50 Jahre Zürcher «Gesetz über das katholische Kirchenwesen»

Vom Diasporakatholizismus zur Römisch-katholischen Körperschaft

Vor 50 Jahren, am 7. Juli 1963, wurden im Kanton Zürich durch den Souverän flächendeckend Kirchgemeinden sowie die Römisch-katholische Körperschaft des Kantons Zürich geschaffen. Dies gibt die Gelegenheit, zu fragen, was damals geschaffen wurde und was sich seither daraus entwickelt hat.

Wunsch nach Anerkennung

Nach dem Zweiten Weltkrieg stellten die Zürcher Diasporakatholiken zahlenmässig definitiv keine «quantité négligeable» mehr dar. Umso ungerechter war es, dass der Kanton Zürich mit allgemeinen Staatsmitteln, und damit auch mit Steuergeldern von Katholiken, die reformierte Landeskirche unterstützte, die römisch-katholische Kirche aber leer ausging. Wie der Promotor der Schaffung von Kirchgemeinden und Körperschaft, Alfred Teobaldi – der damalige Generalvikar des Bistums Chur für Zürich –, in seinen Erinnerungen schreibt, lehnte es die Zürcher Regierung aber auch damals noch strikt ab, die zivilrechtlich behelfsmässig in Vereinen und Stiftungen organisierte katholische Kirche gemäss deren Selbstverständnis (mit Diözese und Pfarreien) anzuerkennen. Und so konnte ein Katholikentag im Jahr 1950, wenn realistischerweise eine Verbesserung der Lage erzielt werden sollte, nicht die Anerkennung der römisch-katholischen Kirche fordern, sondern nur die Revision eines Gesetzes von 1863 über die Kirchgemeinden «unter Berücksichtigung der Wesensstruktur der katholischen Kirche».1

Rücksichtnahmen auf das Wesen der katholischen Kirche

Wie Alfred Teobaldi in seinen Erinnerungen schreibt, gelang es ihm, im Sinne des Katholikentags, das Selbstverständnis der katholischen Kirche gegenüber dem protestantisch geprägten Kanton Zürich zur Geltung zu bringen und sich dafür immerhin bis zu einem gewissen Grad Gehör zu verschaffen.2 Zeuge davon ist das Amtsblatt des Kantons Zürich, Jahrgang 1962, in welchem die Zürcher Regierung neben einer Verfassungsrevision und einem neuen Gesetz über die Evangelisch-reformierte Landeskirche ein «Gesetz über das katholische Kirchenwesen » vorschlug und mit einer langen Erläuterung, der so genannten «Weisung», flankierte.3 Es war somit den Bemühungen Teobaldis zu verdanken, wenn die Regierung schrieb: «Es besteht für niemanden ein Interesse daran, dass der Staat den Katholiken eine Regelung aufzwinge, die von ihnen aus kirchlichen Gründen als unannehmbar bezeichnet werden müsste. Es kann sich deshalb von vornherein nicht darum handeln, die für die evangelische Landeskirche in Aussicht genommene, auf ihre Wesensart abgestimmte Ordnung einfach auch gegenüber der römisch-katholischen Kirche anwenden zu wollen und diese damit in eine Form zu pressen, die mit ihrem kirchlichen Charakter nicht vereinbar wäre. Vielmehr gilt es, auf die Besonderheiten der römischkatholischen Kirche in der kantonalen Gesetzgebung insoweit Rücksicht zu nehmen, als es sich mit den staatlichen Grundprinzipien, von denen nicht abgegangen werden kann, verträgt.»4 Dementsprechend erhielten die Katholiken ein eigenes, 16 Paragraphen umfassendes Kirchengesetz, das verglichen mit den 54 Paragraphen des reformierten Pendants sehr kurz ausfiel.

Aus Rücksichtnahme auf die im katholischen Glauben begründete bischöfliche Verfasstheit der Kirche verzichtete der Kanton Zürich ferner darauf, die oberhalb der Kirchgemeinden angesiedelte Römischkatholische Körperschaft analog zur reformierten Landeskirche institutionell auszubauen: «Die evangelische Kirche besitzt keine internationale, nicht einmal eine gesamtschweizerische kirchliche Organisation (der Schweizerische Evangelische Kirchenbund stellt nur eine lose Verbindung verschiedener kirchlicher Organisationen dar) (…). Demgegenüber handelt es sich bei der römisch-katholischen Kirche um einen internationalen, festgefügten kirchlichen Organismus, der über alle inneren Angelegenheiten nach einem ausgebauten zentralen kirchlichen Recht entscheidet. Einer römisch-katholischen kantonalen Gesamtorganisation können deshalb wesensmässig keine eigentlichen innerkirchlichen Funktionen überbunden werden», schrieb die Zürcher Regierung.5 Deshalb verzichtete der Kanton darauf, der Körperschaft den Erlass einer Kirchenordnung als «Kirchenverfassung » zu ermöglichen: Es verstehe sich «im Hinblick auf das kanonische Kirchenrecht auch, dass für den staatlichen Gesetzgeber kein Anlass besteht, die römisch-katholische Körperschaft in gleicher Weise wie die evangelische Landeskirche zum Erlass autonomer kirchlicher Satzungen zu ermächtigen».6

Der Kanton Zürich nahm ebenfalls auf das theologisch begründete Wesen der katholischen Kirche Rücksicht, indem er keine Bildung einer «Synode» (eines Kirchenparlaments) verlangte: «Einer durch das staatliche Recht geschaffenen kantonalen Gesamtorganisation für die römisch-katholische Kirche können im Hinblick auf das universelle Geltung beanspruchende und vollständig ausgebaute kanonische Kirchenrecht keine innerkirchlichen Funktionen überbunden werden, so dass sich ihre Bedeutung, anders als bei der evangelischen Landeskirche, im wesentlichen in einer äusseren Zusammenfassung der römisch-katholischen Kantonsbevölkerung erschöpft. Die Organisation der Römischkatholischen Körperschaft ist deshalb in den §§ 7–9 sehr einfach gehalten. Insbesondere lässt sich auf die Schaffung einer katholischen kirchlichen Bezirksorganisation und auch auf die Bildung eines kantonalen katholischen Kirchenparlamentes als Gegenstück zur evangelischen Kirchensynode gänzlich verzichten.»7 Und schliesslich verzichtete der Kanton Zürich auch darauf, das Organ der Körperschaft, die Römisch-katholische Zentralkommission, durch verpflichtende Beiträge der einzelnen Kirchgemeinden finanziell zu stärken: «Wesentlich ist sodann, dass die römisch-katholische Zentralkasse ebenfalls nur aus freiwilligen Zuwendungen geäufnet werden darf.»8 Die ersten Budgets der Körperschaft beliefen sich dann auch nur auf ein bis zwei Millionen Franken.

Aufgezwungene Demokratie

Zwar war auch in der regierungsrätlichen Vorlage von 1962 ab und zu die Rede davon, die Schaffung einer Körperschaft und der Kirchgemeinden bedeute eine «Anerkennung» der katholischen Kirche.9 Wahrheitsgetreu wurde aber vom Kanton Zürich ausdrücklich davon gesprochen, dass durch staatliches Recht eine Körperschaft «geschaffen» werde sowie dass die Kirchgemeinden «gebildet»10 würden. Im Falle der katholischen Kirchgemeinden ging der Kanton Zürich denn auch in keiner Weise von seinen Grundprinzipien ab. Die katholischen Kirchgemeinden erhielten das für die politischen Gemeinden und die reformierten Kirchgemeinden übliche demokratische Gepräge samt der Wahl und der periodischen Wiederwahl ihrer Amtsträger, der Pfarrer, auf welcher der Kanton beharrte.11 Deshalb konnte der damalige Direktor des Innern, Regierungsrat Ernst Brugger, bei der Behandlung des Gesetzes über das katholische Kirchenwesen im Kantonsrat sagen: «Im Widerspruch zum kanonischen Recht wurde der katholischen Kirche im Kanton Zürich in bezug auf die Stellung der Kirchgemeinde und die Pfarrerwahl eine demokratische Form aufgezwungen.»12

Schrittweiser Ausbau der Körperschaft

Nach diesen bescheidenen Anfängen wurde die Körperschaft in den vergangenen 50 Jahren nach dem Vorbild der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich ausgebaut. Vor allem mit dem Argument, man müsse Staat und Kirche «entflechten» und einen Finanzausgleich zwischen den Kirchgemeinden schaffen, wurde durch eine Gesetzesänderung von 1980 eine katholische «Kirchenordnung» ermöglicht und dann auch erlassen sowie eine «Synode» als Kirchenparlament geschaffen.13 Ebenfalls wurden damals obligatorische Beiträge der Kirchgemeinden an die Körperschaft eingeführt. Diese sowie staatliche Beiträge erlauben es heute der Körperschaft – organisiert in Regierung («Synodalrat») und Parlament («Synode») –, im Kantonsratssaal jährlich über ein Budget von 50 Mio. Franken zu beschliessen. Der Direktor des Innern, Arthur Bachmann, konnte sich angesichts dieser Assimilation der Katholiken im Jahr 1979 im Kantonsrat offen dazu bekennen, was «Anerkennung» einer Religionsgemeinschaft im Kanton Zürich heisst: «Wir wollen (…) mit unserer Vorlage die Kirchen nicht so anerkennen, wie sie sind. Wir wollen sie so anerkennen, wie wir es im Gesetz vorschreiben werden. Das ist ein grosser Unterschied.»14 Etwas zurückhaltender drückte sich die Gesamtregierung in der Weisung zur Gesetzesrevision von 1980 aus: «Die allzu einfache Struktur der Körperschaft erklärt sich aus den Verhältnissen bei ihrer Schaffung im Jahre 1963. Damals war es schon ein sehr grosser Schritt, hier allgemein das demokratische Gemeindeprinzip einzuführen. Es wäre offenbar zu viel gewesen, auch noch ein Parlament irgendwelcher Art einzuführen. Auch heute ist hier noch eine gewisse Zurückhaltung am Platze. Heute indessen hat sich das Gemeindeprinzip durchgesetzt, wenn auch zum Beispiel in Form von Pfarreistiftungen immer noch Gegengewichte vorhanden sind. Es erleichterte es der Kirche, den Kontakt zur Basis zu finden, den sie mittlerweile selber weit intensiver als früher sucht, und steht mit den allgemeinen Zeittendenzen in Einklang. Deshalb scheint die Zeit für den nächsten Schritt, d. h. für die Schaffung einer Volksvertretung auf kantonaler Ebene, die im Grunde von Anfang an systemgemäss gewesen wäre, gekommen.»15

Nachdem auf diese Weise die Evangelisch-reformierte Landeskirche und die Römisch-katholische Körperschaft strukturell aneinander angeglichen worden waren, konnte im Jahr 2010 dann ein gemeinsames «Kirchengesetz» für beide Körperschaften in Kraft treten. 16 Nach wie vor verlangt der Kanton Zürich in seiner Verfassung und im Kirchengesetz die Wahl der Pfarrer – und nur dieser – auf Amtsdauer.17 Nach dem Willen der «Synode» sowie des «Synodalrats» und entgegen dem Willen des Diözesanbischofs wählen die Kirchgemeinden darüber hinaus inzwischen jedoch auch Diakone und Laientheologen, welche eine so genannte «Gemeindeleitungsfunktion » ausüben, auf Amtsdauer.18

Abgeschlossene Assimilation

Den Schlusspunkt der Assimilation der Katholiken in das Zürcher Staatskirchentum kann man aus dem Jahresbericht 2012 der Römisch-katholischen Körperschaft des Kantons Zürich ersehen. In § 19, Abs. 2 des Kirchengesetzes von 2010 heisst es, dass der Kanton Zürich die Tätigkeiten der kantonalen kirchlichen Körperschaften «mit Bedeutung für die ganze Gesellschaft, insbesondere in den Bereichen Bildung, Soziales und Kultur» durch Kostenbeiträge unterstütze.19 Im Jahresbericht 2012 gliedert die «Römisch-katholischen Kirche im Kanton Zürich» dem folgend ihre «Tätigkeitsfelder» in die Abschnitte «Soziales/Diakonie» (S. 2–19), «Bildung/ Verkündigung» (S. 20–31) sowie «Kultur/Liturgie » (S. 32–37).20

 

 

1 Vgl. dazu Alfred Teobaldi: Katholiken im Kanton Zürich. Ihr Weg zur öffentlichrechtlichen Anerkennung. Zürich 1978, 226 –231.

2 Vgl. ebd., 255–284; betreffend dieses Anliegen wurde Teobaldi auch vom Zürcher Priesterkapitel unterstützt, vgl. ebd., 266 f.

3 Vgl. Amtsblatt des Kantons Zürich 1962, 689– 802.

4 Ebd., 742 f.

5 Ebd., 747 f.

6 Ebd., 786.

7 Ebd., 787 f.

8 Ebd., 792.

9 Ebd., 730.

10 Ebd., 730.

11 Vgl. ebd., 792 und 794 –796.

12 Protokoll des Kantonsrats des Kantons Zürich 1959–1963, Bd. III, 2889.

13 Vgl. Antrag und Weisung der Regierung in: Amtsblatt des Kantons Zürich 1979, 1657–1686.

14 Protokoll des Kantonsrats des Kantons Zürich 1979–1983, Bd. VII, 8558.

15 Amtsblatt des Kantons Zürich 1979, 1682 f.

16 Kirchengesetz vom 9. Juli 2007, Zürcher Gesetzessammlung 180.1.

17 Verfassung des Kantons Zürich vom 27. Februar 2005, Zürcher Gesetzessammlung 101, Art. 130, Abs. 3, Buchst. d.; Kirchengesetz (wie Anm. 16), § 13.

18 Kirchenordnung der Römisch-katholischen Körperschaft des Kantons Zürich vom 29. Januar 2009, Zürcher Gesetzessammlung 182.10, § 59. Bereits mit Datum vom 15. Mai 2000 hatte in der Amtszeit von Bischof Amédée Grab der Bischofsrat des Bistums Chur festgehalten: «Der Gemeindeleiter/die Gemeindeleiterin verfügt (…) über keine eigene Jurisdiktionsvollmacht oder über andere Pfarrrechte; er/sie übt ihre Leitungsvollmachten immer nur kraft einer Delegation durch den Diözesanbischof aus. Deshalb können sie weder im kirchenrechtlichen noch im staatskirchenrechtlichen Sinn als P farrer gelten, und das Privileg der Volkswahl der Pfarrer (Präsentationsrecht der Gemeinde) kann auf sie keine Anwendung finden. Der Bischofsrat sieht sich gegenwärtig weder befugt noch veranlasst, diese Sachlage zu ändern», in: SKZ 168 (2000), 351 f.

19 Vgl. Kirchengesetz (wie Anm. 16), § 19, Abs. 2 . Am 3. Dezember 2012 genehmigte der Zürcher Kantonsrat einen Rahmenkredit für die Kostenbeiträge an die Römisch-katholische Körperschaft und die Evangelisch-reformierte Landeskirche für die Beitragsperiode 2014 bis 2019 in der Höhe von 300 Millionen Franken, vgl. Protokoll des Zürcher Kantonsrats, 81. Sitzung, 3. Dezember 2012, 14 ff.

20 Römisch-katholische Kirche im Kanton Zürich: Jahresbericht 2012. Zürich 2013; angehängt wird dem noch die «Gemeindebildung » (S. 38 – 45).

Martin Grichting

Martin Grichting

Dr. Martin Grichting ist seit 2009 Generalvikar für das Bistum Chur, Moderator Curiae und residierender Domherr des Bistums Chur