Auf die Samenkörner der Gegenwart achten

Zukunftsvisionen von Kirche bestimmen das Handeln im Heute. Wie sieht dieses Heute aus? Es gilt, aufmerksam zu sein auf die Zeichen der Zeit, um die Chancen der Gegenwart nicht zu verpassen.1

Häufig wird der Mangel an Zukunftsvisionen für die Kirche beklagt. Dabei geht oft vergessen, dass jede Zukunftsvision, die diese Bezeichnung verdient und nicht bloss wolkige, unverbindliche Wunschvorstellungen formuliert, eine Intervention im Präsens ist, weil sie den Blick auf das Entscheidende lenkt. Dazu zwei biblische Beispiele:

Jenen, die ihn am Jordan aufsuchen, ruft Johannes der Täufer zu: «Schon ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt» (Lk 3,9). Eigentlich will diese Vision nicht voraussagen, dass der Baum gefällt wird. Vielmehr lautet ihre Botschaft: Wenn ihr euer Verhalten ändert und euer Herz für Gott öffnet, wird der Baum eures Lebens nicht umgehauen, sondern wird sein «wie ein Baum, gepflanzt an Bächen voll Wasser, der zur rechten Zeit seine Frucht bringt» (Ps 1,3). Verpasst diese Chance nicht, sondern ergreift sie, und zwar sofort!

Auch Jesu ganz anders gelagerte Vision vom Baum, «in dessen Zweigen die Vögel des Himmels nisten» (Lk 13,18) bezweckt nicht primär, unseren Blick auf die grosse Zukunft des Reiches Gottes zu richten. Vielmehr geht es ihr um das «Senfkorn, das ein Mann nahm und in seinen Garten säte» (Lk 13,19), also darum, die Chancen der Gegenwart nicht zu übersehen, die im Kleinen und Unscheinbaren liegen.

Rasender Stillstand

Weil es den Visionen um die Gegenwart geht, richtet sich auch mein Blick zunächst auf das Heute. Denn immer nur hier und jetzt entscheidet sich, ob der Baum der Axt zum Opfer fällt und ob die Kirche die Samenkörner der Gottesherrschaft sieht oder übersieht.

Zu dieser Gegenwart gehört, dass unsere Gesellschaft mit vielfältigen Umbrüchen und damit konfrontiert ist, dass alles immer schneller gehen soll, und man trotzdem nicht wirklich voranzukommen scheint. Der Zeitdiagnostiker Paul Virilio prägte dafür den Begriff «rasender Stillstand». Kein Wunder, dass sich auch die religiösen Organisationen schwertun mit der Entwicklung von Zukunftsperspektiven.

Zu dieser Gegenwart gehört auch, dass die Rolle der Religionsgemeinschaften in der Gesellschaft unterschiedlich gesehen und gewertet wird. Die einen beurteilen die Rolle der Kirchen und Religionsgemeinschaften in dieser heutigen Zeit positiv: In dieser unübersichtlichen, mit viel Unsicherheit und Stress verbundenen Zeit verweisen sie auf das Unverfügbare, das unserem Planen und Handeln entzogen ist. Sie würdigen auch ihr gesamtgesellschaftliches Engagement, das mancherorts mit öffentlichen Geldern finanziell entschädigt wird. Andere beurteilen die Rolle der Kirchen und Religionsgemeinschaften kritisch: Sie erinnern an ihr Gewaltpotenzial, das seine Wurzeln in religiösen Wahrheits- und Absolutheitsansprüchen hat. Den grossen Kirchen wird zudem vorgeworfen, sie verteidigten rechtliche und finanzielle Privilegien, ohne die sie ihren gesellschaftlichen Rückhalt gänzlich verlieren würden.

Die Grosskirchen, denen in der Schweiz vor 50 Jahren noch 95 Prozent der Bevölkerung angehörten, kommen heute noch auf einen Anteil von knapp 60 Prozent. In den Städten Genf und Basel sind es bereits unter 50 Prozent, in der Stadt Zürich sind die Konfessionslosen die grösste Gruppe. Die Kirchen sind auf dem Weg zur Minderheit. Gleichzeitig hat der interne Pluralismus ein Ausmass angenommen, das Religionssoziologen von Protestantismen und Katholizismen im Plural sprechen lässt.

Gott wird nicht mehr gebraucht

Diese Skizze wäre unvollständig, wenn sie nicht auch die Lage des Glaubens anspräche. Peter Sloterdijk, einer der wichtigsten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum, stellte sein Buch zum Thema Religion unter den Titel «Nach Gott». Er spricht etwas Zentrales an: Man «braucht» Gott heute nicht mehr. Jan Loffeld bemerkt gleich: «Das Erlösungsangebot des Christentums [wird] gesamtkulturell wie individuell weitgehend nicht mehr benötigt. […] Man merkt häufig gar nicht mehr, dass einem etwas fehlt, wenn Gott fehlt». Für Bischof Charles Morerod besteht die «grundlegende Herausforderung» darin, «einer Gesellschaft, die glaubt, nichts mehr davon erwarten zu können, zu zeigen, dass sich das Christentum lohnt». Wo die Sehnsucht nach Gott erlischt und der Eindruck entsteht, dass Gott nicht mehr notwendig ist, braucht es keine Kirchen mehr. Wer sich ernsthaft auf diese Lage des Glaubens einlässt, kann nicht mehr davon abstrahieren, dass «die Rede von Gott», so Joachim Valentin, immer nur «eines von mehreren Modellen der Wirklichkeitsbewältigung dar[stellt]».

In einer tiefgreifenden Krise

Angesichts dieser Situation ist es nicht erstaunlich, dass es Zukunftsvisionen für die Kirchen schwer haben. Die aktuelle Lage der katholischen Kirche weltweit und in der Schweiz schafft zusätzliche Komplikationen.

Erstens ist der Blick der Weltkirche nicht mehr primär auf die europäische, von Aufklärung, Reformation, Menschenrechten, Demokratie und Wohlstand geprägte Kultur gerichtet. Immer wichtiger und drängender wird, was in jenen Weltteilen geschieht, in denen Armut, Gewalt, Korruption und die Folgen des Klimawandels das Leben prägen und wo die katholische Kirche teils massiv von missionarischen Freikirchen konkurrenziert wird. In der Zukunftsvision der Weltkirche spielen die rund drei Millionen Katholiken aus der reichen, zunehmend entkirchlichten Schweiz nur eine geringe Rolle. Zudem ist die «Kirche Schweiz» keine ausschliesslich «helvetische» Wirklichkeit mehr, sondern von der Vielfalt der Weltkirche geprägt. Rund ein Drittel der Kirchenmitglieder haben eine Migrationsgeschichte. Viele Migranten-Seelsorger sind bestrebt, ihre Migrationsgemeinde von den Gefahren der «säkularisierten» Schweizer Kirche fernzuhalten. Die katholische Kirche in der Schweiz ist dank ihrer migrantischen Prägung also einerseits grösser, lebendiger und bunter, anderseits zusätzlichen kircheninternen Spannungen ausgesetzt.

Zweitens befindet sich die katholische Kirche in einer tiefgreifenden Krise, die meist als Missbrauchskrise bezeichnet wird. Mit dem Missbrauch von Vertrauen und Macht und der Zerstörung unzähliger Biografien meist junger Menschen ist ein katastrophaler Glaubwürdigkeitsverlust verbunden. Es steht zur Debatte, ob der Missbrauchsskandal dazu zwingt, sich als Kirche neu zu positionieren: In der Genderfrage und der Sexualethik, in Bezug auf fehlende Gewaltenteilung und ungenügenden Rechtsschutz für die Kirchenglieder. Ein «weiter wie bisher» ist in dieser Situation für viele undenkbar.

Drittens hat diese Krisensituation die Spannungen innerhalb der Kirchenleitung massiv verstärkt. Die Konflikte werden bis in die höchsten Hierarchiestufen in grosser Härte ausgetragen. Ein reformorientiertes Lager fordert, ermutigt durch Papst Franziskus, dass die Kirche den Klerikalismus und ihre vormoderne Ordnung überwindet. Ganz anders sehen es die Gegner seines Reformkurses. Sie orten das zentrale Problem in der Homosexualität und im sündigen Verhalten einzelner Amtsträger. Daraus folgern sie: Was bisher als «göttliche Ordnung» erkannt wurde, müsse nicht geändert, sondern durchgesetzt werden. Demzufolge brauche es keine Reformen und die Machtverhältnisse in der Kirche blieben gewahrt.

Umkehrruf – dringender denn je

Dieser Blick auf die Gegenwart legt eine kreative Verbindung der eingangs erwähnten Visionen nahe: Der Umkehrruf des Täufers ist dringender denn je. Aber Umkehr heisst nicht Rückkehr zur Kirche als grossem, starken Baum, sondern fordert einen neuen, jesuanischen Blick auf die unscheinbaren Samenkörner des Gottesreiches. Es geht – um ein Bild von Papst Franziskus zu verwenden – um den «Aufbruch zur verbeulten Kirche», nicht um die Rückkehr zum «Haus voll Glorie».

Die Hauptsorge soll erstens daher nicht zahlenmässiger Grösse gelten, sondern überzeugenden Impulsen zu Grundfragen des Lebens, tatkräftigem Engagement ihrer Mitglieder und spiritueller Leuchtkraft.

Zweitens geht es nicht um die Erhaltung oder gar Verteidigung gewachsener Strukturen als Selbstzweck, sondern darum, ihre Stärken und Möglichkeiten kreativ für diesen Aufbruch zu nutzen und nötigenfalls zu transformieren.

Drittens geht es nicht darum, die Reihen zu schliessen und «una voce» zu sprechen, sondern um ein «Konflikt- und Diversity-Management», das es ermöglicht, die spannungsreiche innere Vielfalt als Ressource zu nutzen.

Es gilt viertens, der radikal veränderten Lage des Glaubens Rechnung tragen. Das traditionelle christliche Alltagsbewusstsein schwindet, Christen brauchen eine «Mystik der offenen Augen», um ihre Mitverantwortung in Kirche und Gesellschaft wahrzunehmen.

Daniel Kosch

 

1 Der vorliegende Beitrag geht zurück auf ein Referat im Rahmen der Veranstaltungsreihe des Forums für Universität und Gesellschaft der Universität Bern zum Thema «Kirchen zwischen Macht und Ohnmacht» vom 16. Februar 2019. Das Referat in ganzer Länge ist zugänglich unter: www.zeitgemaess-glauben.at


Daniel Kosch

Dr. Daniel Kosch (Jg. 1958) ist seit 2001 Generalsekretär der römisch-katholischen Zentralkonferenz der Schweiz mit Sitz in Zürich.

 

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