Debatten ums Offenbarungsverständnis

Brennender Dornbusch. (Bild: www.fotocommunity.de)

 

Offenbarung – ein merkwürdiges Wort! Im Gestrüpp einer undisziplinierten Sprache kann alles Mögliche als «Offenbarung» bezeichnet werden: «C’est révélateur» sagt der Psychoanalytiker zu seinem Klienten, wenn dieser sich eine erhellende Fehlleistung erlaubt hat. «Boris Becker ist eine Offenbarung», titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung, als im Frühsommer 1985 ein der Weltöffentlichkeit unbekannter Siebzehnjähriger völlig überraschend das Tennisturnier von Wimbledon gewann. Und als ich selber vor vielen Jahren zum erstenmal die deutsch-französische Sängerin Patricia Kaas hörte, da war ihr Chanson «Fatiguée d‘attendre» für mich eine Offenbarung – dieser Schmerz, diese Sehnsucht, dieser Schmelz in ihrer Stimme, so etwas kannte ich bis dahin nicht.

Aber nicht nur in der Welt der Popkonzerte und Sportevents, auch auf dem Gebiet der empirischen Wissenschaften wird das Wort «Offenbarung» verwendet. Als es im Herbst 1999 zum ersten Mal gelungen war, die Sequenz des menschlichen Genoms vollständig zu entschlüsseln, überschlugen sich die Massenmedien in Lobeshymnen auf den Biochemiker Craig Venter. Nicht nur habe sein hochtechnisiertes Forschungsprogramm zu einer «Offenbarung» der biochemischen Grundlagen der menschlichen Lebenswirklichkeit geführt, er selber sei nachgerade «a revelator of the real truth». Ähnliche Epitheta wurden seinerzeit Charles Darwin und Albert Einstein angehängt – ihre Einsichten haben für viele Glaubenscharakter angenommen: Endlich wissen wir, was die Welt im Innersten zusammenhält: Der Urknall! Die Evolution!

Die Zusammenhänge, in die uns ein solcherart popularisierter Offenbarungsbegriff führt, deuten allerdings noch auf etwas anderes hin. Als im Jahr 1877 der Mathematiker Georg Cantor seinem Kollegen Richard Dedekind ein neues mathematisches Theorem zuschickte, in welchem er die Grundlagen der Infinitesimalrechnung vom Kopf auf die Füsse stellte, schrieb ihm Dedekind: «Was Sie mir da zugeschickt haben, verehrter Freund, ist dermaßen unerwartet, daß ich eine Weile benötigte, um zu einer einigermaßen ausgeglichenen Geisteshaltung zurückzufinden. Ich habe dann, was Sie mir da zumuten, bis ins Letzte durchgerechnet. Ich sehe, was Sie mir da zeigen, und ich weiß, daß es stimmt, aber ich glaube es nicht.»

Man muss dem, was Dedekind seinem Kollegen Georg Cantor schreibt, bis in die Formulierungen hinein nachspüren: Der Beweis jenes neuen Theorems, das Cantor entwickelt hat, gehört in die Ordnung des «Sehens»: «Ich sehe, was Sie mir da zeigen, und ich weiß, daß es stimmt.» Solange jedoch die Wissenschaftsöffentlichkeit dieses Theorem nicht akzeptiert hat, will Dedekind dieses Theorem nicht «glauben». Anscheinend reicht es nicht aus, bestimmte Dinge zu wissen; damit sie eine die eingeschliffenen Weltsichten verändernde Kraft entwickeln, muss man ihnen «Glauben» schenken. Ob es sich bei dem, was die Theologie «Offenbarung» nennt, nicht ähnlich verhält? Inwieweit greifen auch hier Glauben und Wissen ineinander?

Joachim Negel*

 

* Prof. Joachim Negel (Jg. 1962) studierte Theologie, Philosophie und Romanistik in Würzburg, Paderborn, Paris, Bonn und Münster. Seit 2015 ist er Professor für Fundamentaltheologie in Freiburg i. Ü.