Annehmen – aufnehmen – integrieren

Wer immer die folgenden Seiten liest, hat schon eigene Erfahrungen gemacht mit Minderheiten, persönlich, vom Hörensagen, durch die Medien, im Studium. Das gilt für die Schweiz in besonderem: in sprachlicher, religiöser und politischer Hinsicht geraten wir vor solche Probleme (am auffälligsten das Rätoromanische; je nach Kanton ist bzw. war die eine der Grosskirchen überwiegend; kleine Parteien streben nach oben und setzen sich vielleicht durch). Heute stehen wir vor den Folgen grundlegender geopolitischer Umwälzungen in aller Welt, v. a. mit den zwei Weltkriegen im 20. Jahrhundert. Die Bevölkerungen durchmischen sich; während die Juden beinahe nicht mehr auffallen, steht der Islam dauernd in der Debatte, und der Streit geht darüber, ob Religon überhaupt mehr und mehr verschwinde, jedenfalls zur Bedeutungslosigkeit absinke. Keinesfalls, besagen neuere Studien. Und so taucht die Frage auf, ob die Religion(en) einen Beitrag leisten können zur Integration sich ständig neu präsentierender Minderheiten – oder eher schädlich sind dafür. Dieser Frage stellt sich ein Buch,1 herausgewachsen aus einer Vortragsreihe der Universität Luzern, betreut von fünf Professoren (ein Fundamentaltheologe, ein Religionswissenschaftler, ein Professor für Politik und Religion, ein Dogmatiker und ein Kirchengeschichtler) und geschrieben von elf erstrangigen Autoren aus dem In- und Ausland, die – wie die jedem Beitrag nachgereichte Bibliograpfie zeigt – nicht nur alle Ergebnisse der zuständigen Wissenschaften verarbeitet haben, sondern selber in eigener Forschung und Lehre dazu beitragen.

Eigene Erfahrungen

Darf ich hier ein paar autobiografische Hinweise geben, einfach weil sie direkt mit dem Thema zu tun haben, dem sich das genannte Buch widmet? Ich bin in der Stadt St. Gallen aufgewachsen, wo sich Katholiken und Reformierten vor 70, 80 Jahren eher vorsichtig begegneten, immerhin aber «freundeidgenössisch» (auf dem Land auch etwa feindselig). Ich folgte drei Semester lang dem Hebräisch-Unterricht an der Kantonsschule und besuchte mit einem Klassenkameraden am Laubhüttenfest den Synagogen-Gottesdienst, nach vorgängiger umfangreicher Information durch den Rabbiner; so blieb ich fortan von jedem Anhauch von Antisemitismus verschont. In meinem späteren Beruf als Gymnasiallehrer hatte ich eine sehr diskrete muslimische Kollegin, mit der man aber nie religiöse Fragen besprach. Im Militärdienst hatte ich einen kulturell feinsinnigen Kameraden, mit dem ich nach Anordnung des Quartiermeisters auch bisweilen das Zimmer teilte; erst später erfuhr ich durch das abfällige Reden eines anderen Offiziers, dass er homosexuell war. In einer Lektüre mit meinen Schülern konnte ich das heikle Thema der doppelten Ausgrenzung – durch das Judentum und die Homosexualität – an der Erzählung «Die Brille mit Goldrand» von Giorgio Bassani verdeutlichen. Später wirkte ich im Institut für Ökumenische Studien an der Universität Freiburg und hatte Gelegenheit, viele Freunde aus den verschiedensten christlichen Kirchen kennen zu lernen (Reformierte, Christkatholiken, Orthodoxe, Armenier), und meine Reisen liessen mich Einblick in weitere Kirchen und Religionen gewinnen.

Wir kennen die Streitpunkte, die heute die Integration «Anderer» erschweren, vergessen aber, dass Ähnliches früher auch geschah. 1951 durfte wegen eines Stadtrats-Verbots die Dreikönigskirche in Zürich Enge keinen Turm errichten. Seit 2009 ist es in der ganzen Schweiz verboten, Minarette zu bauen, so wie es in Arabien verboten ist, Kirchtürme zu erstellen. Noch in den 50er-Jahren spottete ein Bataillonsarzt über die Juden in der Armee, indem er sie «Präputiaten» nannte wegen der Vorhaut-Beschneidung, und die Fleischkonserven hiessen «gestampfte Juden». Wegen der Beschneidung können sich noch heute ganze deutsche Bundesländer ereifern. Und unter dem Vorwand der Überbevölkerung werden hochpolitisch Vorurteile geschürt, die eine erschreckende Unkenntnis der Sachlage offenlegen.

Was ist die Sachlage?

Diese «Anderen» können Schweizer oder Zugewanderte sein, die ihre angestammte Religion wechseln oder eine «fremde» mitbringen und sie aufgrund der menschenrechtlich garantierten Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit bekennen, ausüben, für sie werben und sie wechseln oder ablehnen können. Dieses Recht stösst wie jedes Recht auf konkurrenzierende Rechte. Dürfen muslimische Mädchen Kopftücher tragen, müssen katholische Lehrerinnen ihr Halskreuz abhängen, verletzen Kruzifixe in öffentlichen Gebäuden den religiösem Frieden, muss man Gipfelkreuze umhauen?

Auszugehen ist immer vom grundlegenden Recht und dann zu sehen, wo und wie es begrenzt (nicht abgeschafft) wird. Man weiss, dass die katholische Kirche dieses allgemeine Menschenrecht eigentlich erst seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil offiziell anerkennt; von der absoluten Verdammung («der Irrtum hat keine Rechte») über die Akzeptanz, wenn sie für die eigene Religion gefordert werden konnte, bis zur uneingeschränkten Annahme war ein weiter Weg. Es gibt immer noch Leute, die behaupten, die Kirche habe in dieser Hinsicht «eigentlich» keine Kehrtwendung gemacht, es gehe nur um eine nuancierte Stellungnahme zu staatlichen Gesetzen. Es ist aber klar, dass ein Bruch in der Lehre entstand, der Schritt vom Recht von Wahrheiten zum Recht von Personen. «Wahrheiten» können immer bestritten werden, «Menschenwürde», wenn es mit rechten Dingen zugeht, jedoch nicht. Dass sie nicht überall und immer geachtet wird, ist leider nur allzu bekannt.

Was man lernen kann

Die Kirche (als Lehr- und Hirtenamt) ist weitgehend eine normative Institution: Sie lehrt, was zu glauben ist, und mahnt das an, was zu tun ist. Es wäre aber immer wieder gut, darauf zu achten, was einfach der Fall ist, also statt normativ schlicht feststellend und erklärend zu wirken. Im Hinblick auf die nächste Bischofssynode hat der Vatikan das erste Mal diese Methode durch Befragung der Gläubigen ausprobiert. Um etwas zu verstehen, empfiehlt es sich, zu sehen, wie es geworden ist. Seit Beginn der Neuzeit sind weltweit grosse Reiche am Zerfallen, die katholischen Stammlande in der Schweiz lösen sich auf, und die Diaspora wird eine neue Realität. Die einst kompakte Gesellschaft zerfällt in viele soziale Gruppen, die immer am Werden sind, stets in sich differenziert. Ein Individuum gehört meist mehreren Gruppen an (konfessionell, beruflich, bildungsmässig, finanziell, militärisch usw.).

Ein neuer Begriff taucht auf: das Sozialkapital – etwas, wovon die Gesamtgesellschaft «zehren» kann, geäufnet durch die Mitgliedschaft und Aktivität in Freiwilligengruppen, wo man soziales, zwischenpersönliches Vertrauen erfährt. Regelmässig auftretende Kirchenchöre lösen sich auf, aber Ad-hoc-Chöre bilden sich in munterer Vielfalt für bestimmte zeitlich begrenzte Projekte. Ein Mitglied solcher Gruppen ist nicht mehr unbedingt stramm eingebunden in die Struktur der Kirche. Ich erinnere mich an die Missbilligung eines Bischofs, der bei einem ostkirchlichen Chor Mitglieder feststellte, die nicht «aktiv» katholisch waren; Übertritt vom Katholizismus zur Orthodoxie nannte er im privaten Gespräch «Apostasie» (Glaubensabfall!). Ich erinnere mich an die oft erhobene Forderung, Glauben und (womöglich orthodoxe) Kirchenmitgliedschaft seien Voraussetzung für die Teilnahme an Ikonenmalkursen; der Leiter der Ikonenkurse, an denen ich teilnahm, meinte dagegen, Glauben und Zuwendung zur Kirche könnten ja gerade durch die Teilnahme an den Kursen entstehen und wachsen!

Wesentlich ist, dass sich Staat und Religion auf rechtlicher Grundlage zusammenfinden. Es gibt hier drei Varianten: die vollständige Trennung (ungefähr wie in Frankreich), die Unterordnung (Staat unter die Kirche oder Kirche unter den Staat), die Kooperation (v. a. in Demokratien). Das Problem ist, dass die Grundrechte, die Gesetzgebung und die Mentalität der Bevölkerung oft auseinanderdriften. Hier bricht die ganze Problematik des Islam (aber auch des Judentums) auf. Es fällt vielen schwer, «die Juden» und den israelischen Staat auseinanderzuhalten (selbst für Juden in Israel!), oder die islamistischen Fundamentalisten von den gemässigten und «normalen» Islam-Gläubigen zu unterscheiden, und doch ist das grundlegend. Jeder gute Wille, integrationswillig miteinander in Dialog zu treten, ist von Konflikten bedroht, und da kommt es darauf an, Regeln zu haben, die mithelfen, die Konflikte zu mässigen und zu beseitigen. Damit Minderheiten angenommen, aufgenommen und integriert werden können, müssen sich beide Seiten anstrengen. Eine unaufhörliche Information auf solider Kenntnisgrundlage ist dringend vonnöten. Dazu kann ein Buch wie das vorliegende bestens verhelfen.

1 Edmund Arens / Martin Baumann / Antonius Liedhegener / Wolfgang W. Müller / Markus Ries (Hrsg.): Integration durch Religion? Geschichtliche Befunde, gesellschaftliche Analysen, rechtliche Perspektiven (= Religion – Wirtschaft – Politik, Bd. 10). (Pano und Nomos) Zürich / Baden- Baden 2013, 261 S.

Iso Baumer

Iso Baumer

Dr. Iso Baumer, geboren 1929 in St. Gallen, studierte Sprach- und Literaturwissenschaft und war als Gymnasiallehrer in Bern und Lehrbeauftragter für Ostkirchenkunde an der Universität Freiburg (Schweiz) tätig. Er befasste sich früh mit Theologie und verfasste viele Publikationen zur westlichen und östlichen Kirchengeschichte (religiöse Volkskunde, Ostkirchenkunde).