Auf einen anderen Lebensstil setzen

Impulse aus der Enzyklika «Laudato si’» für einen prophetischen und kontemplativen Lebensstil

Seit mehr als einem Jahr gibt es auf politischen Druck hin bei den grossen Verkaufsstellen der Migros und von Coop keine Gratis-Einwegplastiksäcke mehr an der Kasse. Sie kosten neu 5 Rappen und müssen beim Kassierer verlangt werden. Anfang November 2017 wurden – genau ein Jahr nach der Einführung bei der Migros – die Verbrauchszahlen ausgewertet, mit klaren Ergebnissen: Der Verbrauch dieser Plastiksäcke ist bei beiden Detailhändlern um über 80 Prozent zurückgegangen. Verändern die Menschen ihr Verhalten nur übers Portemonnaie und aufgrund eines erschwerten Zugangs? Über neue Regelungen und Gesetze?

Motivationen für neues Verhalten

Angesichts der Umweltverschmutzung, sozialen Ungerechtigkeit und Ressourcen-verschwendung reichen für Papst Franziskus rechtliche Regelungen, aber auch technische Lösungen alleine nicht aus, um die Herausforderungen zu bewältigen, die sich aus der Umweltkrise ergeben. Es brauche – so in seiner Enzyklika «Laudato si’» (LS) – auch eine «Veränderung des Menschen, denn andernfalls würden wir nur Symptome bekämpfen» (LS 9).

Was bewegt den Menschen, sein Verhalten – ohne rechtliche Massnahmen – zu ändern? Welcher Impulse und Motivationen bedarf er?
Einen starken Impuls für Veränderungen sehe ich im Betroffensein: Sei es, dass der Mensch hautnah die Auswirkungen des Klimawandels und der Umweltverschmutzung erlebt; sei es, dass ihn Berichte über Naturkatastrophen oder den Plastikmüll in den Meeren berühren und zum Handeln bewegen, oder sei es durch Forschungsergebnisse, die die Dramatik und Dringlichkeit der sozialen und ökologischen Situation mit Fakten belegt aufzeigen. Dabei geht es nicht darum, «Informationen zu sammeln oder unsere Neugier zu befriedigen», sondern darum, das, «was der Welt widerfährt, schmerzlich zur Kenntnis zu nehmen, zu wagen, es in persönliches Leiden zu verwandeln, und so zu erkennen, welches der Beitrag ist, den jeder Einzelne leisten kann» (LS 19).

Als bemerkenswertes Beispiel hierfür ist an dieser Stelle auf die zwei Schülerinnen, Melati und Isabel Wijsen, aus Bali zu verweisen. Mit gerade mal zwölf und zehn Jahren gründeten sie 2013 die Initiative «Bye Bye Plastic Bags». Indonesien steht gleich nach China auf dem zweiten Platz in der jährlichen Produktionsmenge an Plastikmüll, der nicht nur die traumhaften Strände von Bali stark verschmutzt. Die Initiative und v. a. das vielseitige Engagement dieser zwei Schwestern führten dazu, dass der Gouverneur der Insel ein Gesetz unterschrieb, das ab 2018 Plastiksäcke auf der ganzen Insel verbietet (vgl. www.fairunterwegs.org).

Prophetischer und kontemplativer Lebensstil

Ein Wandel im Verhalten bringt eine Umgestaltung der persönlichen Wertepyramide mit sich. Einzelne Werte werden anders akzentuiert. Auf die Dauer führen andere Handlungen und Werte zu einem neuen Lebensstil. Auf den ersten Blick ist der Lebensstil eine private Angelegenheit, der jedoch nicht ohne breitere soziale, ökonomische und ökologische Wirkungen ist. Der Konsument bestimmt das Angebot mit und kann mit seinem bewussteren Verhalten die Produzenten veranlassen, sozial- und umweltverträglicher zu produzieren (vgl. LS 206).

Aber anderes Verhalten ist nur von Dauer, wenn es von tiefliegenden Beweggründen und Motivationen getragen ist. Religionen können solche tragenden Beweggründe liefern. Die christliche Spiritualität ermutigt nach Franziskus «zu einem prophetischen und kontemplativen Lebensstil» (LS 222). Was er darunter versteht, führt er in seiner Enzyklika gleich selber aus. Im Kapitel «Das Evangelium von der Schöpfung» wird deutlich, wie ein Mensch, der einen kontemplativen Lebensstil lebt, die Erde sieht und sich ihr gegenüber verhält. Zunächst sind die Erde und das ganze Universum als ein Geschenk wahrzunehmen (vgl. LS 76). Diese Sichtweise geht über eine naturwissenschaftliche Zugangsweise hinaus.

Neu lernen, zu staunen

Es gilt, die Fähigkeit zum Staunen (vgl. LS 225) und Innehalten neu zu lernen, und dabei die Mineralien, Pflanzen, Tiere und Menschen als Ausdruck der Liebe Gottes zu erkennen. «Das ganze materielle Universum ist ein Ausdruck der Liebe Gottes, seiner grenzenlosen Zärtlichkeit uns gegenüber. Der Erdboden, das Wasser, die Berge – alles ist eine Liebkosung Gottes» (LS 84).

Das Wertschätzen eines jeden Geschöpfs, vom Mikroorganismus bis zum Menschen, und das Erkennen ihrer Würde und ihres Eigenwerts sind Merkmale des kontemplativen Lebensstils. Das Mass, in dem der Mensch sie wertschätzt, bestimmt seinen Umgang mit ihnen, bestimmt sein Handeln und Verhalten (vgl. LS 11). Dieser Respekt den anderen Lebewesen gegenüber hat die Wertschätzung des eigenen Körpers zum Ausgangspunkt und bildet die Grundlage für eine Humanökologie, für eine Ökologie, die sowohl die Natur als auch den Menschen im Blick hat. Sie ist eine ganzheitliche Ökologie, die ökologische, ökonomische, soziale und kulturelle Aspekte umfasst (vgl. LS 137–155). Aus diesem Grund darf das staunende Innehalten vor der Schöpfung nicht als irrationaler oder naiver Romantizismus abgetan werden.

In der Enzyklika wird nicht nur der Wert der Schöpfung hervorgehoben, sondern ebenfalls jener der technologischen Entwicklungen (vgl. LS 102). Dankbarkeit gehört zu den Kennzeichen eines kontemplativen Lebensstils. Sie richtet sich auch auf die kreativen und innovativen Fähigkeiten der Menschen, auf die Entwicklungen in Medizin, Technologie, Wissenschaft, Kommunikation usw. (LS 102–103). Wer möchte auf die Zentralheizung, die Waschmaschine, die neuen wirksameren Medikamente in der Krebsbehandlung oder auf das iPhone verzichten? Und gleichzeitig macht Franziskus auf die Schattenseiten all dieser Entwicklungen aufmerksam. So erhebt er die prophetische Stimme.

Weniger ist mehr

Papst Franziskus benennt in einer deutlichen Sprache die sozialen und ökologischen Probleme und die hohe Dringlichkeit, sie von der Wurzel her zu lösen und sich nicht mit einer Symptombekämpfung zufrieden zu geben. Er legt den Finger auf die menschlichen Hindernisse, die inhumanen und umweltzerstörenden Entwicklungen wirklich zu sehen und ernst zu nehmen. Die Leugnung der gravierenden Probleme oder eine gleichgültige Haltung ihnen gegenüber entspricht nicht einem prophetischen Lebensstil (vgl. LS 14.59). Vielmehr sind Christen aufgefordert, eine wachsame Fähigkeit zu entwickeln, die Zeichen der Zeit zu erkennen, nach ihren menschlichen Wurzeln zu fragen und nach neuen Handlungsweisen zu suchen. Zum prophetischen Lebensstil gehört, genau hinzuschauen, das Positive zu erkennen und die Missstände und Fehlentwicklungen in einer klaren Sprache zu benennen.

Verstreut über die ganze Enzyklika fliessen individualethische Anregungen für sozial und ökologisch nachhaltiges Handeln im Alltag ein: sorgsamer Umgang mit Wasser, bewusster Einkauf und Recycling möglichst aller Produkte usw. Mein Lebensstil soll zu einem lebendigen prophetischen Zeichen werden. Die alltäglichen Handlungen verkörpern Werte. Als erstrebenswert werden Genügsamkeit, Demut und Einfachheit vorgestellt (vgl. LS 222–224). «Weniger ist Mehr» kann zur Handlungsleitlinie werden. Das Konsumverhalten wird zum prophetischen Zeichen; es weckt die Aufmerksamkeit und wirft bei Anderen Fragen auf. Weshalb lebst du so? Was motiviert dich, den zeitlichen, kräftemässigen und finanziellen Mehraufwand eines ressourcenschonenden Lebensstils auf dich zu nehmen?

Aber wie verträgt sich die neue «Genügsamkeit» des Konsumenten mit gewinnorientierter Wirtschaft? Sind dazu nicht neue wirtschaftliche Wertmassstäbe und Leitlinien vonnöten? Bedarf es nicht eines Paradigmenwechsels, der zu einem Leben fördernden Wirtschaften und zu einem sorgsamen Umgang mit Mensch und Natur führt?

Franziskus favorisiert eine Wirtschaft, die sich am Kreislauf der Natur orientiert (vgl. LS 22). Und wie Frau Prof. Dr. Frankenberger und Herr Takacs in dieser Ausgabe aufzeigen, ist das Modell der Kreislaufwirtschaft auch in gewinnbringender Hinsicht zukunftsfähig. Als systemisches Modell bezieht es über ökonomische Faktoren auch soziale, politische, kulturelle und ethische Aspekte ein. Es geht von einer grundlegenden und flächendeckenden Umgestaltung der Produktions- und Wirtschaftssysteme aus und nimmt den Menschen in seinem Konsumverhalten ebenfalls in den Blick. Ziel ist, den Wandel von einer ressourcenintensiven Produktion zu einem sorgsamen Umgang mit den natürlichen Ressourcen zu vollziehen. Das schliesst die Regeneration der Ressourcen und die drastische Reduktion der nicht wiederverwertbaren Abfälle ein.

Dieses Anliegen teilt auch das «Word Resources Forum». Es ist eine unabhängige, gemeinnützige internationale Organisation, die den Wissensaustausch über das Ressourcenmanagement zwischen Unternehmensführern, politischen Entscheidungsträgern, Nichtregierungsorganisationen, Wissenschaftlern und der Öffentlichkeit fördert. Ziel ist, ihre Vision einer nachhaltigen Ressourcennutzung weltweit in die Wirklichkeit umzusetzen. (https://www.wrforum.org). Zu einem solchen Dialog unter verschiedenen Partnern motiviert ebenso die Enzyklika «Laudato si’» (vgl. LS 163–201).

So gibt es viele konkrete, alltagsbezogene Einzelinitiativen, die zu einem grossen Projekt anwachsen können, wie jene von Melati und Isabel Wijsen, sowie internationale Initiativen, die Schritt um Schritt zum gemeinsamen Ziel führen: einen sorgsamen Umgang mit den Menschen und den begrenzten Ressourcen dieser Erde zu fördern, damit auch zukünftige Generationen auf diesem blauen Planeten ein Leben in Fülle haben.

Maria Hässig