Botschaft alter Kirchenpforten

«Jung seid ihr, allesamt: Ihr habt ja keinerlei Kunde von den Anfängen, keine altüberlieferte Lehre, kein Stück Wissen, das vom Alter grau ist.» (Platon, Timaios)

Im November 2015 fand im Berner Münster ein besonderer Anlass statt. Ein Orgelkonzert in Memoriam Albert Schweitzer, der Arzt, Philosoph, Theolog, Organist und Friedensnobelpreisträger, der im zentralafrikanischen Gabun das Urwaldspital Lambarene gründete.1 Heinz Balli spielte auf der grossen Münsterorgel, begleitet vom Soloflötisten Günter Rumpel, Werke von Johann Sebastian Bach, die Albert Schweitzer auch um diese Jahreszeit gegen Ende des Kirchenjahres, nämlich am 21. Oktober 1928, im Berner Münster gespielt hat.2

Für Albert Schweitzer war Heilen, Heil, Heilig ein einheitliches interdisziplinäres Thema. Medizin, Theologie und Musik waren für ihn gleichsam ein «Tritonus». Um diesen Kontext zu entfalten, führte Felix Gerber, der Betriebsleiter und Sigrist des Berner Münsters, vor dem Konzert zu zwei besonderen Pforten an diesem Unesco-Weltkulturerbe. Das Münster krönt seit bald 600 Jahren das Bild der Stadt Bern. Es ist dem Hl. Vinzenz von Saragossa geweiht, der unter Kaiser Diokletian im Jahre 304 den Märtyrertod erlitt. Am Berner Münster gibt es zwei ganz besondere Portale: Die «Hebammenpforte» auf der Nordseite an der Münstergasse und die «Kindbetterinnenpforte» auf der Südseite zur Plattform. Was ist die Botschaft dieser alten Kirchenpforten an uns moderne Menschen? Es ist das Denken jener Zeit über Gnade und Heil, Rein und Unrein: Ihr uralten Pforten öffnet euch (Ps 24,7).

Geburtshilfe, aus Nächstenliebe und Helferwillen geboren, ist ein lebenslanger Weg der Handreichung. Entstanden, weil sich der Mensch nicht einfach seinem Schicksal überlassen wollte. Doch sanft und unbemerkt hat das reparative Denken das Verständnis von Heilung abgelöst. Das Sprichwort «Schuster, bleib bei deinen Leisten» gilt auch für den Arzt, der sich diesem schwierigen Thema stellt. Wenn ich den Versuch trotzdem gewagt habe, dann deshalb, weil es zwischen dem Arztsein und Christsein zahlreiche tief verwurzelte Wechselwirkungen (synaisthesis) gibt, denen in unserer heutigen Gesellschaft höchste Aktualität zukommt, und weil ich meine Freude über den Glauben und den Dank über die Berufung zum Arzt mitteilen möchte. Dazu benötige ich von den Leserinnen und Lesern einen Vorschuss an Sympathie.

Die Hebammenpforte

Die Hebammenpforte (Nordportal Ost) zählt zu den ältesten Bauteilen des Berner Münsters und wurde 1421, im Jahr der Grundsteinlegung, begonnen. Hebammen helfen Kindern von der vorgeburtlichen Geborgenheit im Mutterleib auf dem nicht immer leichten Weg in unsere Welt. Neugeborene brauchen Schutzengel: «Ach, mein Gott und Herr, ich kann doch nicht reden, ich bin ja noch so jung.» (Jer 1,6). Durch die Hebammenpforte in der kalten Nordfassade wurden moribunde und reanimationsbedürftige Neugeborene von den Hebammen so rasch wie möglich zur Taufe in die Kirche gebracht, um nicht ungetauft zu sterben, um sie in die beschützenden Hände Gottes zu legen, um das damit verbundene Zuteilwerden der Taufgnade zu empfangen, das einmalige und unwiederholbare ökumenische Ursakrament, das unauslöschliche Prägemal (character indelebilis) des Christwerdens, ein Glied der Kirche Jesu Christi (christiani) (1 Kor. 12,12–13).

Die Menschen jener Tage fürchteten den Tod ohne Taufe. Daher war es Aufgabe der Hebammen, moribunde Neugeborene umgehend dem Priester zur Taufe zu bringen. Heute wird die Reanimation oft lange und mit Erfolg fortgesetzt. Segensreiche Fortschritte, die zu Demut und Dank verpflichten. Etwa 10 Prozent der Neugeborenen benötigen nach der Geburt eine spezifische Abklärung oder Betreuung, besonders beim Atemnotsyndrom. Ein Leben in einer warmen Isolette. Die Taufe darf aufgeschoben werden, bis die Eltern ihr Kind selber in die Kirche zur Taufe tragen können, nicht als sterbender Notfall. «Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen», lesen wir im Evangelium nach Johannes (Joh 3,5) und der hl. Gregor von Nazianz (&#134 390) schreibt: «Die Taufe ist die schönste und herrlichste der Gaben Gottes.» Ärzte und Priester begleiten Menschen auf ihrem ganzen Lebensweg, musikalisch ausgedrückt: «Da capo al fine».

Die Kindbetterinnenpforte

Auf der Südseite, unmittelbar hinter dem Tor, das vom Münsterplatz auf die Plattform führt, befindet sich die Kindbetterinnenpforte. Engel beschützen die Türe und die eingehenden Mütter, die nach dem Wochenbett durch diese Pforte in das Münster eintreten mussten. Das über der Türe angebrachte Relief stellt zwei Engel mit dem Schweisstuch der hl. Veronika dar, auf dem das Antlitz Christi abgebildet ist. Jesus Christus und die beiden Engel empfangen die junge Mutter beim Eintritt in die Kirche, wo sie vom Priester «entsühnt» wird. Das Relief ist eine Kopie nach dem heute im Bernischen Historischen Museum ausgestellten Original.

Nach der Geburt eines Kindes und dem Wochenbett musste die Mutter die Kirche das erste Mal durch diese Türe betreten, da sie wegen ihrem blutig-serösen Ausfluss (Lochien, griech. lóchos‚ Geburt) aus der grossen Wundfläche der Plazentahaftstelle als unrein galt und vom Gottesdienst ausgeschlossen war, bis die Reinigungsblutung vorüber war. Es war die Zeit des Kindbettfiebers. Bis in das 19. Jahrhundert war das Kindbettfieber eine der Hauptursachen für die hohe Wöchnerinnensterblichkeit. Die medizinisch-theologische Reinheitserklärung und Entsühnung nach der Geburt war in den Händen und der Obhut des Priesters. Heilung, Heil und Heilig bilden eine Einheit. Die kassenpflichtige postpartale gynäkologische «Nachkontrolle» war noch unbekannt. «Jeder Wandel ist widersprüchlich. Der Widerspruch ist das Wesen der Wirklichkeit.» (Heraklit)

«Hausordnung» für das Zusammenleben

Das hat mit Frauenfeindlichkeit und Patriarchat nichts zu tun. Es ging vor allem um eine «Hausordnung» für das Zusammenleben mit JHWH (Lev 12 und 15), um die volle Wiedereingliederung der Wöchnerin in die Gottesdienstgemeinschaft. Damals wie heute waren für das Leben und Zusammenleben der Menschen in der Gesellschaft gesetzliche Vorschriften nötig. Im Buch Levitikus sind modern anmutende (Hygiene- und Pflege-) Vorschriften für das Wochenbett entfaltet (Lev 12,1–8). Im Alten Orient erstreckten sich die hygienischen Vorschriften aus den genannten Gründen vor allem auch stark auf den Bereich der menschlichen Intimsphäre. Hygienebinden, Tampons, saugkräftige Einlagen und Plastikbeutel waren unbekannt. Zur Zeit Platons (427–347 v. Chr.) war Heilkunde in erster Linie Hygiene, die «hygieinou episteme» Lehre von der Gesundheit und ihrer Erhaltung. Bei den Ärzten stand Hygieia, die griechische Göttin der Gesundheit, Gemahlin von Äskulap, höher im Rang als die heute so wirkmächtige Panakeia, die Göttin der Pharmakotherapie. Der Arzt – ein «therapeutes» – war ein dienender, aufmerksamer Begleiter. Das alles ist Vergangenheit. Aber war alles Frühere einfach falsch? Wir sind Verdrängungsmeister.

Epilog

Hebammen halfen zu Hause den werdenden Müttern bei der Geburt ihrer Kinder. Hebammen wischten den Gebärenden unter den Geburtswehen den Schweiss ab und legten ihnen nach dem Vorbild der hl. Veronika ein kühlendes Tuch auf die Stirn. Gebärende brauchen empathische Begleitung. Die stadtbekannte Turmwartin Elisabeth Kormann, die von 1909 bis 1966 in der Turmwohnung lebte, hat am 5. Juli 1910 und am 8. Oktober 1913 im Ostzimmer der Turmwohnung unter Mithilfe der Hebamme Rohrbach ihre beiden Töchter Heidi und Hanni zur Welt gebracht. Die Hebamme musste jeweils eiligst die 254 Treppenstufen von der Kesslergasse (heute Münstergasse) hinauf in die Turmwohnung erklimmen, um rechtzeitig vor der Geburt zur Stelle zu sein. Durch welche Pforte gelangte sie in das Münster? Medizin und Glaube sind nicht ein Oppositionspaar. Angesichts der von vielen als «Krise» empfundenen Situation, in der die zunehmend bürokratisierte und technisierte Medizin steckt, «ist es dringend nötig, brückenschlagende ‹Und-Themen› zu beachten», auf die Fink und Zihlmann3 in einem anderen Zusammenhang hinweisen: «Glaubenstreue und Weltoffenheit», Humanität und Technik, Indikation und Kontraindikation, Tun und Lassen, Gesundheit und Krankheit, Annahme und Verzicht, Schicksal und Gnade. Dazu braucht es das wechselwirkende interdisziplinäre Gespräch.

Heil des Kranken – Wille des Kranken

Geblieben ist wie vor zweitausend Jahren im grossen Feld der Machbarkeit der Fragenkomplex von Heil, Heilen, Heilig, Curare, Sanare, Salus. Die beiden klassischen Formalprinzipien «salus aegroti suprema lex» (das Heil des Kranken ist das oberste Gesetz, Hippokrates) und «voluntas aegroti suprema lex» (der Wille des Kranken ist das oberste Gesetz) stehen seit der Antike in einem Spannungsverhältnis, das sich wohl nie ganz überwinden lässt. Verschiedene Positionen sind im liberalen Denken, in der Medizinethik, in der Rechtswissenschaft oder im Glauben verwurzelt. Geblieben ist ein pejorativer Name, ein Modewort: «Schulmedizin». Die scheinbar paradoxe Inschrift «Vulnerando sanamus» – Indem wir verwunden, heilen wir – steht seit dem Jahre 1907 gross über dem Hauptportal der Chirurgischen Universitäts-Klinik in Giessen. Der Text stammt nicht von einem der Urväter der operativen Medizin, sondern von Robert Arnold Fritsche (1868–1939), dem langjährigen Leiter der Universitätsbibliothek. Die Medizin, aus Barmherzigkeit und Helferwillen geboren, nahm dem Tod viel Land weg, seitdem sie die Wege angewandter Naturwissenschaft verfolgt. Sie wirkt in vielen Bereichen segensreich. Die Medizin läuft jedoch zunehmend Gefahr, die Pforten zu den Geisteswissenschaften zu verschliessen und den Menschen zu verdinglichen. Zeugung, Geburt, Krankheit, Leiden und Tod dürfen nicht auf ein biologisch-technisches Problem reduziert werden. Moderne reparative Konzepte dürfen nicht gegen salutogene Konzepte ausgespielt werden. Nur so wird es gelingen, einer einseitigen Entwicklung zu wehren und Leib und Seele in ihrer ganzen Vielfalt von Aspekten, Zusammenhängen und Wechselwirkungen wieder zu «versöhnen», zum Wohle der uns anvertrauten Mitmenschen. Weil Gott bei jeder Heilung mit im Spiel ist (Medicus curat, Deus sanat, Natura sanat), bleibt auch da für die Kranken Hoffnung, wo die Grenzen der Medizin erfahren werden und die Hoffnungen der Welt zerbrochen sind. «Sei mir nicht fern, denn die Not ist nahe, und niemand ist da, der hilft.» (Ps 22,12). Das ist die Bitte von Müttern, deren moribunde Kinder durch die Hebammenpforte in das Münster getragen wurden.

 

1 Zum Gedenken an Albert Schweitzer schreibt Roland W. Moser seinen – wie er schreibt – «eher ungewöhnlichen, neonatologischen und puerperalen, kirchengeschichtlichen Beitrag».

2 Ein Forscherteam am Institut für Medizingeschichte IMG der Universität Bern arbeitet seit Januar 2014 an dem vom Schweizerischen Nationalfond SNF finanzierten Projekt «Medical practice and international networks Albert Schweitzer’s Hospital in Lambarene, 1913–1965».

3 Urban Fink, René Zihlmann (Hg.): Kirche, Kultur, Kommunikation. Peter Henrici zum 70. Geburtstag. Zürich, 1998, 13.

Roland W. Moser

Roland W. Moser

Dr. med. Roland W. Moser, Facharzt FMH für Gynäkologie und Geburtshilfe, absolvierte nach seiner Pensionierung 2002 den Studiengang Theologie STh in Zürich. Er beschäftigt sich in Wort und Schrift mit Medizinethik und Spiritualität im Spannungsfeld von Wissen und Weisheit