Authentische Spiritualität der Laien

Martin Grichting, Delegierter des Apostolischen Administrators des Bistums Chur, ist überzeugt, dass wir ein Denken überwinden müssen, das faktisch die Kirche mit ihrer Hierarchie gleichsetzt.

Sagen wir es offen: Derzeit wird in «synodalen Prozessen» und mittels ähnlicher Initiativen um die Macht in der Kirche gerungen. Und weil das Zweite Vatikanische Konzil daran festgehalten hat, dass zwischen dem Amtspriestertum und dem gemeinsamen Priestertum der Gläubigen ein wesenhafter Unterschied besteht (Lumen Gentium [LG] 10), geht es darum, diesen Unterschied wenigstens einzuebnen. Herangezogen werden dafür zwei Sätze aus LG 33, gemäss denen Laien zur Mitarbeit am Apostolat der Hierarchie berufen und von dieser mit Ämtern betraut werden können, die geistlichen Zielen dienen. Hinter dieser Politik steht freilich ein reduktionistisches Bild von Kirche, das «vorkonziliar» ist. Denn bis zum Zweiten Vatikanum wurde die Kirche gemeinhin faktisch mit ihrer Hierarchie, ihrer sichtbaren Struktur, identifiziert. Nur was diese tat, galt als «kirchlich». In der Taufe und der Firmung wurzelndes Engagement für die Anwendung des Evangeliums zur Verwandlung der Gesellschaft wurde demgegenüber kaum als kirchliche Sendung verstanden.

Durch die nachkonziliare Ausweitung von Laiendiensten und die Schaffung von Räten hat sich dieses klerikale, institutionalistische Kirchenbild noch akzentuiert. Sich für die Kirche zu engagieren, wird heute gemeinhin mit dem Wahrnehmen von Mitentscheidungskompetenzen gleichgesetzt. Und weil hier den Laien Grenzen gesetzt sind, spricht man von Diskriminierung. Gegen diese kämpft man an oder substituiert das vermeintlich Vorenthaltene mit staatskirchenrechtlichen Surrogaten.

Das klerikalistische Kirchenbild hat bis heute zur Folge, dass das Bewusstsein der Laien unterentwickelt ist, schon als Getaufte und Gefirmte − nicht erst durch die Übertragung eines kirchlichen Amtes − zur christlichen Umgestaltung der Welt berufen zu sein. Sie vermögen deshalb oft nicht, gerade darin ihre eigene genuin kirchliche Sendung zu erkennen. Papst Franziskus hat in «Evangelii gaudium» (102) auf die Folgen hingewiesen: «Auch wenn eine grössere Teilnahme vieler an den Laiendiensten zu beobachten ist, wirkt sich dieser Einsatz nicht im Eindringen christlicher Werte in die soziale, politische und wirtschaftliche Welt aus. Er beschränkt sich vielmals auf innerkirchliche Aufgaben ohne ein wirkliches Engagement für die Anwendung des Evangeliums zur Verwandlung der Gesellschaft.»

Welche ist angesichts dieser Diagnose die angemessene Therapie? Sie besteht in der Vermittlung einer authentischen Spiritualität der Laien gemäss der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils. Denn den zwei erwähnten Sätzen über die Mitwirkung einiger Laien am Apostolat der Hierarchie stehen im IV. Kapitel von LG 88 Sätze gegenüber, die sich mit der eigentlichen Sendung aller Laien befassen. Diese ist, wie die Sendung der Hierarchie, auch kirchliche Sendung. Denn die Laien sind «des priesterlichen, prophetischen und königlichen Amtes Christi auf ihre Weise teilhaftig» (LG 31), das geprägt ist von ihrem Verbundensein mit der «Welt». Es ist ihre kirchliche Sendung, in allen Facetten dieser «Welt» − Familie, Beruf, Politik, Medien, Freizeit, Kultur − als mündige Christen zu wirken, im eigenen Namen, in eigener Verantwortung und auf der Basis ihres christlich geprägten Gewissens. Ich bin überzeugt: Nur wenn wir das Zweite Vatikanum in diesem Punkt rezipieren und ein institutionalistisches Kirchenbild überwinden, wird die Kirche wieder eine die Gesellschaft prägende Kraft. Auch die fruchtlosen Machtdebatten werden dann ein Ende nehmen.

Martin Grichting


Martin Grichting

Dr. habil. Martin Grichting (Jg. 1967) ist seit 2009 Generalvikar und seit letztem Jahr Delegierter des Apostolischen Administrators des Bistums Chur. Er gehört der Herausgeberkommission der Schweizerischen Kirchenzeitung an.