1500 Jahre Ordensleben in St-Maurice

Die Jubiläumspforte

Das Kloster St-Maurice kann in diesem Jahr ein in unseren Breitengraden einmaliges Jubiläum feiern – 1500 Jahre ununterbrochenes Ordensleben in einem Kloster, das am 22. September 515 vom späteren burgundischen König Sigismund gegründet wurde. Grund genug, im Jahr des geweihten Lebens im Hinblick auf den 2. Februar, der als Tag des geweihten Lebens begangen wird, dieses Kloster und dessen Geschichte näher vorzustellen.

Geschichtsträchtiger Ort

Das bis heute strategisch bedeutsame Engnis bei St-Maurice hatte an der Route über die Walliser Alpenpässe nach Italien seit jeher eine grosse Bedeutung, es eignete sich bestens für die Grenz- und Handelskontrolle und als Zollstation. Am Fuss des Felsens, wo heute der Klosterbezirk liegt, sind Spuren aus der Bronzezeit feststellbar. Die dortige Quellfassung stammt vermutlich aus römischer Zeit, mit einem den Nymphen geweihten Wasserheiligtum. Über das römische Acaunum ist wenig bekannt. Nach der Überlieferung starben in der Nähe des Engnisses bei der Märtyrerkapelle in Vérolliez der heilige Mauritius und seine Gefährten aus der Thebäischen Legion während der Herrschaft von Kaiser Maximianus (286–310) in der Nähe von Acaunum den Märtyrertod. 360–370 liess Theodul, der erste Bischof des Wallis, zu ihren Ehren dort eine Basilika errichten, die sich zu einem beliebten Wallfahrtsort entwickelte. 515 gründete Sigismund die Abtei, die er mit Ländereien reich ausstattete und die "laus perennis", das beständige Gotteslob, einführte.

Legende und Wirklichkeit

Im Rahmen einer grossen wissenschaftlichen Tagung im September 2003 an der Universität Freiburg i. Ü., in Martigny und in St-Maurice selbst wurden die bereits 1956 von Denis van Berchem geäusserten Zweifel an der Historizität der Mauritius-Legende weitergesponnen.1 Dezimierungen, die die thebäischen Soldaten wegen ihrer Christustreue gemäss der Überlieferung in St-Maurice über sich ergehen lassen mussten, waren als Kollektivstrafe um 300 nicht mehr üblich, wurden also ausgeschlossen, ebenso die Anwesenheit von Soldaten aus Theben in St-Maurice stark angezweifelt. Der Militärhistoriker Michael Alexander Speidel sieht die Bedeutung der "Passio" der Märtyrer von St-Maurice nicht in einer ausgemalten oder ungenauen Überlieferung eines sonst unbekannten historischen Ereignisses, sondern in ihrer weitreichenden und vielfältigen Wirkungsgeschichte.2 Die zwei Legenden, welche über Mauritius und seine Gefährten Auskunft geben, sind inhaltlich nicht deckungsgleich. Die anonyme Passio, wahrscheinlich aus dem 7. Jahrhundert, betont die Verweigerung heidnischer Rituale, während die ältere "Passio Acaunensium martyrum" (um 430/440) von Eucherius von Lyon den Konflikt stärker bei der Ablehnung von Christenverfolgungen sieht.

Versöhnlicher als etliche Referenten der erwähnten wissenschaftlichen Tagung von 2003 stellt Beat Näf die Mauritiuslegende in einen grösseren Zusammenhang. Festzuhalten ist, dass das Römische Reich unter Maximian um 285/286 in Gallien gegen die Bagauden (Kelten) vorging, sodass Grenzkonflikte in und um St-Maurice um 300 gut denkbar sind, auch der Einsatz von Soldaten aus dem heutigen Ägypten. Beat Näf hält fest, dass es für die Thebäische Legion Zeugnisse gibt, "die aus der damaligen Zeit stammen, unabhängig von christlichen Interpretationen existieren, aber bei der Entwicklung der Legenden von diesen nicht auser acht gelassen werden konnten, weil Legenden Glaubwürdigkeit beanspruchen und als schiere Phantasiegebilde keinen Erfolg gehabt hätten".3

Bedeutende Wirkungsgeschichte

Um 360–370 liess Theodul, der erste Bischof des Wallis, zu Ehren von Mauritius und dessen Gefährten eine Basilika errichten, die sich zu einem beliebten Wallfahrtsort entwickelte. Am 22. September 515, dem bis heute in der Schweiz gefeierten Mauritius- Festtag – er und seine Gefährten wurden 1969 aus dem römischen Generalkalender gestrichen – gründete der spätere Burgunderkönig Sigismund die Abtei und beschenkte diese reich mit Ländereien. Der Papyrus mit der Predigt des heiligen Avitius, Erzbischof von Vienne, anlässlich der Weihe ist bis heute erhalten.4

Die politische Geschichte von St-Maurice ist der exponierten Stellung entsprechend bewegt: 523 fielen die Franken, 574 die Lombarden und Mitte des 10. Jahrhunderts die Sarazenen ein. 888 wurde der Welfe Rudolf in der Abteikirche zum König von Hochburgund gekrönt. Vom 13. Jahrhundert an war die Stadt von Mauern umgeben. 1317 bestätigte Graf Amadeus V. von Savoyen die Freiheiten der Stadt. 1475 gelangte St-Maurice zusammen mit dem ganzen Unterwallis unter die Herrschaft der sieben Zenden, zum Schutz der Grenze gegen Bern wurde eine Burg gebaut. 1693 verheerte ein Stadtbrand St-Maurice mit Ausnahme der Kirche. Wegen häufiger Felsstürze wurde die früher geostete Kirche 1627 an den heutigen Standort verlegt, wobei das neue Schiff von Norden nach Süden verläuft. 1942 zerstörte ein Felssturz Kirchturm und Vorhalle. Nach der Renovation und dem Ausbau wurde die Kirche 1948 zur "Basilica minor" erhoben und 1949 geweiht.

Zur Geschichte der Abtei

Die wichtigste geistliche Institution war und ist in St-Maurice die Abtei – es gibt dort auch Augustinerschwestern und ein Kapuzinerkloster. Mit der "laus perennis" führte Sigismund einen liturgischen Brauch der Ostkirche ein, der bis ins 8. Jahrhundert praktiziert wurde. Nach 534 unterstützten auch die Merowingerkönige das Kloster, dessen Regeln auch andernorts übernommen wurden. Gegen 830 reformierte Ludwig der Fromme das Kloster, und die Mönchsgemeinschaft entwickelte sich zum Chorherrenstift. 1128 ersetzte Amadeus III. von Savoyen, der Kastvogt der Abtei, im Rahmen einer umfassenden Reform des Klosters die Säkularkanoniker durch Augustiner Chorherren, die zu einem gemeinschaftlichen Leben in Armut verpflichtet sind. 1571 stellte der Abt die Abtei unter den Schutz des Bischofs von Sitten und des Walliser Landrats, ständige Konflikte zwischen der Abtei und den Walliser Bischöfen waren bis ins 20. Jahrhundert an der Tagesordnung.5 1798 untersagte ihr die Regierung der Helvetischen Republik die Novizenaufnahme. Tradition hatte die von Kanonikern in St-Maurice geführte Schule seit Jahrhunderten, bis heute bedeutend ist das 1806 gegründete Kolleg, das heute um die tausend Schüler und ein Internat umfasst.

1840 erhielten die Äbte den Titel des Bischofs von Bethlehem (bis Louis-Séverin Haller, 1943 zum Abt und Bischof geweiht). Direkt dem Heiligen Stuhl unterstellt, ist es eine Gebietsabtei. Ihr 1933 festgelegtes Gebiet wurde 1993 beschränkt; es umfasst die Klostergebäude sowie die Sigismund-Pfarrei in St-Maurice selbst und die Pfarreien Vernayaz, Salvan und Finhaut. Der Abt ist seit der Gründung der Schweizer Bischofskonferenz im Jahre 1863 deren Mitglied, während dies bei der zweiten gefreiten Abtei in der Schweiz, dem Benediktinerkloster Einsiedeln, erst seit 1947, als Papst Pius XII. die Direktunterstellung unter Rom bestätigt hat, der Fall ist. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil dämmte der Heilige Stuhl Spezialprälaturen ein, so dass Abt Henri Salina erst mit 65 Jahren zum Titularbischof von "Mons in Mauritania" geweiht wurde (was ihm ermöglichte, von 1995 bis 1997 als Westschweizer die Schweizer Bischofskonferenz zu präsidieren, womit die Deutschschweizer Bischöfe in den schwierigen Jahren rund um den Churer Bischofskonflikt etwas entlastet waren). Der amtierende Abt Joseph Roduit hat gleich wie Abt Urban Federer von Einsiedeln für seine Gebietsabtei bischöfliche Rechte, aber ohne Bischofsweihe.

Das Jubiläumsjahr

Wie aus den nebenstehenden Hinweisen deutlich wird, hat die Abtei St-Maurice, die auch für die Gründung der Mauritius- (seit 1865 Betreuung von Kranken und Hilfsbedürftigen) und Augustinusschwestern (seit 1906 im Presse- und Verlagswesen tätig) wichtige Impulse gab, von langer Hand und professionell vorbereitet. Das Jubiläum der ältesten Abtei von Westeuropa ist so attraktiv, dass von der Firma Swatch sogar eine eigene Jubiläumsuhr herausgegeben wird. Die Post gibt gleich vier Jubiläumsbriefmarken ("Sondermarken 1500 Jahre Abtei Saint-Maurice: Spiritueller Ort mit langer Geschichte") heraus, Swissmint zieht mit einer Silbermünze nach.6 Super! Nun fehlt nur noch der Besuch von Papst Franziskus!

1 Siehe dazu: Otto Wermelinger u. a. (Hrsg.): Mauritius und die Thebäische Legion. Akten des internationalen Kolloquiums Freiburg, Saint- Maurice, Martigny, 17.–20. September 2003. Fribourg 2005, 483 S.

2 Ebd., 46.

3 Beat Näf: Städte und ihre Märtyrer. Der Kult der Thebäischen Legion. Fribourg 2011, 92.

4 Élisabeth Antoine-König (Hrsg.): Der Schatz der Abtei Saint-Maurice d’Agaune. Paris 2014, 42 f.

5 Vgl. dazu den umfangreichen Beitrag über die Abtei von St-Maurice in: Brigitte Degler-Spengler (Red.): Helvetia Sacra IV/1 (Basel-Frankfurt a. M. 1997), 279–504.

6 Weitere Infos dazu unter: www.abbaye1500.ch

7 Ich danke P. Thomas Rödder CRA und Sr. Cathérine Jerusalem herzlich für die ausgezeichnete Führung in St-Maurice und für weitere Hilfen.

Urban Fink-Wagner

Urban Fink-Wagner

Der Historiker und promovierte Theologe Urban Fink-Wagner, 2004 bis 2016 Redaktionsleiter der SKZ, ist Geschäftsführer der Inländischen Mission.