Christlich glauben mit dem Ersten Testament

Der Advent ist eine Hoch-Zeit des Ersten Testamentes in der Liturgie. Die Sonntagslesungen laden dazu ein, an der Seite Israels in den Weg inniger Gottsuche einzutreten und sich vom Gott Israels beschenken zu lassen, denn «wir alle sind das Werk deiner Hände» (Jes 64,7). Die Lesungen ermöglichen eine Neuausrichtung der Gottesbeziehung – in einer persönlichen, emotionalen und beziehungshaften Sprache, wie sie das AT oft besonders eindringlich formuliert. Wer sich auf diese Texte einlässt, für den erledigen sich die nach wie vor weit verbreiteten, fatalen Klischees vom angeblich gewalttätigen, defizitären Inhalt und Gottesbild des AT wie von selbst.

«Warum lässt du uns von deinen Wegen abirren?» (Jes 63,17)

Den Auftakt macht am 1. Advent mit Jes 63,16b–17.19b; 64,3–7 ein Ausschnitt aus dem grossen Gebet Israels in Jes 63,7–64,11 sowie der Antwortpsalm 80 (V. 2ac.3bc.15–16.18–19). Beide Lesungen beginnen mit einem existenziellen Mangel. Israel bzw. die Beterin/der Beter vermisst Gottes Nähe und Fürsorge grundlegend: «Reiss doch die Himmel auf und komm herab!», formuliert Jesaja (63,19); «Wende dich uns wieder zu!», ergänzt der Psalmist (80,15). Gott wird an seine Rolle als Vater, Erlöser und Hirte Israels erinnert und angefleht, sich den Menschen wieder zu erkennen zu geben. Das ist der Ausgangspunkt neuer Beziehung. Das Gebet, das Mangel und Sehnsucht benennt und auf Veränderung hofft, setzt nicht nur menschliche Energien frei, sondern auch Gott in Bewegung.

«Tröstet, tröstet mein Volk» (Jes 40,1)

Der 2. Advent eröffnet neue Perspektiven: «Bahnt für den Herrn einen Weg durch die Wüste …» (Jes 40,3). In Jes 40,1–5.9–11 sprechen drei verschiedene Stimmen: Gott selbst, die Freudenbotin Zion sowie eine himmlische Stimme. Die Mehrstimmigkeit der Lesung kann durch mehrere Sprecherinnen und Sprecher zum Ausdruck gebracht werden (Aufteilung: https://www.bibelwerk.de/home/sonntagslesungen). Gemeinsamer Tenor ist, dass die Leidenszeit Israels (das babylonische Exil) zu Ende geht und Gott sich erneut offenbaren werde wie bereits auf der Wüstenwanderung beim Exodus. Die Folge ist ein umfassender Schalom Gottes, den auch der Antwortpsalm (85,9–14) besingt: «Es begegnen einander Huld und Treue; Gerechtigkeit und Friede küssen sich» (Ps 85,11).

«Der Geist Gottes ruht auf mir» (Jes 61,1)

Am 3. Advent erfährt die Not Israels, die in der Lesung am 1. Advent zum Ausdruck gekommen war, ihre Umkehrung. Aus der verzweifelten Klage «Unsere ganze Gerechtigkeit ist wie ein schmutziges Kleid» (Jes 64,5, 1. Advent) wird nun: «Gott kleidet mich in Gewänder des Heils, er hüllt mich in den Mantel der Gerechtigkeit» (Jes 61,10, 3. Advent). Schon die frühe jesus-messianische Gemeinde hat Jes 61,1–2a.10–11 darüber hinaus auf Jesus bezogen.

Teile des Magnifikats sind als Antwortpsalm vorgesehen (Lk 1,46–48.49–50.53–54). Das ist ein schönes Beispiel, wie man das Neue Testament vom Ersten Testament her lesen und viel tiefer verstehen kann. Die geisterfüllte Maria steht mit ihrem fast vollständig aus AT-Zitaten gebildeten Jubel neben dem geisterfüllten Propheten aus Jes 61. Dies führt zur je grösseren Gerechtigkeit Gottes für die Welt: Der Prophet aus Jes 61 ruft ein Erlassjahr aus, und Maria besingt in ihrem Lied die Zuwendung Gottes zu Armen und Entrechteten.

«Ich will für ihn Vater sein, und er wird für mich Sohn sein» (2 Sam 7,14)

Am 4. Advent stehen David und Gott im Zentrum. Auch diese Lesung ist ein «Beziehungstext» par excellence. David möchte Gott einen Tempel bauen – doch Gott dreht die Sache um (2 Sam 7,1–5.8b–12.14a.16): Nicht David solle ihm ein Haus bauen, sondern er, Gott, werde ganz Israel einpflanzen, «damit es an seinem Ort sicher wohnen kann und sich nicht mehr ängstigen muss» (2 Sam 7,10). Zudem werde Gott seinerseits David ein «Haus» bauen – in Gestalt eines leiblichen Nachkommens, der seinem Königtum Bestand verleihen werde. Auch der Antwortpsalm (Ps 89,2–3.20a u. 4–5.27 u. 29) vergleicht die Beziehung zwischen David und Gott mit einer familiären Beziehung: «Mein Vater bist du, mein Gott, der Fels meines Heiles», rufe David zu Gott, schreibt der Psalmist (Ps 89,27).

Worauf warten wir im Advent eigentlich?

Angesichts dieser grossartigen Lesungstexte, die uns an der Seite Israels in eine Erneuerung und Vertiefung unserer Gottesbeziehung hineinführen wollen, könnte man etwas provozierend die Frage stellen: Worauf warten wir im Advent eigentlich noch? Die Antwort des Judentums lautet seit jeher: Es ist alles schon da! Wer sich auf die Tora, die Prophetinnen und Propheten einlässt, der/die ist so existenziell mit Gott und der ganzen Welt verbunden unterwegs, wie es nur möglich ist.

Unsere eigene, christliche Antwort geht bekanntlich einen Schritt weiter. Sie erinnert, preist und verkündigt die Erfüllung alttestamentlicher Hoffnungen im Messias Jesus. Das ist, aus unserer Re-Lektüre des Ersten Testaments heraus, natürlich unverzichtbar. Aufgabe von Predigt und Katechese sollte es jedoch sein, unsere Glaubensidentität in grösstmöglicher Nähe zum Judentum zum Ausdruck zu bringen, nicht in Abgrenzung. Dazu bieten die Lesungen und die Antwortpsalmen gerade im Advent reichen Anlass. Die Verkündigung Jesu fügt sich nahtlos ein in die grossen Glaubens- und Hoffnungstexte des Ersten Testaments. Das Vaterunser beispielsweise ist eine Aktualisierung und Verdichtung der liebevoll-familiären Beziehung zwischen Gott und seinem Volk, die im Ersten Testament grundgelegt ist. Advents- und Weihnachtsfreude ist (unter anderem), dass auch wir, die wir nicht zum Volk Israel gehören, über die Zugehörigkeit zum Messias Jesus in die Treue und Verheissungen Gottes hineingenommen sind.


Detlef Hecking

Lic. theol. Detlef Hecking (Jg. 1967) ist Leiter der Bibelpastoralen Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks in Zürich. Seit 2021 ergänzt er mit seiner bibelpastoralen Kompetenz das Team in der Abteilung Pastoral des Bistums Basel.