Christen unter Xi Jinpings Traum

Nach einer Phase grossen Aufblühens und Wohlwollens spüren die reformierten Kirchen die Massnahmen zur Sinisierung Chinas stark. Die langfristigen Auswirkungen davon sind schwer abzuschätzen.

Werden Christen in China verfolgt? Wächst das Christentum im Land? Auf diese Fragen finden sich sehr unterschiedliche Antworten. Es kursieren Gerüchte und Mutmassungen, die oft auch ideologisch geprägt sind. Einigkeit besteht darüber, dass die Situation sich unter der Regierungszeit des Staatspräsidenten Xi Jinping verändert hat. In der neuen Ära, die mit seinem Amtsantritt 2013 begonnen hat, wird der gesellschaftliche Spielraum, den Religion in China einnehmen darf, sehr viel stärker reguliert und eingeschränkt als es in den vorangegangenen Jahrzehnten der Fall war. Die Ausübung von Religion ist weiterhin erlaubt, solange sie sich übergeordneten Zielen der Nation anpasst. Der politische Einfluss der kommunistischen Partei wird systematisch und differenziert über die staatlich anerkannten Dachorganisationen in die Religionsgemeinschaften eingetragen und dort verankert.

Christentumsfieber

In Shanghai, Peking, Kanton und vielen anderen Grossstädten des Landes gehören Kirchen selbstverständlich zum Bild des öffentlichen Lebens. Gottesdienste sind allgemein zugänglich, ausländische Gäste willkommen. An Sonntagen werden in der Regel mehrere Gottesdienste gefeiert, um dem Andrang der Gläubigen gerecht zu werden. Wer einmal in eine chinesische Kirche geht, wird vermutlich überrascht und beeindruckt sein von der Menge an Menschen und der engagierten und hingebungsvollen Atmosphäre. Zu den grossen, als Gebäude sichtbaren Kirchen kommt eine Vielzahl an Versammlungsstätten überall in China, die weniger leicht als christlich erkennbar sind.

Nirgendwo auf der Welt ist das Christentum in den letzten Jahrzehnten so konstant und so stark gewachsen wie in China. Schon nach der Wiedereröffnung der Kirchen nach der Kulturrevolution Ende der 1970er-Jahre wurde es von den Christinnen und Christen selbst als wundersames Wirken des Heiligen Geistes beurteilt, dass sich die Zahl der Gläubigen während der Zeit der Verfolgung vermehrt hatte. In kleinen Gebets- und Bibelgruppen wurde Gemeinschaft gepflegt, die Vertrauen, inneren Halt und oft auch praktische Hilfe im Alltag gewährte. Die Attraktivität dieser Gruppen wurde durch intensive Missionstätigkeit im eigenen persönlichen Umfeld verstärkt. Von einem regelrechten Christentumsfieber war die Rede.

Allerdings tauchte nur ein Teil der Gläubigen in den offiziell registrierten und von der Religionsbehörde beaufsichtigten Kirchen auf. Parallel existierte und blühte eine sehr vielfältige Landschaft an sogenannten Hauskirchen bzw. nicht registrierten Versammlungsstätten. Manchmal gab es einfach keine offizielle Kirche vor Ort, oft folgten Leitungspersonen eigenen liturgischen und spirituellen Traditionen oder es gab Vorbehalte gegen die Zusammenarbeit mit dem Staat. Gemeindegründungen von Interessengruppen kamen dazu. Studierende, Intellektuelle oder auch Wanderarbeitende in den Städten wollten lieber unter sich bleiben. Für viele neu Bekehrte war es Zufall, mit wem sie in Berührung kamen oder es gab Durchlässigkeiten der Mitgliedschaften hier und da. Die Hauskirchen hatten keinen Rechtsstatus, wurden in der Regel aber auch nicht behelligt. Einige von ihnen etablierten sich mit eigenen Gebäuden, Publikationen, Partnernetzwerken und versammelten mehrere tausend Personen. Mancherorts entstanden auch private Kindergärten, Schulen und Ausbildungsinstitute für Kirchenmusik und Theologie. Über Jahre gab es Verhandlungen auf lokaler und nationaler Ebene, Gemeinden dieser Art eine Anerkennung als Körperschaft ausserhalb der offiziellen Dachorganisationen zu ermöglichen. Die Religionsbehörden waren nicht per se kritisch oder negativ eingestellt, haben Hauskirchen mancherorts sogar wohlwollend begleitet.

Sinsisierung

Die tolerante Haltung der Regierung im Umgang mit Religion und Christentum hat sich in den vergangenen Jahren vollkommen geändert. Viele gesellschaftliche Entwicklungen unter den Vorgängerregierungen werden von Präsident Xi als Fehlentwicklungen beurteilt, die es zu korrigieren oder einzufangen gilt. Dazu zählt auch das Ausufern des Christentums, insbesondere der Hauskirchenbewegung. Der Einfluss der Partei soll neu gestärkt, das ganze Land wieder auf Linie gebracht werden. Xi Jinping verordnet China den «chinesischen Traum», die Vision einer Zukunft als kulturell, technologisch und politisch führende Weltmacht. Das ganze Volk soll vereint im Glauben an die Überlegenheit des chinesischen Modells von Sozialismus stehen und gemeinsam an der Verwirklichung dieses Traumes unter Leitung der Partei mitarbeiten.

Für die Religionen ist die neue Ausrichtung mit dem Stichwort Sinisierung zum Programm geworden. Der Begriff wurde von Staatspräsident Xi persönlich eingeführt. Sinisierung heisst wörlich Chinesisch-Machung und wird von Vertretenden des Chinesischen Christenrates gerne theologisch als Inkulturation oder Kontextualisierung ausgelegt. Tatsächlich geht es in erster Linie um eine Identifikation mit den Zielen der kommunistischen Partei und um die Priorisierung der Staatsinteressen vor privaten Belangen des Glaubens. Zuerst kommt die Liebe zum Vaterland und erst an zweiter Stelle die Liebe zum religiösen Bekenntnis. Der Religion des Protestantismus wird die Nähe zum Ausland mit Tendenzen zu illegalen Aktivitäten, die sich zersetzend auf Moral und Staatsräson auswirken, vorgeworfen. Ausserdem ein Hang zu häretischen Kulten und einem Wildwuchs an Interpretationen und Auslegungen der christlichen Botschaft. Es gilt den ausländischen Einfluss einzudämmen sowie die theologische Ausbildung zu fördern und zu vereinheitlichen. Als positive Eigenschaften dieser Religion, die weitere Förderung verdient haben, werden Hilfsbereitschaft, soziales Engagement und gute familiäre Beziehungen angesehen. Dem Katholizismus wird ein Mangel an Demokratie angekreidet, beim Buddhismus gilt es Korruption und moralischen Verfall einzudämmen, der Islam hat gefährliche separatistische Tendenzen und dem Daoismus fehlt es an inhaltlicher Substanz – da sollen Anstrengungen unternommen werden, es zu einer akademisch ernstzunehmenden modernen Religion auszubauen, die auch international China gut vertreten kann.

Der konkreten Umsetzung der Sinisierung wird mit einer Reihe gesetzlicher Bestimmungen und Vorgaben Nachdruck verliehen. So sind z. B. alle nicht registrierten Gemeinden inzwischen definitiv illegal und dürfen nur noch weiterexistieren, wenn sie sich unter dem Dach von «Patriotischer Drei-Selbst-Bewegung» und «Chinesischem Christenrat» einfinden.1 Seit 2019 sind viele Hauskirchen geschlossen worden, auf die Weiterführung ihrer Aktivitäten wird mit Razzien, Geldstrafen, Festnahmen usw. reagiert. Den registrierten Kirchen ist die Aufgabe übertragen worden, die freien Versammlungsgruppen an sich zu binden. Gemeindeleitende müssen eine Selbstverpflichtung unterzeichnen, sich staatskonform zu verhalten und auch Äusserungen von Gemeindemitgliedern im Internet und in sozialen Medien auf politische Loyalität hin zu überprüfen. Beeinflussung von Minderjährigen in jeglicher Form ist religiösen Einrichtungen untersagt, der Besuch von Gottesdiensten oder Kindergottesdiensten ist Minderjährigen verboten. Nachdem zu Beginn 2022 das Studium von Marxismus und Leninismus als Grundlage des religiösen Verständnisses in den Dachverbänden der grossen Religionen angekündigt und mit ersten Studientreffen umgesetzt wurde, ist jetzt noch ein Gesetz in Kraft getreten, dass die Verbreitung religiöser Inhalte im Internet nur noch Personen mit Lizenz durch die Religionsbehörden erlaubt.

Die generell starke Überwachung durch Kameras, Bewegungsprofile und Datenerhebungen aller Art in China hat sich durch die Corona-Pandemie weiter gesteigert. Religiöse Versammlungsorte waren länger geschlossen als andere Kultureinrichtungen und sind auch nur mit erhöhten Hygiene- und Abstandsregeln wieder geöffnet worden. Die Zahl an Gottesdienstbesuchern ist deutlich zurückgegangen. Es kann aber durchaus sein, dass sich religiöse Aktivitäten in einen unsichtbaren Bereich verlagert haben, in kleinere, noch privatere Einheiten. Die Bürger des Landes sind kreativ und erfahren im Umgang mit politischer Repression und Überwachung. Mittel- und langfristige Auswirkungen des neuen politischen Kurses auf das chinesische Christentum sind darum schwer einzuschätzen. Kontaktmöglichkeiten und Nachrichten aus der Volksrepublik und auch aus Hongkong sind zurzeit sehr eingeschränkt, viele der Quellen verebbt. Dass der Geist weht, wo er will, hat er in China schon auf beindruckende Weise gezeigt. Seien wir optimistisch!

Isabel Friemann

 

1 Die Patriotische Drei-Selbst-Bewegung wurde 1954 gegründet und ist die staatlich genehmigte protestantische Kirche in China. Der Chinesische Christenrat ist eine 1980 gegründete Dachorganisation des protestantischen chinesischen Christentums. Er kooperiert eng mit der Patriotischen Drei-Selbst-Bewegung. Zusammen bilden sie die staatlich sanktionierte protestantische Kirche auf dem chinesischen Festland.


Isabel Friemann

Isabel Friemann ist evangelische Theologin und Sinologin. Sie beschäftigt sich mit dem Christentum in China seit 1990. Sie hat zehn Jahre in China gelebt (Shanghai, Nanjing, Peking) und leitet seit 2017 die China Info-Stelle mit Sitz in Hamburg.