Laut LeRUKa ist «Christliche Spiritualität leben» ein Kompetenzbereich, der in Religionsunterricht und Katechese Kindern und Jugendlichen vermittelt werden soll. Die Praxis christlicher Spiritualität geht hoffentlich im Erwachsenenalter weiter. So hat der folgende Beitrag einfach «Menschen» im Blick.
Lectio Divina
Die Bibel ist «Wort Gottes» (gemäss DV in Menschenwort), das «unter dem Anhauch des Heiligen Geistes aufgezeichnet worden» ist (DV 11). Das Lesen der Bibel ist daher gelebte Spiritualität, die in den Texten den «Anhauch» = «Spiritus» (Geist) sucht. Die monastische Tradition nennt es Lectio Divina1, ein göttliches Lesen der Bibel. Nach der klassischen Version geschieht das in vier Schritten: Lesen (lectio), Besinnen (meditatio), Beten (oratio) und Betrachten (contemplatio). Der erste und wichtigste Schritt ist das genaue Lesen des Texts, das es braucht, um den Heiligen Geist und das Wort Gottes im Text zu entdecken. Die meditatio setzt den genau gelesenen Text mit dem lesenden Menschen in Beziehung: Wo tauchen eigene Erfahrungen von mir als Mensch in dem Text auf? Wo findet der Text Zustimmung, wo löst er Irritationen aus? Was hat der Text mit mir Mensch zu tun? Diese Gedanken führen – so die monastische Tradition – in ein spontanes Gebet, die eigene Antwort an Gott. Das abschliessende Betrachten kann stilles Nachdenken sein, es kann, darf oder soll auch zur Erkenntnis führen, dass der Heilige Geist des Texts Potenzial hat, zu verändern und Handlungen der Menschen zu bestimmen.
Lectio Divina kann als Andachtsform gepflegt werden, die bewusst eine betende Haltung einnimmt und das Lesen der Bibeltexte als betenden Vollzug des christlichen Menschen sieht. Lectio Divina ist so eine Form eines Wortgottesdienstes (Wort-Gottes-Dienst).
Lectio Divina kann weiter auch schlicht als Methode fürs Bibellesen in Gruppen gesehen werden. Ein solches Lesemodell entwickelt das Katholische Bibelwerk e. V. in Deutschland seit mehr als 15 Jahren mit zahlreichen Materialien und der 2021 vollständig erschienen Lectio-Divina-Bibel. Die Methode ist in Gruppen einfach anzuwenden und gewinnbringender als das bekannte «Bibelteilen in sieben Schritten», weil Lectio Divina am Bibeltext bleibt und so dem Wort Gottes grösseres Gewicht gibt.
Bibel-Text-Lektüre
Grundlage der Lectio Divina ist der erste Schritt: Lesen. Was sagt der Text? Im Zentrum steht der Text und nichts als der Text. Denn der «Anhauch des Heiligen Geistes» findet sich nur in der konkreten Gestalt des geschriebenen Texts. Ich nenne diese von mir seit 40 Jahren praktizierte Methode des textzentrierten Lesens, die hinter Lectio Divina steckt, Bibel-Text-Lektüre. Sie lässt sich mit sieben Prinzipien beschreiben.
1. Geeignete Bibelübersetzung
Spätestens seit dem Erscheinen des Septembertestaments Martin Luthers vor genau 500 Jahren ist klar: Die Bibel erreicht die Menschen nicht durch das hebräische oder griechische Original, sondern in ihrer Muttersprache. Ohne Übersetzungen geht es bis heute nicht. Wichtig ist, sich klar zu machen, welche Vor- und Nachteile eine bestimmte Übersetzung hat.2 Für die Wahl der Übersetzung als Grundlage aller weiteren Schritte ist die Zielgruppe (Kinder, Jugendliche, Erwachsene) zu berücksichtigen. «Bibel in leichter Sprache» für Menschen mit Lernschwierigkeiten, «Die Einsteigerbibel» für Kinder von 8 bis 12 Jahren, die «BasisBibel» ab dem Jugendalter, «Einheitsübersetzung» für liturgisch geprägte Menschen, «Bibel in gerechter Sprache» für Gender-Engagierte, sind eine kleine Auswahl an Möglichkeiten.
2. Bibeltext typografisch ansprechend
Liest man in einer Gruppe und einigt sich auf eine Übersetzung, ist es sinnvoll, den Bibelabschnitt für die Unterrichtsstunde, den Bibelabend oder das Lectio-Divina-Treffen als Tischvorlage gedruckt mitzubringen. Wichtig ist, den Text, wie es das Lektionar oder die BasisBibel macht, in Sinnzeilen zu gliedern und Hilfen zur guten Textwahrnehmung zu bieten (z. B. Einrückung bei direkter Rede, Leerzeilen bei «Szenen»). Die Überschriften aus den Übersetzungen gehören nicht abgedruckt. Sie sind interpretierende Zusätze zum Bibeltext und erschweren das eigene Lesen.
3. Einfach lesen
Es braucht nur den Text! Das meint der erste Schritt der Lectio Divina: Lesen! Das ist so einfach und gleichzeitig sehr schwierig. Nur Lesen was dasteht, nicht lesen, was man weiss. Präkonzepte, die man im Kopf hat, z. B. dass die (drei?) Sterndeuter Jesus im Stall besuchen, überwinden und lesen, was dasteht, dass er von ihnen in seinem Haus besucht wird, das ist die Herausforderung. Wenn dann bei der Lektüre Fragen auftauchen, sollten Antworten im Text gesucht werden und nicht ausserhalb.
4. Verlängerung der Textrezeption
Dieses hermeneutische Prinzip von Ricœur ist der Schlüssel, um – theologisch gesprochen – dem «Wort Gottes» im Text auf die Spur zu kommen. Der unter dem «Anhauch des Heiligen Geistes» geschriebene Text will den Geist wieder aushauchen. Dazu muss seinem Wortlaut möglichst lange Zeit gegeben werden, zu wirken. Kleine methodische Schritte helfen dabei: Den Text mindestens einmal laut lesen, Rückfragen zu Textdetails (Wortwiederholungen, Verteilung von Reden, …), beschreiben der vorkommenden Figuren, der zeitlichen und räumlichen Veränderungen, dem Einteilen von Szenen. Nur wenn der Text Zeit hat, wahrgenommen zu werden, hat der Heilige Geist Zeit, durch ihn zu wirken.
5. Herrschaftsfreie Kommunikation
Die Leitungsperson in einer Bibel-Text-Lektüre bringt nicht die Macht des eigenen Wissens ein. Antworten werden gemeinsam im Text gesucht. Die Funktion der Leitungsperson ist der Hebammendienst, nicht das Vermitteln von Wissen.
6. Vielfalt der Interpretationen
So wenig wie es die Macht des Wissens gibt, gibt es bei der Bibel-Text-Lektüre die Macht über falsch und richtig einer Interpretation zu entscheiden. Jede Auslegung muss sich lediglich die Rückfrage gefallen lassen: Wo steht das im Text? Wird ein Argument aus dem Text gegeben, so gilt die Interpretation als akzeptiert. Die Vielfalt der Interpretationen auszuhalten und gleichzeitig keine Beliebigkeit zuzulassen, ist eine anstrengende Gratwanderung, die sich lohnt. Sie stärkt das Selbstbewusstsein der Menschen, befreit sie von äusseren Zwängen, fordert heraus zu eigenem Denken. Das ist selbst gelebte christliche Spiritualität unabhängig vom Alter des Menschen.
7. «Wort des lebendigen Gottes»
So beschliessen Lektorinnen und Lektoren die gottesdienstliche Lesung und das ist das Ziel der Lectio Divina, nach der lectio des Texts durch meditatio über diesen Gott zur oratio an diesen Gott und contemplatio mit diesem Gott zu kommen. Dieser Schritt kann nicht erzwungen und nicht gelehrt werden. Er kann nur eine eigene Erfahrung sein. Die intensive lectio im Sinne der sechs kurz angedeuteten Prinzipien hat grosse Chancen, dies den Menschen zu ermöglichen.
In meiner 40-jährigen Praxis mit Bibel-Text-Lek-türe stellte sich die Erfahrung des «Anhauchs des Geistes» in der Gruppe immer wie von selbst ein, wenn zuvor dem im Text gefassten Wort Gottes genügend Zeit und sorgfältig Raum ohne zusätzliches herrschaftliches Wissen gegeben wurde.
Winfried Bader