Algorithmen bestimmen zunehmend unser Leben

Das Bild ist ein Ausschnitt aus dem Video «Die Verteidigung der Demokratie im Zeitalter der ‹künstlichen Intelligenz›».

 

Wer sich heutzutage kritisch zu technologischen Entwicklungen äussert, sieht sich schnell mit dem Vorwurf konfrontiert «fortschrittsresistent» oder «technikfeindlich» zu sein. Das ist ein Missverständnis: Denn Kritik bedeutet nicht unbedingt Verwerfung und Verweigerung, sondern zunächst schlicht den Vorgang des Unterscheidens. Eine Sache wird untersucht, auseinandergenommen, analysiert und erst in diesem Lichte kann sie schliesslich sinnvoll beurteilt werden. Ohne solche Prozesse der Geisterscheidung gibt es kein begründetes Urteil.

In diesem Sinne tut eine Kritik der heutigen Digitaltechnik Not. Denn auf Algorithmen basierende Systeme liefern schon jetzt die Basis für Entscheidungen in der Sozialhilfe, bei Bewerbungen im Arbeitsmarkt und in der Rechtsprechung. Sie durchdringen unsere Infrastrukturen, Logistik, Produktion. Sie befeuern Wissenschaft, Forschung und technische Innovation. Sie ermöglichen aber auch datengetriebene Massenüberwachung, systematische Manipulation und neue Formen der Kriegsführung. Sie erlauben schliesslich die Lösung von Problemen, die für den Menschen bisher unüberwindbar schienen, und fördern damit eine Haltung, die Evgeny Morozov «technologischen Solutionismus» genannt hat: Die Vorstellung, dass alle menschlichen Herausforderungen auf klar definierbare Probleme rückführbar und deshalb auch technisch lösbar seien. Problematisch wird dies dann, wenn Probleme «gelöst» werden sollen, die keine sind: genuin menschliches wie politische Entscheidungen, Prozesse der intellektuellen und moralischen Bildung oder der sorgsame Umgang mit sich selbst.

Bereits in den 1970er-Jahren spielte der Nuklearphysiker Alvin Weinberg die Technik bewusst gegen den Menschen aus und meinte, man dürfe die Konstruktion einer besseren Gesellschaft nicht vom menschlichen Faktor abhängig machen, stattdessen sei ein «technological fix» notwendig. Die Potenziale heutiger Digitaltechnik verstärken diesen Traum einer technisch perfektionierten Welt. Gleichzeitig sinkt mit jedem Blick in die Tageszeitungen das Vertrauen in den Menschen. Dennoch sollten uns noch die erstaunlichsten Leistungen sogenannt «künstlicher Intelligenzen» nicht vergessen lassen, dass mit solchen Systemen «etwas» und nicht «jemand» bezeichnet wird. Allein der Mensch kann die für das digitale Zeitalter relevante Frage stellen und sie auch beantworten: Fördert diese Technik die Kultivierung eines guten Lebens? (Wie) lässt sie sich so in unser Leben integrieren, dass sie uns die Welt in ihrer Vielschichtigkeit erschliesst, Resonanzen weckt und die Gestaltung derjenigen Zukunft beflügelt, die wir auch wirklich wollen?

Im Lichte dieser Fragestellung können wir wirklichen Fortschritt von blosser Technisierung unterscheiden. Denn überall dort, wo technische Lösungen die Wirklichkeit verschliessen und uns voneinander entfremden, tun wir besser daran, mit unseren menschlichen Problemen zu leben, statt mit unmenschlichen Lösungen.

Oliver Dürr*

 

* Dr. Oliver Dürr habilitiert zurzeit an der Universität Zürich und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum Glaube & Gesellschaft an der Universität Freiburg i. Ü. Er promovierte in systematischer Theologie zu «Homo Novus. Vollendlichkeit im Zeitalter des Transhumanismus.»

Die Publikation der Dissertation findet sich unter Bonus.

Erwähntes Video zum Bild: www.glaubeundgesellschaft.ch (Video vom 3. Nov. 2021).

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

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