«Das Christentum stört»

Gipfelkreuz auf dem Pass Disrut GR. (Bild: zvg)

 

Ich gehe durch die Irrenhaus-Welt ganzer Jahrtausende, heiße sie nun «Christenthum», «christlicher Glaube», «christliche Kirche», mit einer düsteren Vorsicht hindurch, – ich hüte mich, die Menschheit für ihre Geisteskrankheiten verantwortlich zu machen. Aber mein Gefühl schlägt um, bricht heraus, sobald ich in die neuere Zeit, in unsre Zeit eintrete. Unsre Zeit ist wissend ... Was ehemals bloß krank war, heute ward es unanständig, – es ist unanständig, heute Christ zu sein. Und hier beginnt mein Ekel. – Ich sehe mich um: es ist kein Wort von dem mehr übrig geblieben, was ehemals «Wahrheit» hieß, wir halten es nicht mehr aus, wenn ein Priester das Wort «Wahrheit» auch nur in den Mund nimmt. Selbst bei dem bescheidensten Anspruch auf Rechtschaffenheit muss man heute wissen,  dass ein Theologe, ein Priester, ein Papst mit jedem Satz, den er spricht, nicht nur irrt, sondern lügt.

Friedrich Nietzsche*

 

* Quelle Textzitat: Nietzsche, Friedrich, Der Antichrist. Fluch auf das Christentum. Eines der Spätwerke Nietzsches. Er schrieb die polemische Abrechnung mit dem Christentum im Spätsommer und Herbst 1888. Da Nietzsche sich bis zu seinem geistigen Zusammenbruch wenige Monate später nicht konkret um eine Publikation bemüht hatte, wurde das Manuskript zunächst zurückgehalten und erst 1894 vom Nietzsche-Archiv herausgegeben, allerdings mit mehreren Mängeln. Streitigkeiten um eine korrekte Edition des Werks zogen sich – wie bei allen Spätwerken Nietzsches – bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hin.