«Angerufen von dem, was noch nicht ist»

Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz ist Mitherausgeberin des Gesamtwerkes und beschäftigt sich schon sehr lange mit Romano Guardini. Persönlich lernte sie ihn nicht mehr kennen. Es gab aber fast eine Gelegenheit ...

... Angekündigt war ein Abendvortrag im Jahr 1966, aber diesen musste Guardini krankheitshalber absagen. Das Auditorium Maximum der Universität München war lange vor Beginn voll. Auch nach seiner Emeritierung 1962 hielt er Vorträge, die von sehr vielen Menschen besucht wurden.1

SKZ: Was fasziniert Sie je neu an Guardinis Person und Werk?
Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: Guardini denkt u. a. altvertraute Glaubenssätze ungewohnt neu. Nicht modisch, sondern tief und oft an der Grenze der Erschütterung. Victor von Weizsäcker, ein Hörer seiner Vorlesungen an der Universität in Berlin, meinte, andere Dozenten seien imposant, auch liebenswert, aber Guardini sei ergreifend. Wörtlich: «Immer muss er einen Ketzer an seine Brust drücken und mit ihm ringen.» Dieser geistige Kampf, die Kraft der Klärung, ist ungewöhnlich stark und hat die Hörsäle auch mit vielen Ungläubigen gefüllt, die zum ersten Mal begriffen, was Christentum heisst. Dabei war Guardini von der Anlage her nicht kräftig und immer wieder krank: Asthma, Magen, Nerven. Nur eine grosse Mässigkeit hielt ihn am Leben, verbunden mit einer tiefen Sammlung auf Gott hin.

Worin liegt die Grösse seines Denkens?
Guardini wurde immer unbestechlicher, was Wahrheit und Lüge anging, gerade in den zentralen Glaubenswahrheiten, die er im Widerspruch zu den damaligen politischen Ideologien las und predigte. Bei ihm wird Glaube zur Sprache der Leidenschaft. Allerdings ohne aufdringliche Ausbrüche; er verwendet für den guten Redner das Bild eines Vulkans, der nicht ausbricht, aber in dessen Innerem eine Flamme glüht. Guardini überredet nicht, er «zwingt ohne Zwang» zum Mitdenken. Das macht seine Gedankenführung so anziehend.

Wo sind Grenzen ausmachbar?
Grenzen? – Eher im Frühwerk, wo noch die romantischen Spuren der Jugendbewegung durchschlagen. Dennoch sind auch damals entstandene Werke, die er selber später kritisch sah, heute «Klassiker»: zum Beispiel «Vom Geist der Liturgie» und «Heilige Zeichen» – beide von lebendiger Frische und unmittelbarer Anschaulichkeit.

Welches seiner Werke hat aus Ihrer Sicht an Aktualität bis heute nichts eingebüsst?
Es sind mehrere zu nennen: allen voran «Der Herr» (1937); weiterhin – gegen den Trend – «Vom Sinn der Kirche» (1922), der ja fast verstellt ist. Individuelle Hilfe gibt «Vom Sinn der Schwermut» (1928), wovon Guardini selbst geplagt war. Auch an kleineren Stellen, wie in einem Blitzlicht, taucht entscheidend Kluges auf. Deutlich aktuell ist z. B. das schmale Kapitel «Logos vor Ethos» im Erstlingswerk «Vom Geist der Liturgie» (1918): Die heute überbordende Rede von der Barmherzigkeit vernachlässigt die Frage nach der Wahrheit, der inneren Richtigkeit des Tuns. Liebe und Wahrheit schliessen sich keineswegs aus, aber die Wahrheit muss der Liebe in der inneren Ordnung vorausgehen. Sonst gibt es eine zahnlose Liebe und ein gefühliges Tun, aber kein rechtes und sachgemässes Handeln. Das Sachgemässe ist Guardinis Erstorientierung, im Sittlichen wie im Religiösen.

Inwieweit sind seine Methoden heute noch von Relevanz?
Statt «heute noch» vielmehr: «erst heute» bedeutsam. Die Gegensatzlehre wurde ja nicht stark aufgegriffen, und «Weltanschauung» wurde ein seichtes Wort, mit dem man sich an der Wissenschaft vorbeimogeln konnte, mit einer nur subjektiven Schau.
Der «Gegensatz» meint, die Welt, die Menschen, sich selbst immer unter einer Spannung zu betrachten, nicht unter einem einzigen Blickwinkel: So trägt jede Begabung zugleich eine Gefährdung in sich. Genauigkeit neigt zu Pedanterie, Freundlichkeit zu Nachgiebigkeit. Guardini rät, die eigene starke Seite dadurch stark zu halten, indem man ihre innewohnende schwache Seite trainiert: beispielsweise Genauigkeit «ausgleicht» durch Grosszügigkeit. Übrigens, dies ist ein ausgezeichnetes pädagogisches Konzept, auch für die Selbstbildung.
Weltanschauung meint, den Blick Jesu Christi auf die Welt zu üben. Ein hoher Anspruch. Es gilt, sich von der Welt inspirieren zu lassen, aber sie zugleich unter den Massstab Jesu Christi zu stellen. Das ist wunderbar fruchtbar geworden in den Büchern Guardinis. Er ging mit den Schriften Platons auf diese Weise um, aber auch mit jenen von Rainer Maria Rilke und Sören Kierkegaard. Und Rilke z. B. bestand nicht vor dem Blick Christi, unbeschadet seiner hohen dichterischen Kraft.

Welches waren seine Kernanliegen, die er in seiner Lehr- und Predigttätigkeit sowie in der Arbeit mit den Jugendlichen verfolgte?
Kern ist der «lebendige Gott», der den Menschen erschuf, aber noch viel «grösser und tiefer»: ihn erlöste. Von daher ist die Welt nicht fertig, sie wird es erst durch den erlösten Menschen im Bund mit Gott. Guardini liebte das Wort «Anfangskraft»: den Sprung aus dem Vergangenen ins Neue, noch nicht Dagewesene. «Angerufen von dem, was noch nicht ist», ist ein bezeichnender Ausdruck dafür. Es gehört zur Grösse der Gnade, dass sie unsere Mitwirkung wünscht. Guardini öffnete den jungen Zuhörern das Ohr für diesen Ruf des Noch-nicht-Dagewesenen, den Ruf der jetzigen Stunde. Und Gehorsam ist das Hören auf diesen Ruf, auf das, «was werden soll». Damit ist die Agilität wachgerufen, diesen Ruf richtig umzusetzen: also eine Kraft der Entscheidung, des Mutes und des Wählenmüssens; übrigens liegt in dieser Stunde auch die Gefahr des Misslingens und Neuanfangenmüssens.

Was liess Guardini denn so einzigartig für seine Zeit und seine Hörer sein?
Sein ursprüngliches Zugehen auf «das, was ist». Sein Wirklichkeitsblick, sein Ernstnehmen der Wirklichkeit, sei sie liturgisch, sei sie in Texten niedergelegt, sei sie dichterisch gestaltet, sei sie Offenbarung, die wir uns nicht ausdenken.

Im August 1920 nahm Guardini an der zweiten Tagung des Quickborn auf Burg Rothenfels teil. Von 1927 bis zur Enteignung der Burg durch die Nationalsozialisten im Jahr 1939 war er Leiter dieser Burg und Jugendbewegung. Welchen Einfluss hatte der Quickborn auf die Entwicklungen in der katholischen Kirche?
Ohne Guardini wäre der Quickborn wohl weit weniger bedeutungsvoll geworden. Er verwandelte die Jugendbewegung in eine öffentlich wahrgenommene katholische Kulturbewegung. Zudem fanden natürlich die liturgischen Entfaltungen, die theologischen Werkwochen sowie die kulturkritischen Auseinandersetzungen auf der Burg statt. Mindestens zwei Theologengenerationen gingen daraus hervor, aber auch viele Naturwissenschaftler und Künstler. Man kann die Burg wohl als eine der mehreren Keimzellen des Konzils, oder weniger hochtrabend: als eine der Stätten des Vordenkens für eine neue Theologie bezeichnen.

Wenn man sich näher mit seinen Schriften  auseinandersetzt und seine Arbeit mit den jungen Erwachsenen auf Burg Rothenfels ins Auge fasst, ist es verwunderlich, dass er von der Gestapo nicht verhaftet und in ein KZ deportiert wurde. Wie ist dies zu erklären?
Guardini war geschützt durch seine italienische Abstammung; die Achse Mussolini – Hitler stand ja fest. Er war zu bekannt, um verhaftet zu werden. Aber im Hörsaal in Berlin sass die Gestapo und in den Akten der Gestapo in Würzburg über Burg Rothenfels stand der Name Guardini an erster Stelle. Nach einem gewonnenen Krieg wäre er wohl umgebracht worden. Einige seiner Freunde wurden ja auch ermordet, so Erwin Planck (1893–1945) und Alfons Maria Wachsmann (1896–1944).

Am 3. Adventssonntag 2017 eröffnete Kardinal Marx mit einem Festgottesdienst in München das Seligsprechungsverfahren zu Romano Guardini. Sie gehen in zwei Publikationen der Frage nach, ob Guardini nicht als «Patron der Erzieher» bzw. als «Patron Europas» zu sehen ist. Was bewegt Sie dazu?
Guardini war ein begnadeter Erzieher, aber wichtig: Der Weg geht von der Fremderziehung zur Selbstbildung. Zu Letzterem leitete er an. Darüber hinaus entfaltete er in «Wille und Wahrheit» (1933) ohne asiatische Anleihen ein Konzept ganzheitlichen Lebens, das auf die benediktinischen Wurzeln europäischer Meditation und massvollen Tuns zurückgreift. Diese Wiederentdeckung steht noch aus. Patron Europas könnte er werden durch seine Doppelzugehörigkeit zu Italien und Deutschland sowie durch seine Liebe zum «Süden» (Dante Alighieri) und zum «Norden» (Sören Kierkegaard), durch seine Arbeiten über Fjodor Michailowitsch Dostojewski, die den Osten einschliessen, und durch die Arbeit über Blaise Pascal (Westen). Er hat in seinen Schriften Europas Geistigkeit ausgeschritten und dazu in der Mitte Europas Deutschlands Grösse und Gefährdung thematisiert.

Worin kann er (als Seliger) heutigen Menschen Motivation und Vorbild sein?
Im gläubigen Durchstehen ungeklärter Fragen, im Vertrauen auf die letztlich zugesagte Wahrheit der Kirche und in der grossen Liebe zur Schönheit Christi.

Interview: Maria Hässig

 

1 Vrgl. Gerl-Falkovitz, Hanna-Barbara, Romano Guardini, Konturen des Lebens und Spuren des Denkens. 3., aktualisierte Auflage, Kevelaer 2017.

 


Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz

Univ.-Prof. em. Dr. phil. habil. Dr. theol. h.c. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz (1945) promovierte 1971 und habilitierte 1979 in Philosophie an der Universität München. Sie war von 1989 bis 1992 Professorin an der Pädagogischen Hochschule Weingarten/Württemberg. Von 1993 bis 2011 hatte sie den Lehrstuhl für Religionsphilosophie und vergleichende Religionswissenschaft an der Technischen Universität Dresden inne.
Seit 2011 ist sie im Vorstand des Europäischen Instituts für Philosophie und Religion (EUPHRat) an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Benedikt XVI. in Heiligenkreuz bei Wien.

 

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