Das Vermächtnis Dom Hélder Câmaras

Dom Hélder Pessoa Câmara (1909–1999) war brasilianischer Erzbischof von Recife. Er galt als herzlich, vorurteilslos und liebend. Ein unerwartetes Geschenk ruft ihn für Peter Camenzind in Erinnerung.

Ich möchte eine bescheidene Pfütze sein,
die den Himmel widerspiegelt.

Ich bin ihm nie persönlich begegnet, dem brasilianischen Konzilsbischof von Recife, aber was viele von ihm erzählen, spüre ich auch heute noch: «In diesem klaren Wasser spiegelte sich der Himmel und wurde zu einer sprudelnden Quelle für viele, die nach einem Sinn für ihr Leben suchten, unter Schicksalsschlägen litten oder in harten Auseinandersetzungen Gefahr liefen, ihre Seele zu verlieren.»

Herzlich sei er gewesen und vorurteilslos liebend, mutig und standfest im Bekenntnis der Wahrheit und im Benennen von Unrecht, fröhlich und grosszügig mit allen Geschöpfen, besonders mit den Armen.

Zum ersten Mal kam ich ihm nahe in San Calogero, einem Städtchen in Kalabrien, wo ich in den Achtzigerjahren auf den Spuren der hl. Paola Frassinetti weilte. Verwundert begegnete ich dort einem Jungen mit dem Vornamen Hélder. Es stellte sich heraus, dass ein Besuch von Dom Hélder in der Stadt eine Welle des Gottvertrauens und der Grosszügigkeit ausgelöst hatte, und der brasilianische Bischof hatte einigen kinderlosen Ehepaaren zur Adoption eines Waisenkindes aus seiner Heimat verholfen. Der junge Hélder trug stolz den Namen dessen, der seine Eltern und ihn zusammengebracht hatte.

Immer wieder ist er mir nahe bei meinen Aufenthalten im Nordosten Brasiliens, bei den starken Frauen (und Männern) in Salvador da Bahia, die ihr Leben für Gott und die Armen am Rand der Grossstadt hingeben. Immer wieder höre ich, wie Worte und Taten von ihm weitergegeben werden, und wenn sie sich zum Gebet und zum Austausch treffen, nennen sie dies «Ciranda», nach einer Inspiration von Dom Hélder, der in diesem Reigentanz einen Ausdruck der göttlichen Dreifaltigkeit erblickte. In der Ciranda bildet sich um die Musik in der Mitte ein Kreis, zu dem jeder eingeladen wird und so der Kreis immer grösser wird. Ein Bild der drei göttlichen Personen im Reigen ewiger Liebe, zu dem sie alle Menschen einladen.

Kürzlich verhalf mir ein überraschendes Geschenk im Kloster Ingenbohl zu einer neuen Begegnung mit ihm: Ein kleiner Gedichtband von Dom Hélder, mit dem ich mein Portugiesisch verbessere und worin ich immer wieder kostbare Perlen finde. Nicht nur die bescheidene Pfütze, sondern beispielsweise auch das Königskind:

Herr,
welche Verschwendung in der Schöpfung.
Die Früchte gleichen die Aussaat nicht aus.
Die Quellen ergiessen Unmengen von Wasser.
Die Sonne verströmt Fluten von Licht.

Deine Grossmut lehre mich Seelengrösse!
Deine Pracht befreie mich von Kleinherzigkeit.

Wenn ich dich sehe
verschwenderisch
mit offener Hand
grosszügig und gut
möchte ich geben ohne zu rechnen
ohne zu messen
als Königskind
als Gotteskind

Oder zur Eucharistie:

Wann lernen wir
die stille und alltägliche Lektion
von Brot und Wein,
deren Ehre darin besteht
den Platz ganz und gar
Gott zu überlassen.

Dom Hélder Câmara, ein guter Freund auf der Suche nach der Fülle des Lebens.

Peter Camenzind


Peter Camenzind

Peter Camenzind (Jg. 1961) studierte Philosophie und Theologie in Chur, Rom und Innsbruck. 1987 wurde er zum Priester geweiht, wirkte 1989 bis 1993 als Vikar in Wädenswil ZH und wechselte daraufhin nach Bürglen UR, wo er zehn Jahre Pfarrer war. Von 2004 bis 2018 war er Pfarrer in Wädenswil und ab 2015 auch Dekan des Dekanats Albis ZH. Ab 2018 stand er als Seelsorger der Pfarrei St. Martin in Schwyz vor und übernahm die Pfarradministraturen von Ibach und Seewen SZ. 2021 ernannte Bischof Joseph Maria Bonnemain Camenzind für die Bistumsregion Urschweiz zum Generalvikar.
(Bild: Donato Fisch)