Das Tessin – die Heimat grosser Künstler

Wenn wir heute an Tessiner Architekten denken, denken wir an Mario Botta. Weitgehend unbekannt ist die Tatsache, dass das heutige Tessin während Jahrhunderten berühmt für seine Bauleute war.*

Kuppel von Sant’Ivo alla Sapienza in Rom (Francesco Borromini). (Bild: Wikimedia)

 

Das Tessin war aufgrund seiner wirtschaftlichen Armut ein typisches Auswanderungsgebiet. Ab dem 12. Jahrhundert gingen viele Baumeister nach Italien, Deutschland, Polen und bis nach Russland. Während die Auswanderungen nach Italien bis ins 19. Jahrhundert andauerten, waren die Auswanderungen in den Norden und Osten Schwankungen unterworfen, da die Reise über die Alpen und Richtung Osteuropa sehr beschwerlich war. Es brauchte deshalb besondere Anreize, um diese Route zu wählen: Im 15. und 16. Jahrhundert wurden in Österreich, Ungarn, Polen, Böhmen und im Balkan Festungsbaumeister benötigt, um Burgen, Stadtmauern usw. gegen die Invasion der Türken zu bauen. Nach dem 30-jährigen Krieg wurden Bauleute für den Wiederaufbau in Frankreich, Deutschland und Österreich benötigt. Viele Künstler blieben im neuen Land und ihre Nachkommen führten die Familientradition weiter.

Starker Familienzusammenhalt

Auswanderer halten im Ausland oft Kontakt untereinander, um so ein gewisses Heimatgefühl aufzubauen und sich gegenseitig zu unterstützen. Auch der Zusammenhalt der Tessiner Bauleute war durch die Familie und ihren Herkunftsort geprägt. Der junge Mann lernte im Familienbetrieb sein Handwerk. Wenn er es beherrschte, erhielt er sein eigenes Werkzeug und wurde zu einem Bauleiter geschickt. Zeigte er ein Talent für ein bestimmtes Handwerk, wurde er gefördert und konnte so zum Meister oder gar Baumeister aufsteigen. Alle grossen Künstler fingen als fahrende Steinmetze, Stuckateure oder Bildhauer an.

Die Tessiner Bauleute arbeiteten, mit wenigen Ausnahmen, als Gruppe, in denen jede Arbeit – ob einfach oder kompliziert – zur Qualität des Gesamtwerkes beitrug. Die Architekten entwarfen die Gebäude, benötigten dann aber auch Bildhauer, Stuckateure und Maler zur Ausgestaltung der Kirchen und Paläste. Diese suchten sie in erster Linie unter ihren Verwandten und Bekannten. Es wurde in andere Dörfer hineingeheiratet, sodass grosse «Clans» von Künstlern entstanden, die miteinander verwandt waren und sich im Ausland gegenseitig unterstützten und einander Arbeit besorgten. Da es den heutigen Kanton Tessin noch nicht gab, war der Kontakt zu Italien nicht durch Landesgrenzen eingeschränkt, sodass auch viele Verbindungen zu italienischen Künstlerfamilien entstanden. Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl hatte manchmal zur Folge, dass Bauleute aus einem Dorf in eine bestimmte Region zogen, z. B. Künstler aus Riva San Vitale vorwiegend nach Graz, aus dem Muggiotal in die Tschechoslowakei oder aus dem Malcantone nach Russland.

Wichtige Baumeister-Familien im Tessin waren z. B. die Vassalli, Bernasconi und Neuroni aus Riva San Vitale, die Bono, Gagini und Castelli mit den berühmten Namen Francesco Borromini, Tencalla, Carove und Porro aus Bissone, die Brüder Domenico und Giovanni Fontana aus Melide, die Rossi und Fossati aus Morcote sowie Carlo und Francesco Fontana aus Novazzano.

Ende des 19. Jahrhunderts verebbten die Auswanderungsströme. Waren früher Gebäude und Möbel Prestige- und Kunstobjekte, so wurden sie jetzt zu reinen Gebrauchsobjekten. Der Beruf des Künstlers wurde überflüssig. Während acht Jahrhunderten hatten Tausende von Künstlern das Tessin verlassen und waren in die Welt hinaus gegangen. «Wir haben Nachrichten von über 4000 von ihnen, über Europa, Asien, Afrika, Nord- und Südamerika und in 35 Staaten verstreut. Unter diesen gibt es wenigstens 100, die ihren Ruf als erstrangige Künstler zu Recht verdienen», hält Aldo Crivelli in seinem Artikel fest.

Rosmarie Schärer

 

* Quellen: Schönenberger, Walter, Von Baumeistern und Architekten aus dem Tessiner Raum, in: Du. Die Zeitschrift der Kultur 46/8 (1986), 26–27; 98–100; Crivelli, Aldo, Tessiner Handwerker und Künstler im Ausland, in: Schweizerische Bauzeitung 96/46 (1978), 866–875; Stevens, Ursula, Tessiner Künstler in Europa. 13.−19. Jahrhundert, verfügbar unter www.artistiticinesi-ineuropa.ch/deu/heinfu.html