Zwischen Selbstverleugnung und Selbstfinden

Ich setze voraus, dass der Mensch sich selbst gestattet ist; dass er denken kann, ohne dass irgendeine Autorität ihm das Denken abnimmt; dass er sein Glück suchen darf, ohne dass diese Suche unter Verdacht steht; dass er die Art seines Lebens wählen kann, ohne dass ihm jemand die Freiheit dazu nimmt. In religiösen Traditionen ist dies nicht selbstverständlich. Autonomie und Selbstfindung standen oft unter Verdacht. Das Opfer, die Selbstentsagung oder gar die Abtötung des eigenen Ich galten auch in der Geschichte des Christentums oft als die höheren Werte. Gehorsam war wichtiger als Autonomie. Einen Text der zweifelhaften Selbstverleugnung finde ich im «Lexikon für Theologie und Kirche» unter dem Stichwort Gehorsam: «Gehorsam ist das Sicheinfügen des Willens in den gebietenden Willen einer Autorität. Diese setzt den Befehl, der autoritativ Erfüllung fordert. (…) Der Gehorsam schliesst sich der Entscheidung des autoritativen Willens an, verzichtet auf eine eigene hinsichtlich des Inhalts (…). Der Gehorchende richtet sich also eigentlich auf den befehlenden Willen als solchen und bejaht dabei einschlussweise die Gehalte. Er nimmt sie nicht an, weil sie in sich gut sind, sondern weil sie befohlen sind. Darin liegt das Vernünftige des Gehorsams, das seine Sittlichkeit begründet. Gehorsam gibt der Autorität das, was ihr gehört, nämlich die Gefolgschaft.»1 Gehorsam besteht also darin, nicht selber zu denken und nicht selber zu entscheiden, sondern sich fremden Autoritäten zu unterwerfen, die das eigene Gewissen ersetzen. Die Selbstentsagung wird zum Ziel. Dies kann niemand mehr wollen, es hat schon viele zum Opfer gemacht.

Ich-Vergessenheit

Ich frage aber weiter: Gibt es eine Humanität, gibt es eine Stärke des Menschen, gibt es einen Weg zur Wahrheit und zu Gott, der ohne Entsagung oder gar Verleugnung des korrupten Ich auskommt? Kann man sich finden, ohne sich zu verlieren? Kann man sein Leben finden, ohne es zu verlieren (Lukas 9,24)? Gibt es eine Autonomie ohne Selbstaufgabe und Gehorsam? Ich zitiere einen Text von Dorothee Sölle, einer starken, glücksfähigen Frau und einer unverdächtigen Zeugin: «Das Ich zu vergessen, ist notwendig, und genau das hat die mystische Tradition gedacht, insofern sie das Gott- Denken und das Ich-Vergessen in eine Beziehung setzt. Der Prozess, in dem das Ich aufhört, Gott zu vergessen, ist derselbe, in dem es anfängt, sich selber zu vergessen. Erinnerung und Vergessen sind zwei Seiten eines Aktes. Die Ich-Vergessenheit anstelle der normalen Gott-Vergessenheit gehört, mystisch gesprochen, in den Bereich des Sich-Versenkens, Sich-Verlierens, des Sich- Verliebens, alles Tätigkeiten, in denen wir von uns selber fortgehen. Ein Mensch gewinnt ein Gesicht nicht, indem er sich im Spiegel betrachtet. (…) Zum Gesicht gehört das Aufetwas- anderes-Schauen, das Gebanntsein von etwas ausser uns selbst. Dass wir uns verlieren können in etwas, das nicht wir sind, ist die schönste Art, das Ego zu entmachten und in diesem Sinn frei zu werden.»2

Ich-Vergessenheit nennt es Dorothee Sölle, dem eigenen Willen entsagen nennt es Benedikt von Nursia in seiner Regel. Eine menschheitliche und eine religiöse Wahrheit: Wer sich sucht und sich selber beabsichtigt, wird sich verfehlen.

Von sich selbst weggehen

Sich selbst ausziehen und von sich selbst weggehen, nackt werden ist die mystische Metapher, die wir in vielen Religionen finden, bei Franz von Assisi ebenso wie bei Dag Hammarskjöld, der Generalsekretär der Vereinten Nationen war und 1961 im Kongo ermordet wurde. In seinem Tagebuch notiert er: «Verkleidet ist das Ich, das nur aus gleichgültigen Urteilen, sinnlosen Auszeichnungen und protokollierten Leistungen geschaffen ist. Eingeschnürt in die Zwangsjacke des Naheliegenden. Aus alledem heraustreten, nackt, auf des Morgenlichts Klippe – empfangen, unversehrt, frei: im Licht, mit Licht, vom Licht. Einer, wirklich in dem einen. Heraus aus mir selbst, dem Hindernis, hinaus zu mir selbst, der Erfüllung.»3

Das isolierte und in sich selbst verfangene Ich mit seinen korrupten Wünschen und Interessen, so Hammarskjöld und Sölle, ist also nicht der Ort der Freiheit. Es ist der Kerker, aus dem sich der Mensch befreien muss. Man muss sich seiner entledigen, um sich selbst und um Gott zu finden. Man findet sich, indem man sich verlässt. Der Geist der Selbstentledigung ist messerscharf, und er hat viele bis in die Seele oder bis in die Seelenlosigkeit verletzt. Er wurde manchmal verstümmelt zu einer Technik und zu dem bösen Wort Abtötung. Aber gibt es überhaupt eine grosse Wahrheit, die nicht zugleich gefährlich und missbrauchbar ist? Jede grosse Idee ist streng.

Das Problem: Man könnte die Strenge für die Idee selber halten. Dafür plädieren weder Sölle noch Hammarskjöld. Sie plädieren für eine Autonomie, für das freie Ich, das – um ein altes Wort zu gebrauchen – die Demut kennt. Man kann sich nicht selbst genügen. Man kann sich nicht in sich selbst finden und bergen. Jede wahre Selbstfindung findet im Gespräch statt. Freigeister sind nicht in sich selbst frei. Sie werden zu freien Geistern im Gespräch; in der Fähigkeit, auf die Stimme der Toten zu hören, auf die Stimme der lebenden Geschwister, auf die Stimme Gottes. Man darf sich nicht gewissenlos irgendeiner Autorität unterwerfen. Man darf sich aber auch nicht gewissenlos sich selbst und dem eigenen Ich unterwerfen. Gehorsam heisst, sich dem eigenen falschen Bewusstsein entwinden, wenn man so will: sich verleugnen. Es heisst, sich treffen und beunruhigen lassen von Wahrheiten, die grösser sind als die eigenen. Wir sind nicht nur wir selbst, und wir werden uns nicht finden, wenn wir uns nur in uns selbst suchen. Freiheit besteht auch in der Freiheit von uns selbst. In meiner Jugend, in einer Welt, in der uns das Ich, das eigene Gewissen und die eigenen Entscheidungen von aussen diktiert waren, haben wir dafür gekämpft, uns selbst finden und Ich sagen zu dürfen. Das war ein unerlässlicher Kampf.

Mehr als unser dürftiges Ich

Heute aber verlangen wir unsere Freiheit, mehr sein zu dürfen als nur unser dürftiges Ich. Das aber geht nicht ohne den Weg der Reinigung von dem verblendeten und in sich selbst verkrümmten Ich. Es geht also nicht um weniger Freiheit, sondern um mehr. Man darf weder in Autoritäten ersticken noch in sich selbst. Authentisch ist nicht, wer nur sich selbst kennt, verfolgt, liebt und sucht. Authentisch ist und sich finden wird, wer nicht darauf besteht, authentisch zu sein; wer vielmehr von sich absieht und den Geist nicht nur bei sich selbst vermutet; um es mit Dorothee Sölle zu sagen: Wer fähig ist, das besitzergreifende Ego zu entmachten.

Ich habe das Bild eines grossen Freigeistes vor Augen, des Theologen Dietrich Bonhoeffer. Er war ein freier Mensch, er hat sich dem Geist der Nazis nicht gebeugt. Seine Freiheit hat ihm Unfreiheit, Gefängnis und Tod gebracht. Er war ein souveräner und Ich-starker Mensch, wie ich wenige kenne. Zugleich hat er für die grossen alten inzwischen verfemten Wörter Demut und Gehorsam plädiert. Er hat sich gefunden, weil er sich verlieren konnte. Vielleicht doch besser: Er hat Gott gefunden, weil er sich verlieren konnte.

 

 

1 LThK2 Bd. IV (1960), 602–604.

2 Dorothee Sölle: Mystik und Widerstand. Hamburg 1997, 265.

3 Dag Hammarskjöld: Zeichen am Weg. München- Zürich 1965, 83.

Fulbert Steffensky

Fulbert Steffensky

Prof. em. Dr. Fulbert Steffensky studierte evangelische und katholische Theologie, lebte 13 Jahre als Benediktinermönch und konvertierte danach zum lutherischen Bekenntnis. Zusammen mit seiner ersten Frau, der verstorbenen Dorothee Sölle, gründete er in den 1960er-Jahren die Politischen Nachtgebete und unterrichtete von 1975 bis 1998 an der Universität Hamburg Religionspädagogik. 2013 erhielt er für sein Lebenswerk den ökumenischen Predigtpreis