Assyrer zum zweiten Mal vertrieben

In Nordostsyrien am Fluss Khabur haben IS-Extremisten Hunderte Christen entführt und Tausende Assyrer in die Flucht getrieben. Die Hakkari-Assyrer am Khabur, die 1915 aus dem Südosten der Türkei geflüchtet waren, hatten ihr Siedlungsgebiet 1933 vom Völkerbund in Genf zugesprochen bekommen. Nach dem Vormarsch der IS im letzten Sommer, als das Siedlungsgebiet der Assyrer im Ninive-Tal mit der grössten christlichen Stadt des Irak, Karakosch, den Terroristen in die Hände fiel und 140 000 Christen vertrieben wurden, steht nun ein weiteres grosses christliches Siedlungsgebiet des Nahen Ostens, das Tal des Khabur, wo einst 100 000 Christen in drei chaldäischen und 32 assyrischen Dörfern gelebt haben, vor dem Fall unter die Kontrolle des "Islamischen Staates" (IS). Am frühen Morgen des 23. Februar hatte die Terrororganisation mit einem Angriff auf das westliche Ufer des Khabur-Flusses in Nordostsyrien begonnen und zwölf christliche Dörfer auf der Westseite des Flusses im Handstreich genommen. Rund 4000 verzweifelten Menschen gelang die Flucht, sie flüchteten in die christlichen Kirchen der beiden Städte Qamishli und Hassakeh. Die nahe Türkei hatte ihre Grenze für die flüchtenden Christen, deren Urheimat die Türkei war, gesperrt. Die Türkei gilt trotz NATOMitgliedschaft als Rückzugs- und Nachschubraum der IS-Terroristen. Die Zahl der Entführten liegt unterschiedlichen Berichten zufolge zwischen 262 und 373, darunter ist die gesamte Bevölkerung des christlichen Dorfes Tel Shamiram. Unter den Geiseln sind auch viele Alte, Frauen und Kinder. Neun Christen der beiden christlichen Selbstschutzorganisationen Sutoro und "Wächter des Khabur" starben zusammen mit 40 Kurden bei Verteidigungskämpfen gegen die IS-Miliz. Unter den Toten der kurdischen Selbstschutzeinheiten YPG waren auch drei Bürger westlicher Staaten. Einige entführte Christen wurden nach einigen Tagen gegen Lösegeldzahlungen freigelassen. Die entführten Christen wurden von den IS-Terroristen in benachbarte arabische Gebiete, wo der IS schon seit vielen Monaten fest eingenistet ist, verschleppt. Man hofft, dass der IS den Rest der Geiseln gegen von den Kurden gefangene IS-Kämpfer freilässt. Dass der Khabur-Fluss zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder so hohes Wasser führte, dass ein Durchqueren des Flusses auch für die IS-Kämpfer nicht möglich war, hat vielen Bewohnern auf der rechten Flusshälfte wohl das Leben gerettet, aber für die Menschen aus der westlichen Seite des Flusses hat das Wasser den oft einzigen Fluchtweg versperrt, von daher die grosse Zahl der Verschleppten. Nach zwei Wochen Stellungskampf gelang dem IS am 6. März die Überquerung des Khabur-Flusses bei Tel Tamer, wo die einzige Brücke über den Khabur liegt. Allerdings ist es der Miliz zunächst nicht gelungen, die von 1000 kurdischen Peshmerga und einigen hundert christlichen Kämpfern verteidigte Hauptstadt des Khabur zu erobern.

Erstaunlicherweise hat die Internationale Anti-IS-Koalition trotz mehrfacher Appelle von Assyrern aus Europa und den USA nicht zur Unterstützung der Christen und Kurden in die Kämpfe eingegriffen, sondern nur die syrische Armee, die verhindern konnte, dass die Terroristen noch mehr Dörfer eroberten. Der Druck auf das christliche Khabur- Siedlungsgebiet war schon seit langer Zeit erwartet worden, immer wieder hatte es kleinere Angriffe des IS gegeben, weil durch das Khabur-Gebiet und die Brücke bei Tel Tamer eine wichtige Strassenverbindung von Al Raqqa nach Mosul führt, den beiden Zentren des IS. In Mosul erwarten die IS-Terroristen bald eine Offensive der irakischen Streitkräfte.

Christen verteidigen ihre Dörfer

Bereits vor zwei Jahren hatten sich unter den christlichen Assyrern im Khabur-Tal Selbstverteidigungseinheiten, die so genannten Sutoro (assyrisch "Schutz")- Milizen, gebildet. Diese hatten sich im April letzten Jahres in zwei verschiedene Gruppen gesplittet, Sootoro und Sutoro, wobei erstere dem Regime in Damaskus die Treue hielt und die andere sich militärisch den kurdischen Volksschutzeinheiten der YPG angeschlossen hat. In der Sutoro hat der Schweizer Johan Cosar mit assyrischen Wurzeln eine Führungsrolle. Der ehemalige Unteroffizier der Schweizer Armee wurde in St. Gallen geboren und hat seine Jugend im Tessin verbracht, vor drei Jahren war er zunächst als Journalist in die Heimat seiner Grosseltern zurückgekehrt. Beide christlichen Selbstverteidigungsmilizen umfassen etwa 1000 Mann, sind aber schlecht ausgerüstet. Vertreter der Assyrer in Europa verlangen jetzt auch von den Westmächten, dass sie die Sutoro-Einheiten ebenso mit modernen Waffen beliefern wie die kurdischen Peshmerga-Kämpfer im Nordirak.

Im Nordosten Syriens, in der Region Dschazire (d. h. die Halbinsel), stellen die Christen mit 20 Prozent ihren höchsten Bevölkerungsanteil in ganz Syrien. In der Dschazire lebten vor Ausbruch des Bürgerkrieges ca. 120 000 Christen, zu 90 Prozent Angehörige syrischer und armenischer Kirchen. Die meisten Städte der Dschazire wurden erst nach den Verfolgungen und den Massakern in der Türkei während und nach dem Ersten Weltkrieg durch Christen gegründet. Damals flohen die Christen zu den Franzosen, die in Syrien die Mandatsmacht stellten. Bis in die 1950er-Jahre bildeten die Christen in den meisten Städten der Region die Mehrheit der Bevölkerung. Seit der Bodenreform in den 1960er-Jahren nach dem Machtantritt des sozialistischen Baath-Regimes hat die Zahl der muslimischen Bevölkerung, insbesondere der Kurden, rasant zugenommen. Die Kurden und Assyrer kontrollieren seit dem mehrheitlichen Abzug des syrischen Militärs aus dem Nordosten Syriens im Sommer 2012 gemeinsam weite Teile der Region Dschazire als Enklave, wo erstmals in der Geschichte Syriens eine freie kurdisch-assyrische Selbstverwaltung entstehen konnte.

Seit vielen Monaten verübt der IS Verbrechen gegen die Menschlichkeit in immer grösser werdendem Ausmass. Das Bündnis der internationalen Gemeinschaft, das aus 40 Staaten besteht, hat es mit seinen Luftschlägen immer noch nicht geschafft, diese Terrorgruppe zu stoppen. Der UN-Menschenrechtsrat warf den Extremisten vor, systematisch Angehörige bestimmter ethnischer und religiöser Gruppierungen anzugreifen, um sie zu vernichten. Dazu gehören Jesiden, Schiiten, Aleviten, Kurden, Turkmenen und Christen. Assyrische Christen machen etwa fünf Prozent der Bevölkerung Syriens aus, unter den Christen stellen sie die Hälfte, sie gehören zur Syrisch-Orthodoxen Kirche, Syrisch-Katholischen Kirche, Assyrischen Kirche des Ostens und zur Chaldäischen Kirche.

Hakkari-Assyrer sind seit 100 Jahren auf der Flucht

Im 1. Weltkrieg hatten die Assyrer ihre Urheimat in den Hakkari-Bergen in der Südostecke der heutigen Türkei, wohin sie sich seit dem Aufkommen des Islams immer mehr zurückgezogen hatten, verlassen, weil sie für sich das gleiche Los befürchteten wie die Armenier. Es folgte eine zwanzigjährige Odyssee durch die Berge des Nahen Ostens. Mit ihnen zogen ihre Patriarchen der damals noch Nestorianer genannten Kirche, Mar Shimun Benjamin, Mar Shimun Boulos und Mar Shimun Eshai. Jahrhundertelang hatten die Patriarachen der Shimun-Familie ihren Sitz im Dorf Kutschanis bei Hakkari. Von dort wurde der Patriarchensitz dann nach Mosul, Zypern und schliesslich 1940 in die USA verlegt. Über einen Zwischenaufenthalt im Iran gelangten die Assyrer nach Baquba in den Irak, der damals noch britisches Mandatsgebiet war, aber 1932 völlig überraschend vom Völkerbund als selbständiger Staat anerkannt wurde. Im Sommer 1933 kam es in Baquba zu einem furchtbaren Massaker der irakischen Armee unter den Assyrern. Das diplomatische Schweigen und Vertuschen der Vorgänge funktionierte ähnlich effizient wie bei den Massakern an den Armeniern im Osmanischen Reich 1915–1919. Erst das Buch "The Tragedy of the Assyrians" des britischen Oberstleutnants Ronald Sampill Staffort, der Augenzeuge der Ereignisse geworden war, brachte die Tragödie der Assyrer ans Licht. Da die Engländer als ehemalige Kolonialmacht im Irak sich an den Metzeleien mitschuldig fühlten, betrieben sie auch die Hilfe für die notleidenden Überlebenden. Als der Patriarch Mar Shimun im Herbst 1933 nach Genf kam, wurde unter tätiger Mithilfe des dortigen Pfarrers Adolf Keller ein besonderes Hilfskomitee für die Assyrerhilfe gebildet, welches dem Europäischen Zentralkomitee für kirchliche Hilfsaktionen angeschlossen wurde. Die Verfolgten sollten aus dem Irak umgesiedelt werden, die Briten schlugen Britisch-Guayana als Aufnahmeland vor, weil die meisten Länder eine Aufnahme verweigerten. Schliesslich beschloss der Völkerbund die Ansiedlung von zunächst 4300 der noch 35 000 im Nordirak lebenden Hakkari-Assyrer im französischen Mandatsgebiet in Syrien, im Tal des Khabur, einer Gegend, in der schon 4300 vor den Massakern geflohene Assyrer lebten. Der Rest floh zusammen mit ihrem Patriarchen über Zypern in die USA und nach dem 2. Weltkrieg auch nach Australien und Europa. Ihre Siedlungen am Khabur bezeichneten die Assyrer bis heute als Camps, so wie sie 1933 vom Völkerbund bezeichnet worden waren. Nun haben die Assyrer auch diese provisorische Zwischenheimat wieder verloren. An eine Rückkehr, selbst wenn die Dörfer irgendwann einmal befreit werden sollten, denkt kaum noch jemand unter den Christen, vor allem, weil viele Nachbarbewohner der arabischen Dörfer den IS-Terroristen bei der Einnahme der christlichen Dörfer geholfen haben und damit ein weiteres Zusammenleben in der Region für die Christen unmöglich geworden ist.

 

 


Bodo Bost

Bodo Bost studierte Theologie in Strassburg und Islamkunde in Saarbrücken. Seit 1999 ist er Pastoralreferent im Erzbistum Luxemburg und seit 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Public Responsibility an der kircheneigenen Hochschule «Luxembourg School of Religion & Society».