Das durchbohrte Herz

Die Herz-Jesu-Verehrung ist in der Schweiz weitgehend in Vergessenheit geraten. Was früher zum «cultus» der Kirche gehörte, ist heutzutage nur noch eine Frömmigkeitsübung.

Die biblische Grundlage für die Herz-Jesu-Verehrung bildet Joh 19,33–34: «Als sie [die Soldaten] aber zu Jesus kamen und sahen, dass er schon tot war, zerschlugen sie ihm die Beine nicht, sondern einer der Soldaten stiess mit der Lanze in seine Seite und sogleich floss Blut und Wasser heraus.» Das Herz bedeutet in der Sprache der Bibel die Mitte des Menschen, den Sitz der Gefühle und des Willens.

Durchbohrte Quelle der Liebe

Bei den Kirchenvätern steht die Seitenwunde Christi pars pro toto für den verklärten Christus als Quelle des lebendigen Wassers.1 Aus ihr geht die Kirche hervor. So schreibt Augustinus: «Dem schlafenden Adam entsteht die Eva aus der Seite; Christus wird nach seinem Tode die Seite mit einer Lanze durchbohrt, damit die Sakramente hervorfliessen, durch welche die Kirche gebildet werden soll.»2 Die Väterzeit besass bereits eine Herz-Jesu-Theologie, ob es hingegen schon eine Herz-Jesu-Frömmigkeit gab, ist eine noch offene Frage.

Im Mittelalter erfährt die Seitenwunde eine neue Deutung: Sie steht nun für das von der Liebe durchbohrte Herz Jesu Christi, das zur Gegenliebe aufruft. So wird in dieser Zeit die Herz-Jesu- Verehrung eng mit dem Passionsgeheimnis verbunden. Sie hat zunächst in Frankreich und Spanien ihren festen Platz. Die reiche Predigttätigkeit der Franziskaner, besonders im süddeutschen Raum, führt zu einer weiten Verbreitung der Herz-Jesu-Verehrung. Durch die Visionen von Mechthild von Magdeburg, Mechthild von Hackeborn und Gertrud der Grossen3 verschiebt sich die Auseinandersetzung mit dem Herzen Jesu von der Theologie in die Mystik. Jesus selbst spricht der Verehrung seines Herzens eine grosse Wirkmächtigkeit zu: «Wenn Du mich deshalb um etwas bitten willst, so weise mich hin auf mein Herz, das ich aus Liebe zu den Menschen in der Menschwerdung angenommen habe, damit ich dir daraus jene Gnaden schenke, um die du mich bittest.»4 Die grossen deutschen Dominikaner Albertus Magnus, Johannes Tauler und Heinrich Seuse verbinden in ihren Predigten und Schriften die in die Passionsmystik eingebundene Herz-Jesu-Verehrung mit der Verehrung der Eucharistie. Die Herz-Jesu-Verehrung wird später von den Kartäusern und Jesuiten weitergetragen.

Von der Vision zum Hochfest

Eine wichtige Etappe in der Entwicklung stellen die Visionen von Margareta Maria Alacoque (1647–1690) in Paray-le-Monial dar. Christus erscheint ihr mehrmals und beklagt die Undankbarkeit der Menschen angesichts der grossen Liebe, die er ihnen durch sein Leiden erwiesen hat. 1675 fordert er Margareta auf, sich für ein Fest zur Verehrung seines heiligsten Herzens am Freitag nach der Fronleichnamsoktav einzusetzen. Er wünscht auch eine Herz-Jesu-Verehrung jeweils am ersten Freitag im Monat. 1686 wird das erste Herz-Jesu-Fest in Paray-le-Monial gefeiert. Aber erst 1856 wird das Fest von Rom offiziell weltweit eingeführt. Aus der privaten Frömmigkeit des Mittelalters wurde durch die Visionen der Margareta Maria Alacoque ein kirchlicher Kult. 1899 weihte Papst Leo XIII. die ganze Welt dem Herzen Jesu. Heute zählt das Herz-Jesu-Fest zu den Hochfesten.

In Vergessenheit geraten

Die Herz-Jesu-Verehrung gerät nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend in den Hintergrund. Theologisch erfolgt erneut ein Paradigmenwechsel: Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts ist die Herz-Jesu-Verehrung ein «cultus» der Kirche. Die Überzeugung lautet, dass Jesus Christus auf die Verehrung seines Herzens mit einem Eingreifen in die Zeit antwortet. Mit dem Zweiten Vatikanum treten anthropologische Überlegungen an diese Stelle und die Verehrung wird wieder zur persönlichen Frömmigkeitsübung.5

Heute wird am Herz-Jesu-Freitag (erster Freitag im Monat) vielerorts die Eucharistiefeier mit einer Anbetung und dem sakramentalen Segen verbunden. Es ist auch Brauch, an diesem Tag den kranken oder älteren Pfarreiangehörigen die Kommunion nach Hause zu bringen. Viele Gläubige verehren das Herz Jesu mit dem kleinen Gebet «Jesus, bilde mein Herz nach deinem Herzen». Die zahlreichen Herz-Jesu-Kirchen sind heute noch Zeugen dieser tief verwurzelten Tradition.

Rosmarie Schärer

 

1 Vgl. Rahner, Hugo, Die Anfänge der Herz-Jesu-Verehrung in der Väterzeit, in: Stierli, Josef (Hg.), Cor Salvatoris. Wege zur Herz-Jesu-Verehrung, Freiburg 1954, 48–63.

2 Augustinus, Tractatus in Joannem IX, 10, deutsche Übersetzung www.unifr.ch/bkv.

3 Mechthild von Magdeburg (um 1207 bis 1282); Mechthild von Hackeborn (1241 bis 1299); Gertrud die Grosse (1256 bis 1301/2).

4 Gertrud die Grosse, Gesandter der göttlichen Liebe, IV, 25.

5 Vgl. zu dieser Problematik: Nebel, Johannes, Das Herz Jesu als Angelpunkt christlichen Weltverhältnisses, in: Forum Katholische Theologie 34/1 (2018), 28–51.

Das Hochfest Heiligstes Herz Jesu wird am dritten Freitag nach Pfingsten gefeiert.