Benedikt XVI. und Maurice Zundel

Am 14. Februar 2013 verabschiedete sich Papst Benedikt XVI. vom Klerus seiner Diözese Rom mit einer Ansprache, die keine grosse, wirkliche Rede sein konnte, sondern nur «una piccola chiacchierata» («eine kleine Plauderei»), und zwar «über das II. Vatikanische Konzil, so wie ich es gesehen habe».1 Darin sagt er: «Einer hat kritisiert, dass das Konzil über vielerlei gesprochen habe, aber nicht über Gott.» Dagegen wehrt er sich und sagt, es habe sehr wohl von Gott gesprochen, und zwar von Anfang an, indem am Anfang die Liturgie stand, Gott, die Anbetung. Der Papst kann wahrscheinlich nur den Priester Maurice Zundel (1897–1975) gemeint haben, der im Jahre 1972 auf Bitte Pauls VI. die Fastenexerzitien im Vatikan hielt über das Thema «Welcher Mensch und welcher Gott?».2

Über das gleiche Thema hatte Zundel am 22. Januar 1966 im «Cénacle de Paris» gesprochen3 und darin folgendes gesagt (ich übersetze): «Bei der Lektüre der Berichterstattungen über das Konzil [oder hat er mit «les comptes-rendus» die Schluss-Dokumente gemeint?] habe ich mich oft gefragt: Von welchem Gott sprechen wir? Von welchem Gott, und von welchem Menschen? Mir scheint, dass diese Frage gar nicht gestellt wurde, dass es sehr wohl Konflikte zwischen verschiedenen Tendenzen, Zweideutigkeiten gegeben hat, aber dass die wesentliche Botschaft nicht vorgestellt wurde, die darin bestanden hätte, Gott vorzustellen, der nur in der Welt zu finden ist, die der Mensch zu schaffen gerufen ist, die noch nicht existiert, die nicht ohne uns existieren kann und die nur durch uns bestehen kann im Masse, als wir uns ernsthaft auf sie einlassen.» Am Schluss seines Vortrags dämpft er ein wenig diese Sätze: «Das will nicht besagen, dass das Konzil nicht ausgezeichnete Dinge gemacht hat. Das will nicht besagen, dass wir ihm nicht eine Öffnung verdanken, die man nie erwartet hätte. Das heisst nur, dass das eine Etappe ist, und zwar nicht die letzte, denn es gibt keine letzte Etappe. Und das ist schon ein unermesslicher Fortschritt, aber die wesentliche Frage wurde noch nicht gestellt, wahrscheinlich konnte sie nicht gestellt werden, denn hier ist nicht nur die römische Kirche betroffen, sondern auch die protestantischen und orthodoxen Kirchen, die in der gleichen Tradition verwurzelt sind.»

Was aber ist, in kurzen Worten, der Inhalt des Vortrags von Zundel in Paris ein Jahr nach Abschluss des Konzils? Er meint, dass das traditionelle Gottesbild, das die Kirche, die Kirchen vermitteln, nicht mehr haltbar ist, denn es spiegelt einen Gott der Vergangenheit, während jetzt ein Gott der Zukunft gefragt ist, weil die Menschen gerufen sind, die Zukunft neu zu bauen. Das Gottesbild ist verfälscht aus vielen Gründen: falsches Verständnis der Bibel, arrogantes Machtgehabe, verstiegene Philosophie, abstrakte Moral – und die Liste sei nicht vollständig. Der heutige Mensch kann nicht mehr verstehen, warum im Alten Testament nur ein Volk auserwählt wurde und dass Gott dieses die Nachbarvölker bekämpfen und ausrotten lässt; selbst das Neue Testament ist nicht immer eindeutig, nur die Person Christi steht über allem. Die Machthaber aller Zeiten haben sich gerne einen absoluten Gott zugelegt, um ihre Macht zu befestigen, selbst demokratische Mäntelchen seien da gerne umgelegt worden. Die rein formalistische Philosophie des Mittelalters, die die Ketzer-Bekämpfung und -ausrottung rechtfertigte, ist heute nicht mehr nachzuvollziehen. Eine abstrakte Moral, die nur ein blindes Sollen fordert, hat ausgedient

Was für einen Gott möchte denn Zundel vorstellen? Mit den Worten von Marc Donzé,4 dem ersten umfassenden Darsteller der Theologie von Zundel, kann man seine Grundthese zusammenfassen: «Der Mensch wird nur wahrhaft Mensch, wenn er frei wird von sich in der Begegnung mit einer Gegenwart, die ihn übertrifft und vollendet. Gott ist in seinem dreieinigen Wesen und in seiner Beziehung zum Menschen völlige Selbst-Enteignung und Gabe, in einem Wort – franziskanisch gesagt – Gott ist Armut.»5

Am Ende seines Pariser Vortrags beklagt Zundel die zwei Hälften der Menschheit: Die eine herrscht, die andere ist unterworfen; die eine besitzt, die andere hat nichts; die eine isst, und die andere hungert; die eine ist gut geschützt, die andere ist allen Risiken ausgeliefert – «Das ist nicht der gleiche Gott, der für diese beiden Hälften zuständig ist; wenn die eine Hälfte sich auf ihn beruft, kann die andere ihn nur verwerfen.» Was also Zundel liefert, ist eine unnachsichtige Analyse der Weltsituation, die 2013 genau so aktuell ist wie 1966, vielleicht noch aktueller. Wenn er die Armut Gottes so in den Vordergrund stellt (und der Mensch sich ihr unterstellen soll), so kommt er in mancher Beziehung nahe an den tschechischen Theologen Tomas Halik mit seinen Aufsehen erregenden Büchern.6

Wenn man also genauer hinsieht, hat «qualcuno » («jemand») nicht bestritten, dass im Konzil von Gott geredet wurde, sondern er hat gefragt, ob man diesbezüglich die richtige Frage gestellt habe. Der Papst beschuldigt in seiner Plauderei die Massenmedien, die Ergebnisse des Konzils verfälscht zu haben, und es sei nun an der Zeit, das wahre Konzil wieder aufleben zu lassen. Vielleicht könnte man in dieses «wahre Konzil» auch die Fragen nach der massgeblichen Bibel, nach Machtgehabe, Massenveranstaltungen, Kleiderwesen, nach weltfremder Philosophie, abstrakter Moral einfliessen lassen. Zundel meint, es bräuchte ein «wirkliches Abstreifen alles Überflüssigen, eine wirksame und stets erneuerte Anstrengung, um die Strukturen umzuwandeln», und dies weltweit gemeint, aber gewiss auch auf die Kirche bezogen, jetzt, wo sie an einem Wendepunkt steht.

 

 

 

1 http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/speeches/2013/february/documents/hf_ben-xvi_spe_20130214_clero-roma_ge.html

2 Joseph Ratzinger kannte Maurice Zundel sehr wohl; er schrieb am 10. Oktober 1990 in einem Brief an P. Bernard de Boissière SJ, einen wichtigen Biografen Zundels, Zundel sei ein «geistlicher Meister unserer Zeit»: Claudio Dalla Costa: Maurice Zundel. Un mystique contemporain. St-Maurice 2010, 200.

3 www.mauricezundel.com : 27/01 au 05/02/2013 Conférence Paris 1966.

4 Marc Donzé: La pensée théologique de Maurice Zundel. Pauvreté et libération. Préface de René Habachi. Deuxième édition avec mise à j our de la Bibliographie. Paris-St-Maurice 1998 (1ère éd. Genève-Paris 1980/81).

5 Marc Donzé: La pauvreté comme don de soi. Essais sur Maurice Zundel. Paris- St-Maurice 1997, 9.

6 Tomas Halik: Geduld mit Gott. Freiburg-Basel-Wien 2011; vgl. meine Besprechung in: SKZ 181 (2012), Nr. 29–30, 493 f.; Tomas Halik: Nachtgedanken eines Beichtvaters. Glaube in Zeiten der Ungewissheit. Freiburg-Basel-Wien 2012.

Iso Baumer

Iso Baumer

Dr. Iso Baumer, geboren 1929 in St. Gallen, studierte Sprach- und Literaturwissenschaft und war als Gymnasiallehrer in Bern und Lehrbeauftragter für Ostkirchenkunde an der Universität Freiburg (Schweiz) tätig. Er befasste sich früh mit Theologie und verfasste viele Publikationen zur westlichen und östlichen Kirchengeschichte (religiöse Volkskunde, Ostkirchenkunde).