Armenien-Genozid entzweit Türkei und den Papst

Die Kirche hat keine Angst, die Dinge beim Namen zu nennen." So Papst Franziskus am Montag, 13. April 2015, in seiner Morgenpredigt. Zwar bezog er sich dabei auf die Worte der Apostel nach der Auferstehung Jesu: "Wir können nicht schweigen über das, was wir gehört und gesehen haben." Aber selbst Radio Vatikan verwies dabei prompt auf den tags zuvor ausgebrochenen Streit mit der Türkei: Franziskus beweise Mut zur Direktheit. Er halte an einer brisanten Äusserung bei der Messe mit den Armeniern fest – obwohl er damit Ankara empörte. Was war geschehen? Im vergangenen Jahrhundert, so der Pontifex am 12. April 2015 bei einem Gottesdienst im Petersdom im Beisein hoher armenischer Amtsträger, hat die Menschheit drei beispiellose Tragödien erlebt: "Die erste war der Genozid, der euer armenisches Volk, die erste christliche Nation, betroffen hat (…), die anderen waren jene, die vom Nazismus und vom Stalinismus verursacht wurden." Damit geisselte Franziskus die Verfolgung und Vernichtung von etwa 1,5 Millionen (überwiegend orthodoxen) Armeniern durch das Osmanische Reich 1915/1916.

Obwohl sich die Kritik also gegen die Türken von anno dazumal richtete, löste sie wütende Reaktionen der türkischen Wortführer von heute aus. Denn im Land des Halbmonds wird jeder, der für das Drama der Armenier den Begriff Völkermord verwendet, mit Gefängnis bestraft – "wegen Schmähung der türkischen Identität". Sogleich begann denn auch ein türkisches Trommelfeuer gegen den Papst. Verleumdung, ja sogar Lügen, Provokation, Unsinn und Behauptungen ohne Rechtsgrundlage warf man Franziskus vor. Aus Protest rief Ankara seinen Botschafter beim Heiligen Stuhl zurück. Aussenminister Cavusoglu entrüstete sich, der Pontifex würde durch seine Äusserung "Moslems und Türken gegenüber den Christen diskriminieren". Deshalb seien "weitere Massnahmen" gegen den Vatikan denkbar. Und am Dienstag, 14. April 2015, drohte Präsident Erdogan: Der Papst "soll seine Worte ja nicht wiederholen!".

Logisch, dass auch der Grossmufti Mehmet Gormez, die höchste (sunnitische) religiöse Autorität der Türkei, in den Protestchor einstimmte. Er attackierte: Der Vatikan lasse sich in dieser Frage von der Lobby der Auslandsarmenier beeinflussen. Durch die Erklärung des Papstes, so der Grossmufti, wachse das Risiko, "dass die Kluft zwischen Christen und Moslems in der jetzigen so kritischen Phase noch grösser wird". Sind die versöhnlichen Töne beim Papstbesuch im November 2014 in der Türkei also ganz vergessen? So scheint es. Schon Johannes Paul II. hatte zunächst im November 2000 und dann bei seiner Armenien-Reise im September 2001 den Begriff Genozid gebraucht. Und genau genommen hat Papst Franziskus am 12. April 2015 nur diese Erklärung seines Vorgängers zitiert und zustimmend wiederholt. Wie auch immer, die Türkei ist in dieser Frage extrem empfindlich. Sie bestreitet radikal, dass es sich 1915 um geplanten Massenmord gehandelt habe. Der Begriff Genozid, Völkermord, so betont das Aussenministerium in Ankara, sei ein "juristisches Konzept", das von den zuständigen internationalen Gerichten zwar für die Tragödien in Bosnien und Ruanda, aber nicht für die Ereignisse 1915/1916 in Armenien festgestellt wurde. Denn es habe sich keineswegs um die geplante Vernichtung eines Volkes oder einer Volksgruppe gehandelt, sondern um ein Unglück, eine Verquickung tragischer Umstände.

Zwar haben die Parlamente in über 20 Ländern, darunter Deutschland, Frankreich, Italien und Russland, (laut römischen Presseberichten) präzise Erklärungen gebilligt, die im Blick auf das armenische Massaker ohne Umschweife von Genozid sprechen. Und am 15. April 2015 forderte sogar das Europäische Parlament in einer Resolution die Türkei auf, die Greueltaten von 1915/1916 als Völkermord anzuerkennen. Dass auch der weltweit angesehene Katholikenführer Franziskus nun den Begriff Genozid verwendet, findet Ankara skandalös.

Freilich: Der Verdacht besteht, dass die türkische Polemik gegen den Papst auch oder sogar vornehmlich innenpolitische Gründe hat. Wie das? Weil am 7. Juni 2015 Wahlen anstehen und Präsident Erdogans gemässigt-islamische Partei AKP ihre Vormachtstellung sichern will, indem sie (grob gesagt) auf die nationalistische Pauke haut. Dazu gehört, dass Ankara die Armenien-Resolution des EU-Parlaments höhnisch zurückweist – und den Pontifex angreift. Franziskus, alias Jorge Mario Bergoglio, pflegte schon als Erzbischof von Buenos Aires guten Kontakt zu der dort starken armenischen Diaspora-Gemeinde. Aber den Vorwurf Ankaras, dass er hinsichtlich der Tragödie von 1915 auf die armenische Propaganda hereinfiel, weist der Vatikan als "absurd" zurück. Tatsache ist allerdings, dass es im ohnehin schwierigen Dialogversuch der Kirchenspitze mit dem Islam jetzt einen weiteren Konfliktstoff gibt. Und das, heisst es im Pressesaal des Heiligen Stuhls, sei sicher nicht im Sinn des Papstes. "Er hat das Martyrium der Armenier nur als Beispiel für die vielen schockierenden Christenverfolgungen in Asien und Afrika genannt."

 

 

 

 

Bernhard Müller-Hülsebusch

Bernhard Müller-Hülsebusch

Dr. Bernhard Müller-Hülsebusch, seit vielen Jahren Korrespondent von deutschen und schweizerischen Medien in Rom und Buchautor, beschäftigt sich vor allem mit Themen rund um den Vatikan