Der Barmherzigkeit Gottes Raum geben

Auf der Suche nach neuen Einschätzungen besonderer Ehesituationen

Die Bischofssynode über die «pastoralen Herausforderungen im Hinblick auf die Familie im Kontext der Evangelisierung» im Herbst 2014 wird sich unter anderem mit «besonderen» und «pastoral schwierigen» Situationen im Bereich von Ehe und Familie befassen. Das Instrumentum Laboris1 lässt erkennen, dass solche Situationen kulturell unterschiedlich identifiziert werden. Es mag kühn erscheinen, wenn hier gleich zwei solcher bei uns als besonders gravierend empfundenen Problemlagen aufgenommen werden. Trotz der Verschiedenartigkeit der Situationen von konfessionsverbindenden Ehen (Mischehen)2 einerseits und von nach Scheidung Wiederverheirateten andererseits scheint es mir Vergleichspunkte zu geben. Noch kühner indes mag es wirken, dass in einem ersten Schritt der Bezug zu einem ganz anderen Thema eine erhellende Perspektive stiften soll.

Wider eine ungebührlich restriktive Sicht der Gnade Gottes

Die Internationale Theologenkommission verabschiedete im Jahr 2007 ein Dokument, das begründet, warum die römisch-katholische Kirche die traditionelle Lehre zum Limbus, dem Ort für ungetauft verstorbene Kinder, aufgeben würde. Die Ausführungen greifen auf Einsichten zurück, die im Rahmen einer Theologie der Hoffnung, der Communio- Ekklesiologie sowie der «Anerkennung der Grösse göttlicher Barmherzigkeit» gewonnen wurden.3 Insbesondere das Zweite Vatikanische Konzil mit seiner Orientierung am universalen Heilswillen Gottes ist ein wichtiger Bezugspunkt.4 Zu einer neuen Bewertung des Geschicks der ungetauft verstorbenen Kinder führt die so gewonnene Perspektive, weil sie als «eine Herausforderung für eine ungebührlich restriktive Sicht der Rettung» erkannt wird: «Der universale Heilswille Gottes und die entsprechend universale Mittlerschaft Christi bedeuten in der Tat, dass alle theologischen Begriffe unangemessen sind, die letztlich Gottes Allmacht selbst und insbesondere seine Barmherzigkeit infrage stellen.»5

Der zuletzt zitierte Satz ist so allgemein formuliert, dass es zulässig scheint, den hier erfolgten Perspektivenwechsel aus dem Kontext der Frage nach dem Limbus und dem Heil der ungetauft verstorbenen Kinder auf andere Konstellationen zu übertragen. Wenn ausserdem zugegeben wird, dass die traditionelle Auffassung über das Geschick der ungetauft verstorbenen Kinder «Anlass für zahlreiche pastorale Probleme» gewesen ist, sollte die Aufmerksamkeit im Bereich anderer pastoraler Probleme steigen, um nicht ähnliche Fehler erneut zu begehen. Es ist bedauerlich, dass das Dokument der Internationalen Theologenkommission von 2007 nicht explizit zugibt, wie viel Leid die frühere Lehre und Praxis hinsichtlich der ungetauft verstorbenen Kinder über Eltern gebracht hat. Denn der Rückblick auf das Unrecht, das hier geschehen ist, könnte ein Ansporn sein, sich auch den heutigen Fragen mit erhöhtem Problembewusstsein zuzuwenden.

Gewiss handelt es sich um unterschiedliche Handlungsfelder: Bei den Argumentationen hinsichtlich der ungetauft verstorbenen Kinder geht es um das ewige Heil und die Möglichkeiten Gottes, Menschen auf eine ihm allein bekannte Weise in das österliche Geheimnis der Erlösung hineinzunehmen. Weder bei konfessionsverbindenden Ehen noch bei wiederverheiratet Geschiedenen geht es um diese letzte Heilsfrage. Zudem stehen nicht die verborgenen Möglichkeiten Gottes zur Diskussion, sondern die Teilnahme an kirchlichen Sakramenten. Immerhin geht es auch bei den ungetauft verstorbenen Kindern nicht nur um eine nicht mehr kirchlich fassbare Weise der Zuwendung Gottes, sondern auch um die kirchliche Praxis, die offiziell erst nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil eine Beerdigung solcher Kinder auf dem eigentlich kirchlichen Friedhof zuliess. Insofern kann für die sehr unterschiedlichen Situationen doch eine ähnliche Frage gestellt werden: Wie verhält sich die kirchliche Lehre und Praxis zu Gottes Zuwendung zu den Menschen? Wie entgeht die Kirche einer beschämenden, weil «ungebührlich restriktiven» Sicht der Weise, wie Gott das Leben von Menschen begleitet? Konkret formuliert: Wie engmaschig dürfen die Kriterien für den Eucharistieempfang von Nichtkatholiken sein, wenn sie nicht in einen Widerspruch zur Selbstgabe Jesu treten sollen? Wie rigoros darf die bindende Kraft der unauflöslichen Ehe eingeschärft werden, wenn dies nicht das Mitgehen Gottes auch in Situationen des Scheiterns verstellen soll?

Interessanterweise formulierte Kardinal Walter Kasper in seinen Reflexionen zur Synode ein Prinzip, das in eine ganz ähnliche Richtung weist wie die grundsätzliche Aussage aus dem Dokument der Internationalen Theologenkommission: «Die Barmherzigkeit ist hermeneutisches Prinzip für die Auslegung der Wahrheit.»6 Dies soll im Folgenden entfaltet werden. Dabei ist die Barmherzigkeit Gottes umfassend zu verstehen: Sie erweist sich als Erbarmen Gottes angesichts von Versagen und Schuld ebenso wie als Mitleid Gottes, wenn Menschen unter der Last des Lebens gebeugt sind und zu zerbrechen drohen. Das Erbarmen Gottes gründet in seinem Mit-Sein mit den Menschen so sehr, dass er sich im Innersten von ihrem Geschick betreffen lässt, die Gemeinschaft niemals aufkündigt (Hos 11,8) und angesichts der menschlichen Bedürftigkeit Zuwendung schenkt (Mt 15,32).

Die konkrete Nähe Gottes für Menschen in konfessionsverbindenden Ehen

Menschen, die aus verschiedenen Konfessionen stammend gemeinsam den Weg einer christlichen Ehe gehen wollen, können dies nur im Vertrauen auf die Gnade Gottes tun. Trotz der hohen Zahl von Scheidungen ist oft immer noch nicht bewusst, dass der Weg der Ehe gegenüber der Ehelosigkeit nicht der einfachere Weg ist, fordert sie doch aus christlicher Überzeugung – gemäss GS 48 – zu einer personalen Lebens- und Liebesgemeinschaft heraus. Nicht die vermeintliche Sicherheit eines unwiderruflichen «Vertragsabschlusses» gewährleistet das Gelingen einer solchen Lebensgemeinschaft, sondern die Bereitschaft, miteinander zu wachsen, immer wieder einen neuen Anfang zu machen und die je persönlichen Lebensgeschichten gegenseitig zu respektieren und mitzutragen.7 Dies geschieht im gläubigen Vertrauen auf den Bundesgott, der den Bund der Ehe segnet und die Partner auf ihrem gemeinsamen Weg begleitet. Je mehr die Ehe als komplexes Zusammenspiel von einmaliger Selbstbindung und prozesshafter Realisierung erkannt wird, desto bedeutsamer wird die Erfahrung der Nähe Gottes nicht nur am Beginn des ehelichen Lebens in der Feier der Trauung, sondern auch in der eucharistischen Speise auf dem oftmals mühseligen Weg.

Kommt es nicht einer ungebührlich restriktiven Sicht der Gnade und Zuwendung Gottes gleich, nichtkatholische Ehepartner, die durch ihre Praxis bezeugen, dass ihnen die Eucharistie wichtig ist, nicht zum Kommunionempfang zuzulassen? Werden kirchliche Normen hier zum Hindernis für das Erbarmen Gottes, sich Menschen auf ihren Lebenswegen konkret erfahrbar zu machen?

Die barmherzige Nähe Gottes auf dem Weg von Wiederverheirateten

Wenn, wie die Erklärung der Internationalen Theologischen Kommission es aussagt, alle theologischen Begriffe, die Gottes Barmherzigkeit infrage stellen, unangemessen sind, so gilt dies mindestens ebenso für praktisches Handeln, welches es versäumt, die Barmherzigkeit Gottes auf Situationen zu beziehen, in denen Menschen darauf angewiesen sind. Dabei sind Wiederverheiratete nicht als Menschen zu klassifizieren, die per definitionem mehr Barmherzigkeit benötigen als andere. Wie viel Barmherzigkeit die einen und die anderen benötigen, dürfen wir getrost Gott überlassen. Das Problem der kirchlichen Praxis liegt darin, dass es den Mut bräuchte, die Barmherzigkeit Gottes auf eine Situation zu beziehen, in der ein Neuanfang auf den Scherben eines früheren Scheiterns versucht wird. Die Betroffenen sind Menschen, die oft über einen längeren Zeitraum, manchmal ohnmächtig, erfahren mussten, wie ihre Ehe zerbrach, und die mit viel Kraft ein Scheitern bewältigen müssen. Die meisten haben eine unwiderrufliche Bindung angestrebt und gewollt, und ihnen ist überaus bewusst, dass die erste Ehe aus ihrem Leben nicht auszutilgen ist.8 Es bleibt etwas Eheliches auch nach der Scheidung. Dies ist aber nicht gleichbedeutend mit der Möglichkeit einer Rückkehr in diese Ehe. Während nach dem Scheitern in anderen katholischen Lebensformen und den entsprechenden Selbstverpflichtungen – Ordensgelübde, priesterliche Versprechen – Dispensmöglichkeiten bestehen, um denjenigen, die sich nicht mehr in der Lage sehen, ihre Versprechen einzulösen, einen neuen Anfang zu ermöglichen, ist dies nach geltendem katholischen Recht für Eheleute ausgeschlossen.

Steht dahinter eine zu restriktive Sicht der begleitenden Zuwendung Gottes für Menschen, deren Lebensweg offenkundigere Brüche aufweist, als dies wünschbar ist? Fällt die Kirche hier Urteile, die ausser Acht lassen, dass in den Augen Gottes manches Verhalten von den tieferen Ursachen her anders zu werten und an anderen Kriterien zu messen ist? Wird rückblickend gesagt werden müssen, dass die Kirche zu wenig beachtet hat, wie sehr Gottes Barmherzigkeit und Treue zusammengehören, so dass «es keine menschliche Situation geben [kann], die absolut aussichtslos und ausweglos wäre»?9 Mit Recht setzen sich, wie das Instrumentum Laboris (Nr. 92) erkennen lässt, deswegen Bischofskonferenzen dafür ein, «dass die Kirche sich selbst jene pastoralen Instrumente gibt, durch die sie in die Möglichkeit versetzt wird, eine grössere Barmherzigkeit, Güte und Nachsicht im Hinblick auf die neuen Verbindungen üben zu können».

Das Problem unangemessener Ableitungen

Noch unter einem anderen Aspekt ist ein Vergleich der kirchlichen Auffassung über das Geschick ungetauft verstorbener Kinder mit den pastoralen Fragen hinsichtlich besonderer Ehesituationen aufschlussreich. Der theoretische Fehler in der theologischen Argumentation hinsichtlich des Limbus bestand darin, dass man meinte, aus der positiven Überzeu gung von der Heilsbedeutung der Taufe eine negative Auffassung hinsichtlich der Nichtgetauften ableiten zu müssen: Weil die Taufe heilsnotwendig ist, können Nichtgetaufte, ob Kinder oder Erwachsene, nicht zum Heil gelangen. Das Dokument der Internationalen Theologenkommission revidiert diese Art von Logik. Es hält an der Heilsbedeutung der Taufe fest, weist aber mit Hinweis auf die grösseren Möglichkeiten Gottes den negativen Umkehrschluss zurück: Trotz der Heilsbedeutung der Taufe darf das Geschick von Ungetauften dem liebenden Heilsratschluss Gottes überlassen werden.

Ganz ähnlich verhält es sich nun aber mit den Argumentationen bezüglich des Umgangs mit Wiederverheirateten und mit der Frage des Kommunionempfangs von Nichtkatholiken, z. B. in konfessionsverschiedenen Ehen.

Was folgt aus der Wertschätzung der Ehe (und was nicht)?

Besonders deutlich ist dies im erstgenannten Fall. Die Unauflöslichkeit der Ehe darf nicht in Frage gestellt werden: Aus dieser Überzeugung heraus wagt es die römisch-katholische Kirche derzeit nicht, Wiederverheirateten eine kirchliche Anerkennung ihrer zweiten Partnerschaft oder auch nur die Zulassung zum Empfang der Eucharistie zu ermöglichen. Könnte es sein, dass hier ein Fehlschluss vorliegt? Eine Schwierigkeit hinsichtlich der Lehre von der Unauflöslichkeit der Ehe liegt ja schon darin, dass hier negativ ausgedrückt wird, was doch eigentlich eine positive Wirklichkeit sein sollte. Der Glaube sieht die Ehe unter dem Möglichkeitshorizont einer treuen wechselseitigen Annahme und einer lebenslangen personalen Verbundenheit. Mit dieser verheissenen Möglichkeit ist der Anspruch verbunden, eine solche Verbundenheit als einen Wert anzusehen, für den es sich zu engagieren gilt. Wenn nun die Erfahrung aller Jahrhunderte zeigt, dass dieser Wert und diese Verheissung nicht das Gelingen einer Beziehung garantieren, steht die Kirche vor der Frage, ob die Wertschätzung lebenslanger Treue durch einen rigorosen Umkehrschluss zu schützen ist. Muss die Kirche, wenn sie die Ehe als lebenslange Bindung versteht und hochhalten will, sich der Anerkennung einer neuen Beziehung verweigern? Wie Sabine Demel gezeigt hat, ist schon jetzt die kirchliche Praxis nicht derart absolut.10 Obwohl die Unauflöslichkeit eine Qualität jeglicher Ehe ist, nimmt die Kirche das Recht in Anspruch, nicht sakramentale Ehen sowie sakramentale Ehen, die nicht vollzogen wurden, zu scheiden. Dies weckt die weitergehende Frage: Ist es zutreffend, dass das Ideal der lebenslangen Bindung in der Ehe es der Kirche unmöglich macht, eine positive Bewertung einer Wiederheirat nach dem Scheitern einer ersten Ehe vorzunehmen?

Ekklesiale Dimension der Eucharistie unter den Bedingungen der Kirchenspaltung

Auch die Möglichkeiten ökumenischer Gemeinschaft in der Eucharistie werden oft eher von allgemeinen Grundsätzen her reflektiert, die zweifelsohne ihre Bedeutung haben, die sich aber nicht geradlinig für Schlussfolgerungen auf pastorale Situationen hin eignen. So wird das Thema Eucharistie in der Ökumene zu Recht in Verbindung mit der Ekklesiologie behandelt. In der Kurzformel lautet diese Verknüpfung: Der ekklesiale und der eucharistische Leib Christi gehören zusammen. Die Feier der Eucharistie ist ein Zeichen der Einheit der Kirche, welches diese Einheit voraussetzt. Hinzu kommen Aspekte, die mit dem Verständnis des Eucharistieglaubens zu tun haben und die zwischen den Kirchen noch strittig sind. Aus diesen Gründen wird eine Eucharistiegemeinschaft vor Erreichen der Kirchengemeinschaft abgelehnt.

So richtig diese Prinzipien sind: Auch sie eignen sich nicht dafür, Ausgangspunkt für Umkehrschlüsse zu sein. Die ideale «Vollform» von Kirchen-und Eucharistiegemeinschaft lässt sich nicht dadurch schützen, dass graduellen Verwirklichungen des Gemeinten ihre Berechtigung abgesprochen wird.

Gerade in diesem Themenfeld ist darüber hinaus zu beachten, dass die Prinzipien unter Absehung der Realität der Kirche Jesu Christi formuliert sind. Wenn Eucharistie- und Kirchengemeinschaft grundsätzlich zusammengehören, so ist damit noch nicht alles gesagt über die Möglichkeiten eucharistischer Gemeinschaft in einer Kirche, die durch den Grundfehler Kirchenspaltung11 zutiefst verwundet ist. Zu beachten wäre, dass jede Feier der Eucharistie defizitär ist, solange es voneinander getrennte Kirchen gibt. Sie ist nicht, was sie sein sollte: Zeichen der Einheit aller Christgläubigen in der gemeinsamen Teilhabe an Jesus Christus. Dies bringt es mit sich, dass in alle theologische Argumentationen um Kirche und Eucharistie und erst recht in die kirchlichen Lebensvollzüge ein Riss hineinkommt, der durch Versuche, stringent von theologischen Wesensbestimmungen aus zu argumentieren, nur mühsam kaschiert wird. Unter den Bedingungen der Kirchenspaltung führen geradlinige Schlussfolgerungen aus einer «reinen Eucharistietheologie» ins Niemandsland.

Von Lebenssituationen aus denken

Zudem wird verkannt, dass die Eucharistie innerhalb des Lebensvollzugs von Menschen nicht nur Anwendung des allgemeinen Eucharistieglaubens und Kirchenverständnisses, sondern Ereignis der Weggemeinschaft Jesu Christi mit den Menschen zu allen Zeiten und in den verschiedenen Situationen ist. Neben die grossen ekklesialen und theologischen Zusammenhänge und Rahmenbedingungen treten in lebensweltlicher Perspektive Kriterien, die der persönlich erfahrenen, individuellen und gemeinschaftlichen Lebens- und auch Heilssituation von Menschen stammen und die für die Beurteilung kirchlicher und insbesondere ökumenischer Praxis eigenes Gewicht haben (müssten). Dies gilt nicht zuletzt für jene Menschen, die in konfessionsverbindenden Ehen Kirche im Kleinen leben. Es sind Menschen, die in ihrem gemeinsamen Weg den Bund Gottes mit den Menschen darstellen. Diese Lebenssituation mit all ihren konkreten Facetten ist eine Realität, die eine eigene Würde hat und aus der sich Desiderate für die eucharistische Praxis ergeben, die sich nicht von allgemeinen Grundsätzen her abweisen lassen.

Konkret formuliert: So wahr es ist, dass die Eucharistie eine ekklesiale Dimension hat und in dieser Hinsicht nicht von kirchlicher Gemeinschaft zu lösen ist, so wahr ist es auch, dass Menschen in der Eucharistie für ihr Leben Nahrung suchen und dass der Auferstandene ihnen in einer sehr persönlichen Weise nahe sein möchte. Im Blick darauf wäre es wichtig, dass Weisungen zur eucharistischen Gastfreundschaft einholen, worin sich das Ökumenische Direktorium 1993 von seiner Vorgängerfassung 1967 und dem CIC 1983 sowie dem CCEO 1991 unterscheidet, insofern es in Nr. 129 (natürlich unter Beachtung der Umstände und Bedingungen) den Zutritt zu den Sakramenten nicht nur erlaubt, sondern sogar empfiehlt.12

Unzulässige Demonstration der Lehre am Einzelfall

An dieser Stelle wird unmissverständlich deutlich, dass es nicht zulässig ist, am Umgang mit konkreten Menschen Grundsätze der Lehre demonstrieren zu wollen. Dies musste bereits im Blick auf die Ungetauften gelernt werden: Die Heilsbedeutung der Taufe darf nicht dadurch eingeschärft werden, dass Ungetauften jede Heilsmöglichkeit abgesprochen wird.

Ebenso lässt sich die Unauflöslichkeit der Ehe nicht dadurch demonstrieren, dass Menschen, deren Ehe gescheitert ist, ohne Dispensmöglichkeit auf die Rechtsfolgen dieser Ehe festgelegt werden, so dass sie keine neue eheliche Beziehung eingehen dürfen und andernfalls als Personen in einer irregulären Situation deklariert werden, denen der Eucharistieempfang versagt wird. In ökumenischer Hinsicht dürfen die noch ausstehende Einheit der Kirchen sowie unterschiedliche theoretische Ausprägungen des Eucharistieglaubens nicht zugunsten eines falschen Irenismus ausgeblendet werden, doch die konkrete Situation von Menschen in konfessionsverbindenden Ehen ist nicht dazu geeignet, die entsprechenden Prinzipien vollmundig hochzuhalten. Aus diesem Grund moniert die Kirchenrechtlerin Myriam Wijlens: «In letzter Zeit könnte man den Eindruck gewinnen, dass die Kirche über die Anwendung des Rechts im Einzelfall ihre Lehre zu vermitteln sucht. Die Anwendung wird dann zur Verkündigungshandlung (ein gutes Beispiel sind die wiederverheirateten Geschiedenen). Das aber entspricht weder dem Verkündigung- noch dem Seelsorgeauftrag der Kirche. In der Anwendung des Rechtes geht es nicht darum, einzelne Gesetze zu befolgen, sondern um die Umsetzung der dem Gesetz zugrunde liegenden Lehre, deren oberstes Ziel ebenfalls das Heil der Menschen ist.»13

Nicht nur «Kasuistik der Notfälle»

Auf welcher Ebene bedarf es einer Überprüfung der bisherigen Einschätzungen der beschriebenen pastoralen Situationen? Die Antwort muss in zwei Richtungen gehen.

In den hier angesprochenen Themenfeldern kann es nicht nur um eine «Kasuistik der Notfälle» gehen, bei der je und je nach Lösungen für individuelle Situationen gesucht werden muss. Konfessionsverbindende Ehen und Wiederheirat nach gescheiterter Ehe sind jedenfalls heute nicht individuelle Einzelfälle, die sich einer allgemeineren Einschätzung gänzlich entziehen würden. Sie entsprechen nicht dem Ideal, das sich deduktiv aus gewissen Prinzipien ergibt; doch insofern dies für eine grosse Zahl von Ehen gilt, braucht es mehr als Einzelfall-Entscheidungen.

Es geht hier grundsätzlicher um die Frage, ob und wie theologische und kirchliche Lehre sowie kirchliche Gesetzgebung in der Lage sind, der Realität gerecht zu werden, in der menschliches und christliches Leben sich abspielt. Letztlich ist dies die kirchliche Variante der wissenschaftstheoretischen Gratwanderung zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen. Es muss darum gehen, zu theoretischen Einschätzungen zu gelangen, welche in der Lage sind, lebensweltliche Perspektiven zu berücksichtigen und der Konkretheit des Lebens und vor allem der Einmaligkeit der einzelnen Personen gerecht zu werden.14 In der Theorie und in allgemeinen Normen können zwar in der Tat nicht alle einzelnen je individuellen Konstellationen formuliert werden. Es müsste ihnen aber eingeschrieben sein, dass christliche Lebensformen und kirchliches Handeln nicht nur von allgemeinen Prinzipien her bestimmt, sondern auch aus dem Lebensvollzug von Menschen her gefüllt werden.

Einmaligkeit der Person

Insofern wäre in beiden Hinsichten, ob hinsichtlich der nach Scheidung Wiederverheirateten oder hinsichtlich der konfessionsverbindenden Ehen, in der kirchlichen Praxis eine grössere Ehrfurcht gegenüber der Einmaligkeit der Personen geboten. Dies hätte Konsequenzen für die allgemeinere Bewertung der entsprechenden Lebenssituationen. Zugleich wird dann allerdings auch deutlich, dass es darüber hinaus individuelle Situationen gibt, in denen der einzelne Mensch mit seiner Lebensgeschichte Massstab eines tatsächlich nicht mehr allgemein regulierbaren kirchlichen Handelns sein muss.

Dies mahnte Kardinal Walter Kasper in verschiedenen Kontexten für beide hier betrachteten pastoralen Ehe-Situationen an. 2004 formulierte der damalige Präsident des Päpstlichen Rates für die Einheit der Christen im Blick auf die eucharistische Praxis in ökumenischen Kontexten: «Die Einheit der Kirche ist keine totalitäre Grösse, welche den Einzelnen ‹aufsaugt› und gnadenlos einer abstrakten Einheitsideologie unterordnet. Der Einzelne wird vielmehr in seiner persönlich unableitbaren je einmaligen Situation ernst genommen. Deshalb anerkennt die Kirche unter bestimmten Bedingungen individuelle Lösungen.»15 Gemeint sind Lösungen, «welche der jeweiligen persönlichen Situation und der Vielfalt des Lebens gerecht werden».16

Im Blick auf die nach Scheidung Wiederverheirateten hielt Walter Kasper, diesmal in seiner Rede vor dem Konsistorium 2014, fest: «Die Einmaligkeit jeder Person ist ein grundlegender Bestandteil der christlichen Anthropologie. Kein Mensch ist einfach ein Fall eines allgemeinen menschlichen Wesens, der allein aufgrund einer allgemeinen Regel beurteilt werden könnte.»17

Die vorstehenden Überlegungen möchten dazu einladen, die kirchliche Praxis im Blick auf pastoral schwierige Situationen im Bereich von Ehe und Familie zu überdenken und vor allem jede diesbezügliche Engherzigkeit zu überwinden. Sowohl die Situation der nach Scheidung Wiederverheirateten als auch die Herausforderung konfessionsverbindender Ehen, die unter der restriktiven Praxis eucharistischer Gastfreundschaft leiden, wird an der bevorstehenden Bischofssynode Gegenstand der Reflexion sein. Ich schliesse mich gern der Einschätzung von Kardinal Walter Kasper an: «Es würde zu einer schlimmen Enttäuschung führen, wenn wir nur die Antworten wiederholten, welche angeblich schon immer gegeben wurden.»18


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An die volle Kirchengemeinschaft gebundene Sakramente versus die Taufe als sakramentales Zeichen der Einheit über die Kirche hinaus

«Im Lichte dieser beiden Grundprinzipien, die stets zusammen gesehen werden müssen, gewährt die katholische Kirche im allgemeinen den Zutritt zur eucharistischen Gemeinschaft und zu den Sakramenten der Busse und der Krankensalbung einzig jenen Gläubigen, die mit ihr in der Einheit des Glaubens, des Gottesdienstes und des kirchlichen Lebens stehen. Aus denselben Gründen erkennt sie auch an, dass unter gewissen Umständen, in Ausnahmefällen und unter gewissen Bedingungen der Zutritt zu diesen Sakramenten Christen anderer Kirchen und kirchlicher Gemeinschaften gewährt oder sogar empfohlen werden kann.» (Ökum. Dir. Nr. 129).

 

1 Vgl. http://www.vatican.va/roman_curia/synod/documents/rc_synod_doc_20140626_instrumentumlaboris-familia_ge.html (12. Juli 2014).

2 Wenngleich die konfessionsverbindenden Ehen im Instrumentum Laboris nur am Rande erwähnt werden, gehört auch diese Situation zum Themenbereich der Bischofssynoden: Vgl. die Äusserungen des Sekretärs der Bischofssynode, Kardinal Lorenzo Baldisseri: http://de.radiovaticana.va/news/2014/06/14/bischofssynode_in_rom:_die_logik_des_zuh%C3%B6rens/ted-806915 (11. August 2014).

3 Vgl. Internationale Theologische Kommission: Die Hoffnung auf Rettung für ungetauft sterbende Kinder. 19. April 2007 (= Arbeitshilfen 224). (Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz) Bonn 2008, Nr. 2. Siehe auch http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/cti_documents/rc_con_cfaith_doc_20070419_un-baptised-infants_ge.html (12. Juli 2014).

4 Vgl. ebd., Nr. 31 und 81 im Rückgriff auf GS 22.

5 Ebd., Nr. 2.

6 Walter Kardinal Kasper: Das Evangelium von der Familie. Die Rede vor dem Konsistorium. Freiburg i. Br. 2014, 79.

7 Vgl. Eva-Maria Faber: Ein ganzes Leben lang wachsen. Spirituelle Herausforderungen ehelicher Berufungsgeschichten, in: Thomas Knieps-Port le Roi / Bernhard Sill (Hrsg.): Band der Liebe – Bund der Ehe. Versuche zur Nachhaltigkeit partnerschaftlicher Lebensentwürfe. St. Ottilien 2013, 251–282.

8 Vgl. die eindrücklichen Zeugnisse in: Erich Garhammer / Franz Weber (Hrsg.): Scheidung – Wiederheirat – von der Kirche verstossen? Für eine Praxis der Versöhnung. Würzburg 2012.

9 Kasper, Evangelium (wie Anm. 6), 55.

10 Vgl. Sabine Demel: (K)ein Widerspruch? Unauflöslichkeit der Ehe und Zulassung zu einer Zweitehe, in: Herder Korrespondenz 68 (2014), Heft 6, 303–307.

11 «Innerhalb des Grundfehlers Kirchentrennung kann es keine ‹richtige› und in sich widerspruchsfreie Antwort auf konkrete Einzelfragen geben»: Peter Neuner: Ökumenische Theologie. Die Suche nach der Einheit der christlichen Kirchen. Darmstadt 1997, 217.

12 Vgl. Myriam Wijlens: Sharing the Eucharist. A Theological Evaluation of the Post Conciliar Legislation. Lanham 2000, 343.

13 Myriam Wijlens: Die Verbindlichkeit des II. Vatikanischen Konzils. Eine kirchenrechtliche Betrachtung, in: Christoph Böttigheimer (Hrsg.): Zweites Vatikanisches Konzil. Programmatik – Rezeption – Vision (= QD 261). Freiburg i. Br. 2014, 37–62, hier 61.

14 Siehe dazu Eva-Maria Faber: Lebensweltorientierung in Systematischer Theologie, in: Dies. (Hrsg.): Lebenswelt und Theologie. Herausforderungen einer zeitsensiblen theologischen Lehre und Forschung (= Schriftenreihe der Theologischen Hochschule Chur 9). Freiburg i. Üe. 2012, 21–159, v. a. 74–84.

15 Walter Kasper: Sakrament der Einheit. Eucharistie und Kirche. Freiburg i. Br. 2004, 139. Vgl. 69: «Natürlich lassen sich kirchenrechtlich nicht alle denkbaren individuellen Einzelsituationen auflisten; das Kirchenrecht steckt einen verbindlichen Rahmen ab, innerhalb dessen man pastoral verantwortlich handeln kann.»

16 Ebd., 70.

17 Kasper, Evangelium (wie Anm. 6), 80. Siehe auch 60: «Pastoral und Barmherzigkeit stehen nicht im Widerspruch zur Gerechtigkeit, sondern sie sind sozusagen die höhere Gerechtigkeit, weil hinter jeder einzelnen Causa nicht nur ein Fall steht, den man unter einer allgemeinen Regel betrachten kann, sondern eine menschliche Person, die eine einmalige personale Würde besitzt.»

18 Ebd., 84.

Eva-Maria Faber

Eva-Maria Faber

Prof. Dr. Eva-Maria Faber ist Ordentliche Professorin für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Theologischen Hochschule Chur