Benedikt XV., ein weitsichtiger, mutiger Papst

Am 22. Januar 1922 starb der sogenannte Friedenspapst. Benedikt XV. war überzeugt, dass ein Krieg nur durch die Versöhnung der Kriegsparteien beendet werden könne. Er setzte auf Neutralität und Diplomatie.

Zeitgenössische Karte mit dem Autograf von Papst Benedikt XV. (Bild: zvg)

 

Als Giacomo Della Chiesa am 3. September 1914 nach dreitägigem Konklave zum Papst gewählt wurde und sich den Namen Benedikt XV. gab, blickte Europa in einen Abgrund. Fünf Wochen zuvor hatte mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien der Erste Weltkrieg begonnen. An die Seite Wiens traten die Deutschen als Bündnispartner. Diesen sogenannten «Mittelmächten» stand die «Entente» mit Russland, Frankreich und Grossbritannien gegenüber (weitere Staaten kamen später auf beiden Seiten hinzu). Der neue Papst durchschaute besser als viele Zeitgenossen das Tragische dieser Konstellation: In diesem Konflikt bekämpften sich christlich geprägte Nationen bis aufs Blut. Einem Jugendfreund vertraute er an: «Die Katholiken, die auf mich hören müssten, fühlen sich eher als Belgier, Deutsche, Österreicher usw., als dass sie sich als Katholiken fühlen.» Der Krieg war daher in seinen Augen ein «Selbstmord der europäischen Zivilisation».

Klein von Gestalt, gross im Gebet

Wer war dieser Mann, der am 21. November 1854 in der Hafenstadt Genua geboren wurde? Er entstammte einer alten Patrizierfamilie, der Vater war Admiral zur See. Giacomo besuchte öffentliche Schulen, und als er schliesslich den Wunsch äusserte, Priester zu werden, bestand der Vater darauf, dass er zunächst ein Jurastudium absolvierte. Die juristischen Kenntnisse sollten ihm später als Papst zugutekommen. Nach Theologiestudium und Priesterweihe wurde er in der Päpstlichen Diplomatenakademie auf eine diplomatische Laufbahn vorbereitet. Hier lernte er seinen grossen Förderer, den späteren Kardinalstaatssekretär Mariano Rampolla del Tindaro kennen, den Architekten der Aussenpolitik Leos XIII. Della Chiesa wurde seine rechte Hand, fiel aber wie dieser unter dem neuen Papst Pius X. in Ungnade. Nach dem römischen Prinzip «Entfernung durch Beförderung» wurde er 1907 als Erzbischof nach Bologna geschickt. Dort hatte er Gelegenheit, pastorale Erfahrung zu sammeln und Leitungsverantwortung einzuüben.

Der spätere Papst zog aufgrund eines Geburtsfehlers ein Bein nach und das Gesicht war teilweise gelähmt (die meisten Porträts zeigen ihn mit einem Monokel im Auge, sodass dieser Makel nicht so auffällt). Überdies war er klein von Gestalt: Von den drei anlässlich der Papstwahl angefertigten weissen Gewändern (für einen grossen, einen mittelgrossen oder einen kleinen neuen Pontifex) war selbst das kleine noch viel zu gross für ihn. Er war äusserlich also nicht so ansehnlich wie sein Vorgänger Leo XIII., ein feinsinniger aristokratischer Greis, oder Pius X., ein umsichtiger Seelsorger auf dem Stuhl Petri. Doch auf solche Äusserlichkeiten kam es nun nicht an. Er wurde vielmehr wegen seiner politischen Erfahrung gewählt. Er hatte zu den engsten Mitarbeitern Leos XIII. gehört, unter dem der Heilige Stuhl elfmal zwischen verfeindeten Staaten vermittelt und seine diplomatischen Beziehungen ausgebaut hatte. Seine Wahl war also ein Plädoyer für eine vatikanische Friedensvermittlung.

Benedikt XV. betete unermüdlich um den Frieden. Sein Grabmal im Petersdom zeigt ihn vor den Schlachten des Krieges in innigem Gebet zu Maria, der «Königin des Friedens». Doch er beliess es nicht bei Gebeten. Wie es das nie zuvor in der Geschichte des Papsttums gegeben hatte, wurden nun im Vatikan humanitäre Aktivitäten aus dem Boden gestampft. Ein Suchdienst beantwortete brieflich eine halbe Million Anfragen zum Schicksal vermisster Soldaten. Die vatikanische Diplomatie vermittelte den Austausch von Verwundeten in neutralen Drittstaaten wie Dänemark oder die Schweiz. Wiederholt wurde für Zwangsarbeiter interveniert. So erstaunt es nicht, dass man den Vatikan seinerzeit als «Zweites Rotes Kreuz» bezeichnete.

Pontifikat im Schatten des Krieges

Es gehört zu den traurigen Begleiterscheinungen dieses Krieges, dass auch Christinnen und Christen ihn bejahten, ja bisweilen leidenschaftlich begrüssten. Besonders in den ersten Kriegsjahren beteiligten sich Katholikinnen und Katholiken in allen Ländern an der Rechtfertigung dieses Konfliktes. Man bewertete diesen als ein «Reinigungsbad», das die Menschen wieder zur Sittlichkeit führen werde, oder als «Schulbeispiel eines gerechten Krieges». Christinnen und Christen liessen sich für die Propaganda vereinnahmen, nach der jede Seite glauben konnte, angegriffen zu sein und die eigene Werte verteidigen zu müssen. Schaut man sich die öffentlichen Äusserungen dieses Papstes an, so fällt auf, dass er selbst keine Rechtfertigung gelten liess, diesen Krieg zu führen. Er verurteilte ihn vielmehr scharf, indem er ihn zum Beispiel ein «unnützes Blutvergiessen» nannte.

Im Krieg bestand er darauf, dass der Heilige Stuhl neutral bleiben müsse. Auch offenkundiges Unrecht der einen oder anderen Kriegspartei wurde nicht verurteilt. Bisweilen reagierte er durch geheime diplomatische Aktionen, etwa als er beim Sultan in Istanbul gegen den Völkermord an den Armeniern protestierte. Diese Neutralität war in seinen Augen alternativlos, wollte er die Chancen für eine Friedensvermittlung wahren. Seine grosse Stunde sah er im Jahr 1917 gekommen. Nach geheimen Sondierungen durch Eugenio Pacelli (den späteren Pius XII.) bei den Mittelmächten veröffentlichte er am 1. August 1917 seine berühmte Friedensnote («Dès les débuts»). Hier forderte er eine Rückkehr zum «Status quo» von 1914. Strittige Fragen sollten vor internationalen Gerichten geklärt werden. Die Mittelmächte reagierten unverbindlich, während Italien darauf bestand, dass die Entente dem Papst nicht einmal antwortete. So blieb dieser Vorschlag zunächst folgenlos, doch wurde er auf längere Sicht zur Initialzündung für die katholische Friedensbewegung. Der Papst hatte sich als weitblickende und mutige moralische Instanz bewiesen.

Auch nach 1918 blieb der Pontifikat von den Folgen des Krieges überschattet. So setzte sich der Papst wiederholt für die Menschen in den Verliererstaaten ein. Geldsammlungen kamen den hungernden Kindern zugute. 1920 zog er die Lehren aus dem Krieg, indem er die erste Friedensenzyklika1 der Kirchengeschichte veröffentlichte. Hier legte er dar, dass der Friede von Versailles Europa keine Ruhe bringen werde, da er den Verlierern einseitig die Schuld zuweise. Friede müsse immer auf Versöhnung der Kriegsgegner gründen.

CIC und Ostkirche

Naturgemäss blieb für innerkirchliche Aufgaben in diesen Jahren wenig Raum. In Benedikts Zeit fällt die Veröffentlichung des Codex des kanonischen Rechtes (CIC), des ersten universalen Rechtsbuchs der Kirche. Ein Anliegen war ihm die Verehrung des Wortes Gottes, das die Priester den Gläubigen erschliessen sollten. Nach der Machtübernahme der Kommunisten in Russland (1917) wandte er sich der Ostkirche zu, für die er in Rom ein eigenes Studienkolleg und eine eigene Kurienbehörde schuf. Die Verfolgung der griechisch-katholischen Christinnen und Christen in der UdSSR musste er noch miterleben. Ein Wermutstropfen seiner Regierungszeit ist das Verbot für Katholikinnen und Katholiken, sich bei Strafe der Exkommunikation an der noch jungen Ökumenischen Bewegung zu beteiligen.

Benedikt XV. war nach heutigen Begriffen ein Workaholic, der sich selbst keine Ruhe gönnte. Als Lombarde tat er sich mit dem Schlendrian an der römischen Kurie schwer. Der spätere Papst Paul VI. überlieferte, jener habe seine Mitarbeiter mit den Worten «presto, presto, presto» zur Eile angehalten. Noch an sein Sterbebett liess Benedikt sich Akten kommen. Er starb am 22. Januar 1922 an den Folgen einer Lungenentzündung.

Angesichts seiner Geradlinigkeit und moralischen Führungsstärke während des Ersten Weltkriegs mag man es bedauern, dass für ihn (anders als für die Mehrzahl der Päpste des 20. Jahrhunderts) niemals ein Seligsprechungsverfahren eröffnet wurde. Von daher war es eine schöne Geste, dass Joseph Ratzinger nach seiner Wahl zum Papst erklärte, er habe sich Benedikt XVI. genannt, um das Wirken des «Friedenspapstes» zu würdigen.

Jörg Ernesti

 

1 «Pacem, Dei munus pulcherrimum».

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Jörg Ernesti

Jörg Ernesti (Jg. 1966) studierte Philosophie und Theologie in Paderborn (D), Wien und Rom. Zunächst arbeitete er als Professor für Kirchengeschichte in Brixen (I). Seit 2013 ist er Professor für Kirchgeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Augsburg und seit 2019 Dekan.