Auf Augenhöhe mit vier Gestalten des (Un-)Glaubens

Jörg Stolz / Judith Könemann / Mallory Schneuwly Purdie / Thomas Englberger / Michael Krüggeler: Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft. Vier Gestalten des (Un-)Glaubens. (Theologischer Verlag Zürich) Zürich 2014, 281 S.

Eines sei vorweggenommen: Selten hat mir die Lektüre einer religionssoziologischen Studie hilfreichere Instrumente in die Hand gegeben. Der Hauptgrund liegt darin, dass ich die Situation des Glaubens und des Nicht- Glaubens in der Gegenwart annähernd begreifen möchte. Mit dem Buch "Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft" erhalten Interessierte Einblicke in eine durch die Forschergruppe aus der Schweiz neu erarbeitete Typologie und erklärend dazu ihre neue Theorie vom Wechsel des Regimes religiös-säkularer Konkurrenz seit den 1960er-Jahren. Ihre empirischen Beobachtungen überprüft die Gruppe überzeugend an zehn Hypothesen. Ein Gesamtbild entsteht, das den Blick auf die Veränderungen der bis vor wenigen Jahrzehnten noch religiös-einheitlicheren Gesellschaft frei macht.

Dazu wird reichhaltiges Datenmaterial nüchtern dargelegt und mit ausgezeichneten Grafiken ergänzt. Insgesamt gaben 1302 Interviewte in qualitativen und quantitativen Befragungen über ihre Einstellungen zu Religion und Spiritualität Bericht. 73 Kurzporträts von Befragten bilden als "qualitative Stichprobe" die variantenreiche Landschaft der vier religiösen Typen und Untertypen ab. Damit zeigt die Studie Typen des Glaubens und des (Un-)Glaubens, die sich seit dem Übergang zur Ich-Gesellschaft in den 1960er- Jahren soziologisch herausschälen lassen. Institutionelle (17,5%) geben christlichem Glauben und dessen Praxis grossen Stellenwert. Alternative (13,6%) weisen ganzheitlich-spirituelle Glaubensansichten und Praxis auf. Weiter glauben Distanzierte (57,4%) nicht etwa nichts und haben für sie nicht so wichtige "religiöse und spirituelle Vorstellungen", wohingegen Säkulare (11,7%) ohne jede religiöse Praxis und Glaubensüberzeugungen sind.

Alle Genannten verfolgen ihre je eigenen Werte. Insgesamt war denn auch im Verlauf der letzten 60 Jahre die Religiosität einem tiefgreifenden Wertewandel ausgesetzt. Religion hat im gesellschaftlichen Leben an Legitimationsfunktion verloren. Die "religiösen Anbieter", das sind in der Studie Kirchen, Freikirchen und Alternativ-Spirituelle, werden mehrfach herausgefordert, nachdem sie unterschiedlich wahrgenommen werden. Die Grosskirchen seien zwar "sinnvoll, aber veraltet und konservativ ". Kirchliche Pfarrer und Priester, von altmodisch bis "cool" taxiert, stehen Freikirchen und deren Pastoren gegenüber, welche als "lebendig bis gefährlich" beurteilt werden.

Die Forschenden wurden zudem "durch die Häufigkeit und Vehemenz (…) der kritischen Haltung gegenüber ‹Religion(en) an sich› überrascht". Auch werden "Personen mit fremder Religion" als "Regelverletzer und Störenfriede gesehen", was die emotionalen Reaktionen vieler Befragten erklärt. Die Ursachen solcher Wahrnehmungen liegen in religiösen Sub- Milieus, in Auseinandersetzungen in Medien und im Nahbereich. Differenzierungen gegenüber Andersreligiösen aber ergeben sich häufiger in persönlichen Kontakten. Die Zukunft der Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft wird in den Augen der Forschenden nicht zuletzt von Polarisierungen geprägt sein. Sie kommen zum Schluss, mit Blick auf den "inneren Frieden" gelte es auf "die Mechanismen der demokratischen Auseinandersetzung, des Rechtsstaates" ebenso zu setzen wie auf die "nie endende Suche nach Integration der gesellschaftlichen Gegensätze". Mein Fazit: Religion und Spiritualität sind je individuell gefärbt, bleiben der Kritik ausgesetzt und schöpfen ihre Berechtigung einzig aus glaubwürdigem Einsatz in der Gesellschaft. Anders ausgedrückt: "Eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts!" (Jacques Gaillot). 


Stephan Schmid-Keiser

Dr. theol. Stephan Schmid-Keiser promovierte in Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie. Nach seiner Pensionierung war er bis Ende 2017 teilzeitlich Redaktor der Schweizerischen Kirchenzeitung. (Bild: zvg)