An der Krippe

«Suche nach Stern am Strassenrand …»

Wenn Ende Oktober in den Läden Artikel des aus den USA importierten – wie mir scheint – unseligen Brauchs Halloween sich mit Mandarinen, Erdnüssen und Schoggi-Samichläusen überschneiden, ist das für uns Christen heilige Fest von Weihnachten zwar nicht mehr weit, aber auch noch nicht wirklich nah. Und dann erinnere ich mich, wie das Ende der Fünfziger- und Anfang der Sechzigerjahre war. Begann damals diese besondere Zeit nicht erst mit dem Advent? Wenn die Lehrerin die Rollen fürs Krippenspiel verteilte und das Schaufenster des Geschäfts, an dem wir auf dem Schulweg vorbeikamen, mit weisser Watte und roten Christbaumkugeln geschmückt wurde? Zum Warten war es auch so noch lange genug. Als ich einmal von der Schule heimkam, zur Mutter sagte: «Ich mag fast nicht mehr warten, bis Weihnachten kommt!», diese mit einem Augenzwinkern antwortete: «Ja dann geh du doch schon mal voraus!», spätestens dann realisierte ich, dass es zu warten gilt. Und dann folgte diese wundersame Zeit des Advents, des Wartens, der Erwartung, der Hoffnung.

Und irgendwann war der Heilige Abend da

Und irgendwann, endlich, war der Heilige Abend da, an dem man andächtig die Krippenfiguren bestaunte, das Kind, wie es dalag, das Baby, umringt von Maria und Josef, den Hirten, den Königen, den im Stall weilenden Tieren. Aber Hand aufs Herz: Haben Sie, liebe Leserin, lieber Leser, auf Bildern oder bei Krippenfiguren je einmal einen behinderten Menschen gesehen? Einen Gelähmten, den man zur Krippe trägt, eine Hörbehinderte, der man in Gebärdensprache alles erklärt, oder ein blindes Kind, das das Händchen des Jesuskindes berühren darf? Nicht wahr, uns ist bekannt, dass Jesus Kranke heilte, Gelähmte gehend machte, Blinde sehend. Hat dieses Jesuskind also nicht ganz viel auch mit den Menschen zu tun, die auf irgendeine Art beeinträchtigt sind? Aber warum fehlen sie beim Kripplein? Die katholische Kirche installierte bereits vor gut 50 Jahren die Behindertenseelsorge, von der auch reformiert sozialisierte Menschen mit einer Beeinträchtigung profitierten, während mein geistig behinderter Bruder im Jahr 1963 in der St.-Jakobs-Kirche Zürich noch anschliessend an den Konfirmations-Gottesdienst konfirmiert wurde, also unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Wer alles gehört eigentlich dazu?

Wer darf auf den Heiligen Abend warten? Plangen? Und wer an der Krippe des Jesuskindes stehen? Oder sitzen? Lassen Sie mich hier eine andere Weihnachtsgeschichte erzählen. Dies, obwohl ich mir sicher bin, dass Sie alle meiner Meinung sind: An der Krippe haben alle Platz, die hingehen wollen. Alle. Weil die Hoffnung allen gehört. Allen! Auch dem blinden Bub Jakob.

Jakobs Bitte

«Ich will auch mit!» Der kleine Jakob erkannte die Geräusche um sich herum, die unmissverständlich darauf hindeuteten, dass die Männer sich zu einem Aufbruch bereitmachten. Dem Knistern des brennenden Holzes an merkte er, dass das Feuer, das sie beim Einbruch der Nacht angefacht hatten, um das herum sich die Hirtenfamilien gelagert hatten, noch nicht erloschen war. Dann hatte Jakobs Zwillingsschwester Rahel ihn gerüttelt und aufgeregt gesagt: «Jakob. Der Himmel brennt.»

Und dann hatten seine Augen, die kurz nach seiner Geburt erloschen waren, eine Art Helle wahrnehmen können, und Rahel hatte ihm erklärt: «Ein Stern leuchtet. Heller als alle, die ich je sah. Es sind Gestalten am Himmel, die leuchten.» Angstvoll hatten sich die Geschwister an die Mutter gedrängt, die sie festhielt, mit allen Hirtenfamilien zum Himmel emporblickte und ein Gesang von einer Reinheit vernahm, der alle tief innen erreichte. «Es müssen Engel sein», hatte die Mutter geflüstert und ihre zwei Jüngsten näher zu sich gezogen. Dann hatten sie die Botschaft vernommen vom Kind, das in einer Krippe liege und der Erlöser sei. Und die Männer beschlossen, dem Stern zu folgen. «Bitte!», wiederholte Jakob. «Zu gefährlich!», antwortete der Vater. «Die Frauen und Mädchen bleiben auch da.» – «Nicht traurig sein», flüsterte Rahel dem Bruder ins Ohr. «Komm!»

Das war gestern gewesen. Niemandem war aufgefallen, dass Ruths Zwillinge nicht mehr da waren. Rahel hatte im Zelt für sich und den Bruder Hirtentücher geholt, ein paar gedörrte Früchte in ein Säckchen getan, Jakob bei der Hand genommen, und dann waren sie heimlich den Männern gefolgt. Dass sie sich verirren könnten, befürchtete Rahel nicht, denn so viel hatte sie verstanden: Die Männer folgten dem Stern, und der könnte auch ihnen Wegweiser sein. «Was macht ein Erlöser?», fragte Jakob die Schwester, die alles sah und deshalb so viel mehr verstand als er. «Ein Erlöser erlöst», antwortete Rahel, aber da liege ein Kind in einer Krippe, und kleine Kinder könnten ja noch nichts selber tun. «Und wenn es gross ist, könnte es denn einen von der Dunkelheit erlösen?», fragte Jakob. «Ich weiss nicht», sagte Rahel.

Durch die vom Stern erleuchtete Nacht führte sie ihn, machte ihn auf Hindernisse aufmerksam, damit er nicht stolpere, und gab ihm Dörrfrüchte zur Stärkung. In sorgfältigem Abstand folgten sie den Männern. Warteten, wenn diese eine Rast einlegten. Und wenn sie sich wieder aufmachten, nahm sie erneut die Hand des Bruders, und weiter folgten sie den Männern.

Bis der Stern auf eine Hütte niederleuchtete, in die Hirten ihre Schafe zum Schutz hinbrachten, wenn eine sengende Sonne oder ein drohendes Unwetter das erforderte. Die Männer waren jetzt ausser Sichtweite, und langsam näherten sich die Geschwister der hell erleuchteten Hütte.

Zögerlich guckte Rahel durch eine Öffnung. «Was siehst du?», fragte Jakob. Flüsternd antwortete sie: «Die Männer schauen in eine Futterkrippe. Dahinter steht ein Mann mit einem braunen Umhang. Er hält einen Stock in einer Hand. Die andere hat er auf die Schulter einer Frau gelegt, die auf einem Holzstrunk sitzt. Weiter hinten sehe ich zwei Tiere, ich glaube, eines ist ein Esel, und das andere sieht aus wie ein Ochs.» – «Aber der Erlöser?», fragte Jakob, ohne die Hand der Schwester loszulassen. «Wir müssten näher zur Krippe, aber dann sähen uns die Männer, und der Vater würde uns schelten.»

Noch stehen sie beim Eingang, als Jakob die Stimme der Frau vernimmt: «Kommt näher, Kinder.» Unmittelbar drehen sich die Männer um, erblicken die Zwillinge und hören die Frau sagen: «Sicher habt ihr einen weiten Weg zurückgelegt. Kommt.» Der Mann neben ihr ergänzt: «Ja, kommt ruhig näher zum Jesuskind. Wie heisst ihr denn?» Scheu nennen sie ihre Namen, und Rahel zeigt auf einen der Hirtenmänner und sagt: «Das ist unser Vater, und Jakob ist mein Bruder. Er ist blind.»

Staunend blickt Rahel in die Krippe, während Maria Jakobs Hand ergreift und sie zu des Kindes Gesicht führt. Sie lässt ihn das Köpfchen ertasten, legt die winzige Jesushand in die des Knaben, und Jakob spürt eine Kraft in sich wie nie zuvor, eine Liebe durchströmt ihn, und Rahel sieht das Leuchten in seinem Gesicht, und die Freude ergreift auch sie.

Wir wissen von den zwei Hirtenkindern, dass sie tags darauf im Schutz der Männer den Heimweg zur Weide ihrer Schafe, den Frauen, Greisen und Kindern antraten. Wir wissen auch, dass der Vater liebevoll über die Haare der Zwillinge streichelte. Und noch etwas kam uns zu Ohren: Jahre später soll ein blinder Mann namens Jakob am Marktplatzrand von Nazareth dem Jesus begegnet sein. Dieser habe ihm sein Augenlicht wiedergegeben. Rahel aber und Jakob hätten zeitlebens die Kraft des Kindes in der Krippe in sich getragen. 

Erica Brühlmann-Jecklin

Erica Brühlmann-Jecklin, MSc, lebt und arbeitet als Schriftstellerin, Liedermacherin und Psychotherapeutin in Schlieren.