Am Puls der Zeit

Zur Bedeutung des Konzils für die Religionspädagogik (II)

8. Das Erbe des Konzils für die Religionspädagogik

Aus den bisherigen Skizzen wurde deutlich, dass sich nicht einfach über einzelne Motivzusammenhänge rekonstruieren lässt, was Religionspädagogik, Religionsunterricht und Katechese dem Zweiten Vatikanischen Konzil zu verdanken haben. Es geht vielmehr um einen Wandel im kirchlichen Selbstverständnis und im theologischen Denken, der natürlich durch die gesellschaftlichen Turbulenzen in den 1968er-Jahren zusätzlich noch befeuert und teilweise auch überhitzt wurde, der aber kein theologisches Thema und keine kirchliche Handlungsform einfach beim Alten beliess. Was die Religionspädagogik als universitäre theologische Disziplin dem Konzil konkret verdankt, sei exemplarisch an drei ausgewählten Stichworten entfaltet:

8.1 Die Religionspädagogik verdankt dem Konzil die Subjektorientierung

Die heutige Religionspädagogik versteht sich subjektorientiert: Schülerinnen und Schüler werden nach dem Prinzip der Subjektorientierung nicht als zu belehrende Objekte, sondern als Subjekte des Lernens in die Mitte von Religionsunterricht und Katechese gestellt, ohne dass deshalb die zentralen Glaubensinhalte und elementaren theologischen Wahrheiten unter den Tisch fallen würden. Das hat zur Konsequenz, dass theologische Inhalte und christliche Wahrheiten nicht subjektlos bleiben. Sie werden formuliert und reflektiert, indem die sozialen und persönlichen Kontexte der Lernenden mitbedacht werden. Eine Vielzahl religionspädagogischer Publikationen ist heute den entwicklungspsychologischen und sozialisationsbedingten Voraussetzungen religiösen Lehrens und Lernens gewidmet und beweist ihre Subjekt- und Lebensweltorientierung dadurch, dass den Erfahrungen von Schülerinnen und Schülern, von Kindern und Jugendlichen erkenntnisleitende Bedeutung zukommt.11

50 Jahre nach dem Konzil ist daran zu erinnern, dass es die anthropologische Wende des Konzils und besonders die Pastoralkonstitution «Gaudium et Spes» (GS) waren, die zu einer dezidierten Subjektorientierung in Religionsunterricht und Katechese geführt haben. In Deutschland lässt sie sich im Bereich des Religionsunterrichts gut am Würzburger Synodenbeschlusses zum Religionsunterricht (1974) deutlich machen, der in der Schweiz aus verschiedenen bildungs- und kirchenpolitischen Gründen nicht oder nur teilweise rezipiert wurde. Wie GS stellt auch der Synodenbeschluss den Menschen in die Mitte. Dazu schreibt der Wiener Religionspädagoge Wolfgang Langer: «Das nach meiner Meinung Wichtigste, das der Synodenbeschluss aus der Entwicklung der katholischen Theologie nach dem II. Vat. Konzil und aus der religionspädagogischen Diskussion zu Beginn der Siebzigerjahre festgehalten und zur Grundlage für die weitere Entwicklung von Theorie und Praxis des Religionsunterrichts gemacht hat, ist die Einsicht, dass der eigentliche ‹Gegenstand› des Unterrichts (…) der Mensch und nichts als der Mensch ist.»12 Man könne sagen, der Synodenbeschluss zum Religionsunterricht erweise sich «als ein einziges Plädoyer für eine ‹anthropologisch gewendete› Religionspädagogik – in Theorie und Praxis».13 Seine Auswirkungen sind in der Deutschschweiz zuletzt im Leitbild «Katechese im Kulturwandel » der Deutschschweizerischen Ordinarienkonferenz deutlich geworden, in dem das Prinzip der Subjektorientierung zu einem der zehn Leitsätze zählt.14

8.2 Die Religionspädagogik verdankt dem Konzil den dialogischen Bildungsbegriff

Religiöse Bildung ereignet sich in produktiver und konstruktiv-kritischer Auseinandersetzung mit der biblischen und kirchlichen Tradition. Da das Gottesbild in der Offenbarungskonstitution «Dei Verbum» (DV) nicht durch Unnahbarkeit, sondern durch Kommunikation gekennzeichnet ist, da es nicht durch gehorsam anzunehmende Dekrete der Kirche als vielmehr durch die liebevolle Zuwendung Gottes zum Menschen gekennzeichnet ist, konnte auch der Raum für einen veränderten Stil des Miteinander-Umgehens in der Kirche und damit auch in Religionsunterricht und Katechese wachsen.

Viele Zeitzeugen des Konzils beschreiben, dass es der dialogische Stil war, der für die theologische Arbeit des Zweiten Vatikanischen Konzils prägend wurde und der manche Reibung und manchen produktiven Streit durchaus mit einschloss. Auf dieser Linie war die Theologie der Konzils- und Nachkonzilszeit Diskurs und nicht nur Instruktion. Dieser dialogische Stil war ansteckend und hat auch den religionspädagogischen Bildungsbegriff inspiriert. Als Beispiel dafür kann der Holländische Katechismus von 1966 gelten, den Joseph Ratzinger als einen der Höhepunkte in der Wirkungsgeschichte von GS bezeichnet hat. Obwohl er mittlerweile ganz in Vergessenheit geraten ist, galt der Holländi sche Katechismus zu seiner Zeit als Meilenstein einer neuen Form der Glaubenskommunikation. Wie die holländische Kirche hier in einem grossen Vernehmlassungsprozess die Fragen des Lebens mit möglichen Perspektiven des Glaubens tastend verband, darin zeigte sich «ein ganz neuer Stil von Theologie», so der Religionspädagoge Gottfried Bitter.15

8.3 Die Religionspädagogik verdankt dem Konzil das Korrelationsprinzip

«Korrelation» ist ein theologisches, hermeneutisches und didaktisches Prinzip, das Interrelationen zwischen Glaubenserfahrungen und Lebenserfahrungen ermöglichen will. Die Pastoralkonstitution GS, die von unten, also bei den Erfahrungen der Menschen ansetzt, versucht im Lichte des Evangeliums aus diesen Erfahrungen die «Zeichen der Zeit» zu erkennen. Der Dialog zwischen den menschlichen Erfahrungen und den Lebensperspektiven des christlichen Glaubens entspricht ziemlich genau dem, was man in der katholischen Religionspädagogik seit inzwischen bald 40 Jahren als «Korrelation» bzw. «Korrelationsdidaktik» bezeichnet. Im Rahmen der Konzilsrezeption müssen wir uns heute in Erinnerung rufen, dass die zum selbstverständlichen Standard gewordene Korrelation zwischen Glaube und Erfahrung neben Paul Tillich vor allem auf das Vordenken der Konzilstheologen Karl Rahner und Edward Schillebeeckx zurückgeht. Der grundlegende Gedanke, den christlichen Glauben ins Gespräch mit unseren gegenwärtigen Erfahrungen zu bringen, erscheint uns heute selbstverständlich. Zum Zeitpunkt der Entstehung von GS aber war dies eine noch sehr neue Form theologischen Denkens. In einer lange Zeit ganz auf die Verteidigung des Überkommenen hin ausgerichteten traditionalistischen Kirche musste ein offener Dialog zwischen Glaube und Welt, zwischen Tradition und Gegenwart, als ein unkalkulierbares Risiko erscheinen.

In der heutigen Debatte ist die Korrelationsdidaktik nicht mehr unumstritten: Ausgehend von der Erkenntnis, dass sie die korrelierenden Pole von Glaube und Erfahrung nicht immer in ausreichendem Masse im Blick hatte und darüber hinaus an einem mangelnden Lebensweltbezug litt, haben in jüngerer Zeit abduktive, alteritätstheoretische oder ästhetische Ansätze versucht, die Korrelationsdidaktik weiterzuentwickeln, um die Lebenswirklichkeit und die persönliche Religiosität von Kindern und Jugendlichen noch stärker als zuvor in den didaktischen Diskurs einzubeziehen. Obwohl Rudolf Englert schon 1993 ein Plädoyer für den «ehrenhaften Abgang» des Korrelationsprinzips gehalten hat, zeigt sich heute jedoch, dass es als Erbe der anthropologischen Wende des Konzils zum Grundprinzip geworden ist, das aus Religionsunterricht und Katechese nicht mehr wegzudenken ist.

9. Empirisch, biografisch, performativ: Welche Wende brauchen wir heute?

Die anthropologischen Wende des Konzils war nur der Anfang vieler Konzeptionen, mit denen die Metapher der «Wende» verbunden wurde. So hat 1968, also bald nach dem Konzil, der Berner Religionspädagoge Klaus Wegenast die empirische Wende in der Religionspädagogik ausgerufen. Die Zahl der Abmeldungen vom Religionsunterricht war damals so massiv gestiegen, dass Wegenast forderte, man müsse auf der Grundlage einer realistischen Situationsanalyse didaktische und methodische Verbesserungsvorschläge erforschen.16 Diese Forderung ist seit langem eingelöst, und empirische Methoden und Arbeitsweisen sind aus der Religionspädagogik nicht mehr wegzudenken. 17 Seitdem haben verschiedene Konzepte das Erbe der anthropologischen Wende des Konzils angetreten. Ich nenne exemplarisch für andere die biografische und die performative Wende: Beiden ist die gespannte Aufmerksamkeit für das Leben, für seine Erfahrungsräume und seine verborgenen Transzendenzen gemeinsam. So bringt das biografische Lernen die anthropologische Wende auf den Punkt, indem konkrete Kinder und Jugendliche mit ihren konkreten Biografien im Mittelpunkt stehen. Sie werden ermutigt, ihre eigene Biografie durch Formen des identitätsbildenden Lernens in die Hand zu nehmen und unter den Zuspruch Gottes zu stellen. Aufgrund der zunehmenden Sprachlosigkeit der Schülerinnen und Schüler gegenüber gelebter Religion plädiert der performative Ansatz dafür, nicht nur über Religion zu sprechen, sondern religiösen Formen eine ästhetische Dimension zu geben, indem sie dargestellt und in Szene gesetzt werden. Das hilft, Wahrnehmung und Ausdruck zu schulen, und eröffnet den Weg zu eigenen religiösen Erlebnissen. Wir blicken zurück und voraus: Ein halbes Jahrhundert nach dem Konzil gehört die anthropologische Wende zu den selbstverständlichen Grundlagen von Religionsunterricht und Katechese. Wenn restaurative Kreise die Zukunft der religiösen Bildung angesichts der gegenwärtigen Glaubens- und Kirchenkrise in der Rückkehr zu abfragbarem Katechismuswissen sehen, das Kindern und Jugendlichen im Frage-Antwort-Stil wieder klar sagt, was in Fragen des Glaubens wahr oder falsch ist, dann ist das didaktisch ziemlich genau das Gegenteil einer biografischen und subjektorientierten Religionspädagogik. 18 Sollen solch restaurative Ansätze nicht die Oberhand gewinnen, muss das, was im Gefolge der anthropologischen Wende des Konzils vielen heute als selbstverständlich erscheint, immer wieder neu begründet und verteidigt werden. Wenn diese Aufgabe aber gelingt, bestehen gute Chancen für eine pluralitäts- und zukunftsfähige Religionspädagogik.

 

 

11 Vgl. Christian Cebulj: Für eine neue Wahrnehmungsund Sprachfähigkeit. Zur Lebensweltorientierung in der Religionspädagogik, in: Eva-Maria Faber (Hrsg.): Lebenswelt und Theologie. Herausforderungen einer zeitsensiblen theologischen Lehre und Forschung. Fribourg 2012, 246.

12 Wolfgang Langer: Im Mittelpunkt steht der Mensch. Zu Bedeutung und Wirkung des Synodenbeschlusses «Der Religionsunterricht in der Schule» (1974), in: Katechetische Blätter 109 (1984), 341.

13 Ebd., 342.

14 Deutschschweizerische Ordinarienkonferenz DOK (Hrsg.): Leitbild «Katechese im Kulturwandel» (2009), verfügbar unter: www.netzwerkkatechese.ch.

15 Gottfried Bitter: Leben suchen und Leben erproben. Der Holländische Katechismus als Zeugnis einer «Theologie des Volkes», in: Adolf Exeler / N orbert Mette: Theologie des Volkes. Mainz 1978. 63–75.

16 Vgl. Klaus Wegenast: Die empirische Wendung in der Religionspädagogik, in: EvErz 20 (1968) 111–124.

17 Vgl. z. B. Burkard Porzelt / Ralph Güth (Hrsg.): Empirische Religionspädagogik. Münster 2000.

18 Vgl. Stephan Leimgruber: Pro und Kontra Youcat, in: Katechetische Blätter 136 (2011), Heft 5, 365.

Christian Cebulj

Christian Cebulj

Dr. Christian Cebulj ist Rektor der Theologischen Hochschule Chur (THC) und betreut den Lehrstuhl für Religionspädagogik und Katechetik.