Der Oster-Engel

(Bild: Urs Winter)

Es ist kein kitschig-harmloser Engel, den die Künstlerin Silke Rehberg für einen zentralen Platz in der sächsischen Stadt Chemnitz geschaffen hat. Er steht auf einer glänzenden, mehr als acht Meter hohen Edelstahlsäule, wirkt dadurch unerreichbar und sakrosankt. In Körperbau, Gesichtsausdruck und Frisur bleiben männliche und weibliche Züge in der Schwebe. Mit klarem Gestus weist der eine, angehobene Arm auf die gegenüberliegende Schmalseite des Platzes, wo sich der Eingang zum Bürgerzentrum der Stadt befindet. Gekleidet ist der Engel nicht nach traditioneller Art in ein höfisches oder liturgisches Gewand. Die farblich dezent gefasste Bronzefigur trägt Alltagskleidung, einfaches Hemd und Arbeitshose. Dazu kontrastiert die Art, wie der Engel mit einem Fuss auf der Säule balanciert. Erst die goldbronzenen Flügel zeichnen ihn definitiv als Engel aus. In der darstellenden Kunst hat sich bekanntlich nicht die Bibel durchgesetzt, in der Engel praktisch immer flügellos geschildert werden, sondern die ikonographische Tradition der griechischen Siegesgöttin Nike bzw. der römischen Victoria, die als Flügelwesen dargestellt wurde. Das einzige Mal, wo im Neuen Testament ein am Himmel fliegender Engel erwähnt wird, verkündet dieser den Sieg der Gottesherrschaft über Babylon (Offb 14,6).

Der Oster-Engel bei Matthäus

Das überraschende Einbrechen von Rehbergs Engel in den Chemnitzer Stadtalltag erinnert an den Oster-Engel bei Matthäus. Gott setzt ein unmissverständliches Zeichen, indem er seinen Engel leibhaftig vom Himmel steigen lässt (Mt 28,1–8). Seine Erscheinung leuchtet wie ein Blitz, und sein Gewand ist weiss wie Schnee (vgl. die Beschreibung Jesu in der Verklärungsgeschichte Mt 17,2). Begleitet wird das engelhafte Geschehen von einem grossen Erdbeben. Die toragewohnten Hörerinnen und Hörer des Matthäus-Evangeliums wissen sofort: Jetzt tritt Gott in Aktion (vgl. Mt 27,51–53; Ez 37,7–14). Erzählt wird nicht die Auferweckung Jesu. Diese bleibt unbeschreiblich. Erzählt wird das Handeln Gottes an den Menschen, an den Wächtern am Grab und an den Frauen, die zum Grab kommen. Während die Wächter von der überraschenden Erscheinung des Engels förmlich gelähmt sind und die eigentliche Botschaft von der Auferweckung Jesu nicht mitbekommen, hilft der Zuspruch des Engels den Frauen, ihre Furcht zu überwinden. Sie folgen seiner Aufforderung, nicht in Jerusalem beim Grab zu bleiben, sondern nach Galiläa zu gehen, von wo sie kamen, wo aber auch das «Galiläa der Heiden» ist, zu denen die Botschaft ebenfalls gelangen soll. Dort sollen sie den Jüngern, die während der Passion Jesu kläglich versagt haben, verkünden: dass er auferweckt wurde und sie ihn dort «sehen» werden. Und während die Frauen bei Mk in Furcht und Entsetzen gebannt bleiben, gesellt sich bei Mt zur nach wie vor anhaltenden Furcht eine «grosse Freude ». Sie werden unter dem Eindruck der Botschaft des Engels zu den ersten «Evangelistinnen ».

«Sächsisches Manchester» und Karl-Marx-Stadt

Mit dieser Ostererzählung im Kopf lohnt es sich, nochmals zu Silke Rehbergs Engel und damit zur Stadt zurückzukehren, für die er geschaffen wurde. Chemnitz im Freistaat Sachsen war bereits im Mittelalter eine freie Reichsstadt. Sie wuchs im 18./19. Jahrhundert zu einem bedeutenden Zentrum der Textilindustrie heran. Bisweilen «sächsisches Manchester» genannt, war Chemnitz an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine der reichsten Städte Deutschlands. Nach der Zerstörung durch die Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg wurde die Innenstadt durch die DDR-Regierung in stark veränderter Form bebaut und 1953 in Karl-Marx- Stadt umbenannt. Als Industriestadt mit weiträumig angelegten Plattenbausiedlungen galt Chemnitz als sozialistische Musterstadt. Auf den Besucher machte sie den Eindruck einer kalten, gesichtslosen Agglomeration. Nicht weit vom Engel entfernt steht bis heute ein über vierzig Tonnen schwerer und über sieben Meter hoher, russgeschwärzter Bronzekopf von Karl Marx. Die Fassade des dahinterliegenden Gebäudes ist in vier Sprachen mit der Parole «Proletarier aller Länder vereinigt Euch» aus dem Kommunistischen Manifest geschmückt. Dass Kopf und Fassadenschmuck nach der Wende nicht verschwunden sind, hängt wohl nicht zuletzt mit der kapitalistischen Einsicht zusammen, dass sie sich nun unter neuen Vorzeichen touristisch vermarkten lassen könnten. Mit dem Verschwinden des sozialistischen Staatsapparats herrschte in Chemnitz durch die Auflösung von Betrieben und die damit einhergehende Arbeitslosigkeit in den ersten Jahren nach der Wende bei fortschreitender Individualisierung und steigenden Konsumbedürfnissen zunächst ein depressives Klima vor. Zumindest äusserlich begann sich dies mit der Neu-Überbauung des Stadtzentrums in der Mitte der 90er-Jahre zu ändern.

Ein Engel in einer entchristlichten Gesellschaft

Zum 1997 eröffneten ersten Teil der erst vor vier Jahren abgeschlossenen Zentrumsbebauung gehört der aus dem Himmel einbrechende Engel und erinnert in einer Stadt, in der 80 Prozent der Bevölkerung keiner Religion angehören, an ein zentrales biblisches Motiv. Meist wird dabei an die Verkündigung des Messias an eine junge Frau aus Nazareth gedacht. Meines Erachtens lässt sich die Figur noch besser mit der Ostererzählung nach Matthäus verbinden. Zum Kunstwerk von Silke Rehberg gehören nämlich in das Bodenpflaster eingelassene und sich bis in den Bodenbelag des Bürgerzentrums fortsetzende Bodenmosaiken, die «Weggeworfenes» darstellen. Der Weg zum Bürgerzentrum wird zum anstössigen Hindernislauf: ein abgenagter Apfel nebst Zigarettenstummeln da, Bananenschalen dort, dann eine zerknautschte Tüte Haribo-Lakritz usw. Unter dem Glasdach des Bürgerzentrums kommt allerhand «Verlorenes» dazu: Autoschlüssel mit Anhänger, Babyschnuller mit Kettchen, Walkman und Wasserpistole …

Rehberg hat das verschlissene und verlorene Strandgut der Konsumgesellschaft mit künstlerischen Mitteln aufgewertet. Wer das Bürgerhaus verlässt, sieht sich zwangsläufig mit dem Zeigegestus des Engels konfrontiert. Der ausgestreckte Arm des Engels richtet sich nicht an ein anonymes, gesellschaftliches Kollektiv, wie das beim Karl- Marx-Monument der Fall ist, sondern an die einzelne Bürgerin und an den einzelnen Bürger, der aus dem Behördenzentrum tritt. Er oder sie soll nicht am Verlorenen und Verschlissenen vorbeigehen.

Der Auferstandene des christlichen Glaubens steht für das Überwinden von Tod und Verlorenheit und für das Anbrechen von Neuem. Silke Rehbergs Engel steht als angelos, als himmlischer Bote für die österliche Verkündigung, dass die Macht des Todes durchbrochen ist; dies wohlgemerkt in einer der entchristlichsten Gegenden Europas. Der Oster-Engel ermöglicht einen neuen Blick – auch auf die Welt.

 


Literaturhinweis: Silke Rehberg: Engel für Chemnitz, Kunsthistorisches Seminar Jena (Minerva. Jenaer Schriften zur Kunstgeschichte Bd. 6). Gera 1997. Fotos: Urs Winter.

 

 

Urs Winter (Bild: unilu.ch)

Urs Winter

Dr. theol. habil. Urs Winter ist emeritierter Dozent für Altes Testament und Einführung in die Weltreligionen am Religionspädagogischen Institut (RPI) der Theologischen Fakultät der Universität Luzern