Ars amandi

4. Sonntag im Jahreskreis: 1 Kor 12,31–13,13 oder 13,4–13 (Jer 1,4–5.17–19; Lk 4,21–30)

Mag sein, dass das Wort «Liebe» zu den am häufigsten benutzten, vielfach missverstandenen, bisweilen verzerrtesten Begriffen zählt, die die deutsche Sprache für uns bereithält. Wie viel lässt sich unter dem Begriff «Liebe» fassen! Das Bedeutungsspektrum ist weit. Was also meint Paulus, wenn er im berühmt gewordenen dreizehnten Kapitel seines Korintherbriefes die Liebe besingt? In einer gewissen Weise hatte es der Apostel leichter als wir. Denn im Gegensatz zum Deutschen kennt seine griechische Muttersprache eine Vielzahl von Wörtern und Begriffen, die das Wort «Liebe» differenzieren helfen: So bietet sich unter philein der allgemeinste Begriff für die Zuneigung eines Menschen an, im Sinne von «jemanden mögen »; daneben gibt es die Liebe, die zu den engsten Verwandten empfunden werden kann. Durch den Wortstamm Eros wird die wünschende geschlechtliche Liebe erfasst. Mit agapein ist schliesslich die ehrliche Hinwendung eines Menschen zum anderen um dieses anderen willen gemeint. Um Letztere geht es in 1 Kor 13, der Begriff fällt neunmal. Das «Hohelied der Liebe» preist die Hinwendung und das Dasein für die Menschen. Diese besondere Form des Liebens und des Geliebtwerdens wird in allen Facetten beschrieben. Sie setzt den Verzicht auf Prahlerei, auf Selbstsucht und Egoismus voraus. Sie bewährt sich in der Ausdauer und erweist sich in Beständigkeit. Glaube und Hoffnung sind ihre Geschwister. Solche Agape hört niemals auf. Im ersten Teil des Hohenliedes (1 Kor 1 3,1–3) stellt Paulus die vielen verschiedenen Charismen, von denen zuvor die Rede war, noch einmal auf den Prüfstand: Wenn sie letztendlich lieblos bleiben, sind sie wertlos. Echten Glanz erhalten sie erst im Licht der Agape. Im zweiten Teil des Liedes (1 Kor 13,4–7) wird darum das Wesen dieser Liebe besungen. In vielen inhaltlichen Entsprechungen zu den Eigenschaften Gottes wird deutlich, warum sie schlussendlich die grösste aller Geistesgaben ist: Wo Menschen sich ihr öffnen, bricht Gottes Herrschaft durch. Darum prägt die Liebe die Beziehung der Menschen zu Gott, aber auch das Verhältnis der Glieder des Leibes Christi zueinander als Dasein für andere. Es kommt nicht von ungefähr, dass Paulus mit diesem Hymnus seine voranstehenden Überlegungen über das Miteinander der an Christus Glaubenden abschliesst. Am Ende muss es das Band der Liebe sein, das die Einheit der Ekklesia ermöglicht, weil nur gegenseitige Achtung und wechselseitiger Respekt Kennzeichen einer Gemeinschaft sein können, die sich vom Geist Gottes bestimmt weiss. Überfordert der Apostel die Christinnen und Christen seiner Gemeinde? Inwiefern liesse sich Agape einfach verordnen? Inwiefern könnte sie Möglichkeit und Tat eines Menschen sein? Paulus ist kein Utopist. Für ihn ist unmissverständlich klar, dass alle menschliche Liebe nur Antwort auf Gottes grössere und entschiedenere Liebe sein kann, Widerschein und Weitergabe dessen also, was zuvor selbst empfangen wurde. Die Agape, von der Paulus spricht, gründet im Geliebtwerden, genauer: in der proexistenten Hingabe des Gekreuzigten, der die Menschen in unermesslicher Tiefe und Weite geliebt hat (Gal 1,4; 2,20). Darum ist die Liebe für den Apostel zuerst und vor allem eine «Frucht des Geistes» (Gal 5,22), womit noch einmal unterstrichen ist, dass Menschen sie nicht von sich aus verwirklichen können. So gewiss Gottes schenkende Liebe aber das erste und der Grund aller christlichen Liebe ist, so gewiss wird sie zugleich gefordert (vgl. 1 Kor 14,1; 16,14). Sie ist Gabe und Geschenk, zugleich Gebot und Verpflichtung, eben ein Weg, wie es hier ausdrücklich heisst.

Paulus im jüdischen Kontext

Die hebräische Sprache unterscheidet nicht zwischen Eros und Agape. Zur Bezeichnung der Liebe steht die Wurzel ’âhab zur Verfügung. Sie wird, wie im Deutschen, sowohl mit Bezug auf Personen als auch auf Dinge und Handlungen verwendet und zeigt neben dem profanen auch einen religiösen Sprachgebrauch. Die griechische Übersetzung der hebräischen Bibel hat das ’âhab nahezu durchgängig mit agapein wiedergeben. Das AT reflektiert jedoch zu Beginn weniger die Liebe Gottes und mehr sein erwählendes Handeln, vor allem an seinem Volk Israel, mit dem er einen Bund geschlossen hat (Ex 24). Die Propheten führen zur Umschreibung dieses Handelns das Motiv der Liebe Gottes ein: Jahwe wirbt in unermesslicher Liebe um sein liebloses Volk (vgl. Jer 2,1; 31,3; 3, 6–10; Jes 54, 4–8). Das Gottsein Gottes äussert sich nach Hosea nicht in seiner womöglich strafenden Macht, sondern in der Entschiedenheit seiner Liebe, die aller menschlichen Liebe voransteht. Das Deuteronomium ist von dieser prophetischen Betonung der Liebe Gottes beeinflusst. Während jedoch bei den Propheten Jahwes Liebe der alleinige Grund für sein unerhofftes Heilshandeln an seinem verlorenen Volk ist, dient im Deuteronomium der Hinweis auf Jahwes erwählende Liebe als Begründung für die Ermahnung an Israel, jetzt seinerseits ihn zu lieben und seiner Weisung zu folgen (Dtn 7, 6–11). Es liegt eine wahrnehmbare Entwicklung vom Zuspruch zum Anspruch vor (vgl. Dtn 7,13; Dtn 10,14 ff.; Ex 20,10; 22,20). Im hellenistischen Judentum mischt sich der vorherrschende Einfluss des AT mit griechischem Geist. Oft ist von der Liebe Gottes die Rede. Er liebt seine Schöpfung, am meisten liebt er sein Volk (Ps Sal 18,4; vgl. JosAnt 8,173). Die Agape wird zum Zentralbegriff für die Beschreibung des Gottesverhältnisses. Vor allem für die Weisheitsliteratur ist die Barmherzigkeit der Weg, Gottes Liebe hervorzurufen. Wer die Weisen behandelt wie ein Vater, der wird von Gott geliebt wie ein Sohn (Sir 4,10f; vgl. Test N 8,4.10). Die wechselseitige Treue zwischen Gott und Mensch ist Liebe (Bel 37 (38); 4 Makk 16,19 ff.; 15,2). So schliesst sich mit der Liebe Gottes die Liebe zu Gott zusammen. Der Ursprung aber liegt in Gott. Die Liebe, durch die sich die Frömmigkeit der Menschen Ausdruck verleiht, ist Gottes Gabe (ep Ar 229). Ebenso wichtig ist die Liebe zu den Mitmenschen (ep Ar 227). Auch sie ist in Gott selbst verwurzelt.

Heute mit Paulus im Gespräch

Gegenwärtig wird gelegentlich diskutiert, ob die Welt, in der wir leben, nicht viel friedlicher sein könnte, wenn es keine Religion gäbe. Der fortwährende Streit um den rechten Glauben und die richtigen Glaubensvollzüge habe Intoleranz und Gewalt unter den Menschen nicht etwa gebannt, sondern beflügelt. Für den christlichen Glauben zeigt sich von seinen Ursprüngen her, dass das so nicht sein kann. Im Gegenteil: Paulus schreibt den an Christus Glaubenden für alle Zeiten ins Gedächtnis, dass es keinen Glauben ohne Liebe gibt. Diese Liebe bleibt nicht vage oder diffus. Sie äussert sich im bedingungslosen Respekt vor allem, was lebt. Im festen Willen, keinem Geschöpf schuldig zu bleiben, was es zum Leben braucht. Und sie zeugt darin von einer Entschiedenheit, die ihren letzten Grund findet in der Entschiedenheit jenes Gottes, der den Glauben allererst ermöglicht, weil er selbst die Liebe ist (vgl. 1 Joh 4,8) und die Menschen liebt.

Robert Vorholt

Robert Vorholt

Prof. Dr. Robert Vorholt (Jg. 1970) wurde in Münster/Westfalen (D) geboren, studierte in Münster und Paris, ist Priester, seit 2012 ordentlicher Professor für Exegese des Neuen Testaments und seit 2017 Dekan der Theologischen Fakultät an der Universität Luzern.