Christus, der Befreier und die Ethik der Freiheit

13. Sonntag im Jahreskreis: Gal 5,1.13–18 (1 Kön 19,16b.19–21; Lk 9,51–62)

P. Bernhard Häring CSSR (1912–1998), einer der bedeutendsten Moraltheologen des 20. Jahrhunderts, hat seine erste Gesamtdarstellung christlicher Ethik im Jahre 1954 unter dem Titel «Das Gesetz Christi» veröffentlicht. Dieses Motto hatte er aus Gal 6,2 entliehen: «Einer trage des anderen Last, so werdet ihr die Tora des Christus erfüllen». 25 Jahre später nannte Häring seine zweites grosses Werk «Frei in Christus» und stellte ihm als Leitwort Gal 5,1 voran: «Zur Freiheit hat uns Christus befreit.» Der neue Titel veranschaulicht den Paradigmenwechsel in Kirche und Theologie, der mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil verbunden ist und den Häring in seinem Werk biblisch, moraltheologisch und auch autobiografisch reflektiert. Mit den Brennpunkten Gesetz und Freiheit, Rechtfertigung aus Treue zur Tora oder aus Glauben an den Messias Jesus bewegt sich Häring damit in einem Spannungsfeld, das Paulus in diesem Abschnitt des Gal auch für die christliche Ethik auf den Punkt bringt.

Gal 5 im jüdischen Kontext

Pointierter und absoluter, als Paulus es tut, könnte man die gottgeschenkte Freiheit in und durch Christus kaum formulieren: Die Freiheit (eleuthería) ist dem Satz als Dativobjekt mit direktem Artikel vorangestellt, derselbe Wortstamm wird auch als Aktiv- Prädikat mit Christus als Subjekt (eleutheróo) wiederholt. Im folgenden Satz benennt Paulus mit dem «Joch von Sklaverei» (douleía) zudem die existentielle Gefahr, die seiner Meinung nach droht, wenn man diese Freiheit aus der Hand gibt (5,1). Freiheit ist also nicht nur Geschenk, sondern zugleich auch entschiedene Wahl, an der mit aller Kraft festgehalten werden kann und muss!

Gal 5,1 ist damit Zielsatz der Argumentation in Gal 4 und zugleich Ausgangspunkt für die paulinischen Mahnungen zur konkreten Lebenspraxis. Gal 5,1 richtet sich gegen die Theologie seiner judenchristlichen Gegner in Galatien. Es kann nicht oft genug wiederholt werden, dass sich Paulus im Gal nicht (primär) mit der Torafrömmigkeit des Mehrheitsjudentums auseinandersetzt, sondern mit konkurrierenden Positionen innerhalb der jesusmessianischen Bewegung, die zusätzlich zur Taufe auch Toraobservanz forderten. In den von der Leseordnung ausgelassenen Versen 5,2–12 fasst Paulus seine Position in diesem Konflikt noch einmal zusammen und treibt ihn polemisch auf eine extreme, verletzendbeleidigende Spitze (5,12).

Mit der kaum zu überbietenden Betonung der christusgewirkten Freiheit in Gal 5,1 handelt sich Paulus jedoch ein Problem ein: Wie kann er jetzt noch von Werten, Normen und ggf. Grenzen im persönlichen und zwischenmenschlichen Verhalten reden? Die so grosse Betonung der Freiheit führte offenbar gelegentlich zu bewussten Verdrehungen seiner Position, mit denen seine Gegner seine Theologie zu desavouieren versuchten («Gilt am Ende das, womit man uns verleumdet und was einige uns in den Mund legen: ‹Lasst uns Böses tun, damit Gutes entsteht?›», Röm 3,8). Paulus löst das Problem der Werte- und Normenfrage angesichts absoluter Freiheit mit der auch sonst im Frühjudentum bekannten Hervorhebung der Nächstenliebe (5,13 f.; vgl. z. B. Mk 12,28–34; Mt 7,12) – und zwar als Erfüllung (!) der ganzen Tora, die also weiterhin relevant, wenn auch nicht «rechtfertigungsrelevant » bleibt. Dabei verwendet er denselben Wortstamm, mit dem er in Gal 5,1 ausgerechnet noch die grundlegende Gefahr des Freiheitsverlustes bezeichnet hatte: In der Liebe sollen die Gemeindemitglieder einander wie Sklaven dienen (douleúo), so wie sich Paulus auch selbst als Sklave (doúlos) des Messias versteht (Gal 1,10; Röm 1,1). Paulus wagt sich also an eine Quadratur des Kreises: Grenzenlos frei und als Nächstenliebende versklavt beschreibt die neue Existenz von Jesus-Messias-Anhängern gleichermassen – und gleichzeitig. Bindeglied zwischen beidem ist der Geistempfang in der Taufe: Die Wirkung des Heiligen Geistes konstituiert eine neue Wirklichkeit, die Menschen dazu befähigt, sich in voller Freiheit am Willen Gottes zu orientieren.

Dabei wäre es verfehlt, den Begriff «Fleisch» (sárx), den Paulus als negatives Gegenbild zu «Geist» (pneúma) verwendet, als Synonym für «Körper» zu verstehen oder aus der Konfrontation zwischen «Fleisch» und «Geist» gar eine grundsätzliche Leibfeindlichkeit abzuleiten. In dem auf unsere Stelle folgenden Laster- und Tugendkatalog (Gal 5,19–23) sind nur 5 von insgesamt 24 aufgezählten Aspekten körperlicher Natur, die übrigen haben mit Gefühlen, inneren Regungen u. ä. zu tun. «Fleisch» meint vielmehr eine grundsätzliche Ablehnung des Willens und Wirkens Gottes in der ganzen Lebenspraxis, das sich sowohl in inneren wie auch in äusserlich-körperlichen Lebensvollzügen zeigen kann – wie umgekehrt das positive Wirken des Geistes auch.

Was sich Paulus dabei konkret unter dem «Beissen» und «Auffressen» in V. 15 vorstellt, ist unklar. «Beissen» kommt nur hier im NT vor und bezeichnet bei den seltenen Vorkommen in der LXX Schlangenbisse. «Auffressen» begegnet bei Paulus nur noch in 2 Kor 11,20 in ähnlichem Kontext, aber z. B. auch im Sämann-Gleichnis in Mk 4,4 par beim Auffressen des ausgesäten Samens durch die Vögel sowie in Mk 12,40 u. ö. für ausbeuterisches Verhalten. Vielleicht hat Paulus mit diesen metaphorischen Formulierungen aggressives, konflikthaftes Verhalten auf ganz unterschiedlichen Ebenen im Blick, durch das sich Menschen in Galatien um die Früchte ihrer neuen, geistgewirkten Existenz bringen könnten (ob er auf konkrete Vorfälle in Galatien anspielt, ist ebenfalls unklar). Derartiger «Begierde des Fleisches» (Gal 5,16; in 5,20 f. ist u. a. von «Feindschaften, Streit, Eifersucht, Wutausbrüche, Streitereien, Entzweiungen, Parteiungen, Neidereien» die Rede) stellt Paulus konsequent das Wirken des Geistes entgegen – nicht ohne zum Schluss unseres Abschnittes erneut zu betonen, dass Menschen, die im Geist «wandeln» (5,16) und sich von ihm führen lassen (5,18), «nicht unter (der) Tora» (5,18) stehen. Diese letzte Wendung unterstreicht erneut, wie unaufgebbar für Paulus die Freiheit in Christus ist – sogar in einem Argumentationskontext, in dem es ihm um die Betonung von Werten, Normen und konkrete Verhaltensanweisungen geht.

Heute mit Paulus im Gespräch

«Wer sich an Christus bindet, wird seine Freiheit und die der anderen nie verraten. (…) Als Bundespartner in Christus ergreifen die Jünger in Treue und Mitverantwortlichkeit die Aufgabe, sich für die Befreiung aller auf allen Gebieten einzusetzen und sie ihrer Verwirklichung näher zu bringen. Christen machen sich verächtlich, wenn sie für falsche Sicherheiten den Geist der Freiheit verraten» (B. Häring: Frei in Christus, Bd. 1, S. 91). Das sind prophetische Worte, die nicht nur zur historischen Situation in Galatien passen, sondern auch gesellschaftlichen, politischen und kirchlichen Situationen heute richtungsweisende Impulse verleihen können. Wofür sind wir nur allzu schnell bereit, unsere eigene Freiheit in Christus und die anderer Menschen einzuschränken – aus Angst vor unserer eigenen Irritation und Verunsicherung? Wo versagt Kirche in ihrer Mitverantwortung für die Freiheit? Aber auch: Was kann Menschen heute unter dem vielzitierten, postmodernen «Zwang zur Freiheit» Orientierung geben?

 


Detlef Hecking

Lic. theol. Detlef Hecking (Jg. 1967) ist Leiter der Bibelpastoralen Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks in Zürich. Seit 2021 ergänzt er mit seiner bibelpastoralen Kompetenz das Team in der Abteilung Pastoral des Bistums Basel.