Barmherzigkeit und Hoffnung umarmen sich...

Ein Kommentar zum Interview von Benedikt XVI.

Zwei grosse Worte mit reichem Lebensinhalt werden für das kirchliche Leben und für die Theologie in den letzten Jahrzehnten leitend: BARMHERZIGKEIT und HOFFNUNG. Beide eröffnen einen universalen Horizont; beide überschreiten alles, was ist; beide sind radikal praktisch. Ihre blassen Varianten – Mitleid und Optimismus – haben sich als unfähig erwiesen, unserer Zivilisation Orientierung zu geben. Barmherzigkeit und Hoffnung können nun wiederum ihre volle biblische Lebenskraft entfalten. Wo Barmherzigkeit und Hoffnung sich umarmen, wie es in Ps 85,11 von Gerechtigkeit und Friede heisst, ist das Leben lebenswert. Wie im 19. Jahrhundert in der Entstehung der katholischen Soziallehre, so sind es wiederum die Päpste, die in ruhiger, klarer Kontinuität einen neuen Ton angeben: Johannes Paul I., der Strahl der Menschenfreundlichkeit Gottes – Johannes Paul II., der politisch wirksame Papst – Benedikt XVI., der theologische Denker – Franziskus, der gute Hirte des Volkes Gottes.

Die Welt ist unbarmherzig und hoffnungslos geworden – nicht allein in der brutalen Form von Krieg, Hunger und Verbrechen, nicht allein in der «Härte der technisierten Welt», auf die Papst Benedikt anspielt, sondern in der alltäglichen Gestalt von Gesetz und (administrativer) Ordnung, die doch angetreten sind, dem Leben zu dienen. Recht und Verwaltung verzeihen nie. Selbst in ihren höchsten Akten haben sie nicht den Menschen, sondern die Prozedur selbst im Blick. Sie formen Menschen, die sich der Verantwortung für den Mitmenschen unter Berufung auf «das System» entziehen. Was der Mensch wirklich zutiefst braucht und ersehnt, kann er nicht einklagen.

Papst Benedikt konstatiert eine Wende, deren Tragweite für das Leben der Christen kaum überschätzt werden kann: Die unerträgliche Übermacht von Leid und Tod lässt unter der «dünnen Schicht der Selbstsicherheit und Selbstgerechtigkeit» einen neuen Advent hervorbrechen. Barmherzigkeit und Hoffnung werden zu Zeichen der Zeit. Die anthropologische Wende lässt sich nur in theozentrischer Perspektive vollenden: Nur die Liebe, die stärker ist als der Tod, kann das Unrettbare bejahen. Gott, der in radikaler Kenosis unsere «conditio humana» annimmt, stellt den Menschen und die ganze Schöpfung in ihrer Würde wieder her. Nicht in einer modernen Anklage gegen Gott, sondern in einer päpstlichen Enzyklika vollzieht sich die unerhörte Umwertung aller Werte: «Eine besondere Offenbarung seines Erbarmens ist es, wenn Gott seinen gekreuzigten Sohn dem Erbarmen des Menschen anempfiehlt» (Johannes Paul II.: Dives in misericordia Nr. 8).

In der Mitte der Weltgeschichte stehen sich die beiden grossen Repräsentanten der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit gegenüber: Pilatus und Jesus. «Die Welt in ihrer Vergänglichkeit will nicht Erlösung, sondern Gerechtigkeit. Und sie will sie eben deshalb, weil sie nicht erlöst werden möchte.»1 Wer Barmherzigkeit für sich einfordert, hat die gnadenlose Ordnung der Gerechtigkeit noch gar nicht überschritten. Thomas von Aquin betont: «Erbarmen ist das Mit-Leiden mit dem Leid des anderen. Deshalb geht das Erbarmen immer auf den anderen, nicht aber auf sich selbst (STh II–II, 30,1, ad 2).» Barmherzigkeit ist Ausdruck der Proexistenz, die Papst Benedikt als Mitte des Christseins aufweist. In der eschatologischen Krisis der Geschichte ist die «misericordia» nach Thomas die «Summe der christlichen Religion» («summa christianae religionis»: STh II–II, 30,4, ad 2). Sie braucht ihre grosse Schwester, die Hoffnung, um inmitten der «Traurigkeit» dieser Welt die Freude der Auferstehung zu bezeugen.

In diesem Horizont wird die Rechtfertigungslehre für alle Christen neu lesbar: Die Frage, ob ich auch anders gerettet werden kann als durch Jesus Christus im Glauben, ist überholt. Rechtfertigung meint schon bei Paulus nicht die Sicherung des eigenen Seelenheils, sondern die Wiederherstellung der «gerechten Ordnung» des Bundes, den Gott mit seinem Volk geschlossen hat und dessen Lebensquelle die Barmherzigkeit ist. Glaube und Kirche gehören unlöslich zusammen, wie Papst Benedikt betont. Die heute einzig relevante Frage lautet: Bezeugt die Kirche in einer unbarmherzigen und hoffnungslosen Welt Barmherzigkeit und Hoffnung, die sie selbst nur empfangen kann, indem sie sie weitergibt?

 

1 Giorgio Agamben: Pilatus und Jesus. Berlin 2014, 61.


Barbara Hallensleben

Prof. Dr. Barbara Hallensleben (Jg. 1957) ist Professorin der Dogmatik an der Theologischen Fakultät der Universität Fribourg und Direktorin des Zentrums für das Studium der Ostkirchen.