheit und Durchschlagskraft bedachten, vielleicht nur auf diese Weise sich durchsetzenden, mehr als nur überlebenden katholischen Kirche.

Papst Franziskus – die Offenbarung

Noch erfreuter war ich aus naheliegenden Gründen über den Namen des neuen Papstes seit 18 Monaten – ausgerechnet Franziskus, so wie ich Albino Luciani/Johannes Paul I. als Menschen und als Papst empfand, empfinden durfte. Vielleicht darf der nächste Papst Johannes Paul III. heissen, was vielen Gläubigen und Nichtgläubigen zu denken gäbe, wer denn eigentlich der erste Johannes Paulus, der erste Papst mit einem Doppelnamen seit dem Apostel Petrus, gewesen ist. Einer, über den ich zur Eröffnung der Feierlichkeiten zum 60. Geburtstag von Bischof Kurt Koch zum Thema «Johannes Paul I. – Lichtgestalt des 20. Jahrhunderts und Wegbereiter für das dritte Jahrtausend nach Christus» sprechen durfte. Da schloss sich für mich, vielleicht auch für andere, der Kreis eines göttlichen Heilsplanes gleichsam hinter den Kulissen der sich stets verändernden, hoffentlich nicht tragisch endenden Weltgeschichte.

… und eine Hoffnung

Das Votum in der Römischen Bischofssynode vor der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils 1962–1965 unter Johannes XXIII.: «So lange ein Mensch auf dieser Erde verhungert, hat kein anderer – am wenigsten ein Christ – das Recht auf Luxus», bringt vielleicht mehr Menschen zur Besinnung, die Not der andern als ihre eigene Not zu empfinden … empfinden zu müssen, weil Institutionen geschaffen werden, die uns Menschen nötigen, sich nicht mehr länger nur als Staatsbürger, Angehörige einer bestimmten Rasse oder Klasse, Religionsgemeinschaft im Gegensatz zu einer andern Religionsgemeinschaft, sondern als wirklich grundsätzlich gleich berechtigten Teil der Menschheit zu begreifen und ergreifen zu lassen. Das von unseren Vorvorvorvätern vollzogene oder geschenkte Mensch-Sein hat sich noch nicht zum Menschheits-Sein entwickelt. Dieser wirkliche Fort-Schritt steht uns noch bevor, dürfte aber viel mehr, als die meisten wenigstens impliziter glauben, mindestens in Sichtweite vorhanden sein.

1 In der ersten und einzigen Audienz betrat Johannes Paul I. mit Ministranten und irgendwelchen Monsignori den Saal und – kaum auf seinem erhöhten Sitzplatz – erzählte uns Vatikanisten und Korrespondenten aus aller Welt, am allerliebsten wäre er Journalist geworden, doch dann sei etwas dazwischengekommen. Bei der Beschreibung eines Menschen sollten wir auf das Wesentliche achten, nicht auf die Grösse der Schuhe und die Farbe der Strümpfe. Zufällig – wenn es in den wichtigen Angelegenheiten eines Lebens einen Zufall gibt – hatte ich zuvor in einer venezianischen Zeitung gelesen, dass der Papst dieses Beispiel nicht von ungefähr wählte. Es bezog sich auf eine wahre Begebenheit. Ein Journalist spottete über die abgetragenen viel zu grossen Schuhe, «wie Gondole», und die unterschiedliche Farbe der Strümpfe von Albino Luciani, als dieser erstmals als Patriarch von Venedig in die Sankt-Markus-Kirche einzog. Davon sagte der Papst in der Audienz kein einziges Wort. Für mich war es ein weiteres Beispiel, wie der auch bei andern Gelegenheiten völlig aus dem Rahmen fallende Papst («Gott ist Vater, mehr noch ist er Mutter») scheinbar nebenbei etwas Wichtiges verständnisvoll, nicht kritisch-verurteilend erklärte, eine seiner vielen wichtigen Botschaften während bloss 33 Tagen!

2 Mit von vielen zuverlässigen Quellen bestätigten 100 von 111 Stimmen besser als die meisten seiner Vorgänger, was uns die Memoiren des ehemaligen Kurienkardinals Jacques Martin (vgl. «Mes six papes, souvenirs romains», Edition MEME, Paris 1993, 210 ff.) offenbaren. Damit war Johannes Paul I. der seit Jahrhunderten am schnellsten gewählte Papst (ausser den zuvor mit Akklamation Erkürten).

Im vierten Urnengang der Purpurträger gab es nur eine einzige Gegenstimme, nämlich seine eigene, die er dem brasilianischen Kardinal und Freund Aloisio Lorscheider schenkte. Er verhielt sich also umgekehrt als Konrad Adenauer, der zugegebenerweise mit seiner eigenen Stimme die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten gewann. Daraufhin angesprochen, das sei doch nicht sehr elegant gewesen, erklärte der schlagfertige Kanzler der Bundesrepublik: «Der Beste musste gewählt werden!»

3 Musste der ehemalige Seminardirektor 104 Jahre alt werden, um es dem wohl ersten Biografen Alois von Euw, dem Dorfpfarrer von Morschach, im Buch «Mit den Bergschuhen geht man nicht in den Vatikan» (Rex Verlag Luzern 1979) mitteilen zu können? Dies gehört zu den vielen offenen geheimnisvollen Fragen im Zusammenhang mit dem Leben und Tod des Papstes aus den Dolomiten.

4 Genau aus Canale d’Agordo, heute ein immer noch von vielen, die Albino Luciani kannten, besuchter Wallfahrtsort! Wie auch das Haus in der Nähe der Pfarrkirche, wo Albino Luciani am 17. Oktober 1932 das Licht der Welt erblickte. Einer von vielen im Veneto Angesprochenen, wie sie

damit umgehen, dass ihr Papst bis jetzt nicht selig-gesprochen worden ist, erklärte mir: «Für uns war er schon zu Lebzeiten ein Heiliger.»

5 Wobei ich keineswegs andeuten möchte, Karol Wojtyla sei als Mensch seinerseits nicht rücksichtsvoll und bescheiden gewesen. Im Gegenteil: Er zeigte als «Autostöppler» grösste Zuvorkommenheit: Als ich für das Fotobuch von Fred Mayer und zahlreiche Vatikanisten in der Città del Vaticano ein- und ausfuhr – stets unbehelligt von den Schweizergardisten – sah ich von der Arco-delle-Campane- Pforte einen vermeintlichen Monsignore – schwarz gekleidet ohne Insignien auf der Strasse gehen. Ich fragte ihn, ob ich ihn irgendwo hinführen könne. «Ja, sehr gerne, doch Sie müssen sicherlich nicht dorthin fahren, wohin ich möchte.» – «Ja, wohin denn?», wollte ich wissen. «In die Nähe der Via Veneto.» Da beging ich die lässlichste Sünde meines Lebens. Genau dort müsste ich hin, was gar nicht zutraf. Wir kamen in den Römer Stau. Voller Rotlichter, die zum Glück allesamt unbeachtet blieben. «Sehen Sie, Monsignore, die laufenden Übertretungen sind sehr vernünftig, sonst würde der Verkehr total zusammenbrechen. Unmöglich in der Schweiz, doch typisch für Italien.» Da erklärte mir der vermeintliche Monsignore: «Genauso wie in Polen.» Ich antwortete: «Das kann ja gar nicht anders sein. Ich war zwar noch nie in Polen, weiss aber, dass es in jedem fast ausschliesslichen katholischen Land zwei Autoritäten gibt: die Kirche und den Staat. Wird man von der einen Instanz verfolgt, bietet die andere den erforderlichen Schutz.» «Was haben Sie denn studiert?», wollte er wissen. «Soziologie, genau Kultursoziologie. Ich war Schüler von Alfred Weber.» «Und ich», sagte mein Weggefährte, «studierte bei einem Schüler von Max Scheler.» Dieser vermeintliche Monsignore war der Kardinal von Krakau, Karol Wojtyla, der zwei Jahre später zum Papst gewählt wurde. Davon hatte ich keine Ahnung. Während der Fahrt zur Via Veneto lernte ich den vorvorletzten Papst als rücksichtsvollen, nicht nur auf seinen eigenen Vorteil bedachten, liebenswürdigen Menschen kennen, der nicht die wohlverdienten Insignien der Kardinäle zur Schau stellte und zwei Jahre später, nach seiner Wahl zum Pontifex, den ob seines fremdländischen wahrlich nicht italienisch klingenden Namens keineswegs Begeisterten auf dem Peterstuhl gleichsam zum Trost von der Loggia herunter erklärte: «Ich komme von weit her, doch als Bischof von Rom bin ich ein Römer.» Worauf die zuvor Unzufriedenen dem neuen Papst aus Polen, dem ersten ausländischen Papst nach vielen Jahrhunderten, einen tosenden Beifall spendeten. Was Rhetorik alles vermag – ein Glück für die lang anhaltende Menschheit, wenn sie für eine gute Sache eingesetzt wird. Die Weltgeschichte kennt noch andere, höchst verheerende Beispiele.

Victor J. Willi

Victor J. Willi

Der langjährige Rom-Korrespondent von Radio DRS und Journalist für viele Zeitungen beschäftigt sich auch nach seiner Pensionierung mit der katholischen Kirche und Zeitfragen