Zur Darstellung der Biografie von Daniel Pittet

Adrian Holderegger (OFMCap) stimmt Xaver Pfister zu, dass das Thema der «Pädosexualität» in der Kirche aufgearbeitet werden muss. Die Bischofskonferenz, aber auch der Orden der Schweizer Kapuziner, hat die nötigen Konsequenzen gezogen. Zweifel ergeben sich, ob man «ohne Kenntnisnahme einer vertiefteren wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema vorgehen kann».1

Xaver Pfister behauptet, dass die Biografie von D. Pittet ein «Fachbuch (sei) für Menschen, die Missbrauch verstehen wollen». Ich möchte nicht missverstanden werden: Die Taten von J.A. sind in nichts zu beschönigen und zutiefst zu verurteilen. Die Lebensgeschichte eines Menschen, gerade wenn sie schwierig und verstörend ist, verdient als authentisches Zeugnis höchste Achtung. Insofern besitzt jedes persönliche Zeugnis ein Vetorecht gegenüber relativierender, besserwisserischer Interpretation.

Gegenwart bestimmt Erinnerung

Dennoch versprechen uns Zeugnisse einen direkten Zugang zu einer vergangenen Realität, die meist Jahrzehnte zurückliegt und die notwendiger-weise aus der subjektiv wahrgenommenen Gegenwart neu gesehen wird. «Die Gegenwart bestimmt die Produktion der Erinnerung mit» (P. Veyne, Historiker). Die Vergangenheit wird immer aus aktueller Situation rekonstruiert. Wir haben inzwischen gelernt, wie wir mit erzählten Lebensgeschichten als historisch-sozialer Realität und wie wir mit «erlebter Wahrheit» umzugehen haben. Hier können wir seitens der Kirche viel von den vom Bund und einigen Kantonen in Auftrag gegebenen Aufarbeitungen «fremdplatzierter Kinder» lernen.2

Wenn man das Buch von D. Pittet als «Fachbuch» proklamieren und nicht als authentisches subjektive Zeugnis stehen lassen will, bedarf es einer kritischen Lektüre. Bei einer kritischen Relecture sind im Buch von D. Pittet verschiedene Ungereimtheiten, Auslassungen und möglicherweise Übertreibungen festzustellen, die der genaueren Überprüfung nicht standhalten. Beispielsweise insinuiert das Buch, dass D. Pittet vier Jahre im Kloster Fribourg sexuelle Übergriffe über sich ergehen lassen musste und dass die Klostergemeinschaft in einer Art «Komplizenschaft» dies mehr oder weniger toleriert habe. In der Tat war J.A. nur zwei Monate im Kloster Fribourg domiziliert, in denen die fraglichen Übergriffe im Convent haben stattfinden können. D. Pittet jongliert mit Zahlen der Betroffenen, genaue Belege fehlen, die Gerichte sprechen nach monatelangen Recherchen von anderen Zahlen.

Bis heute stehen sich Aussagen des Täters und des Betroffenen gegenüber – was die konkrete Art des Übergriffs anbelangt. Und vielleicht erscheinen die achtenswerten katholischen Aktionen des Betroffenen in einem anderen Licht, nachdem sich Gerüchte über finanzielle Unregelmässigkeiten bis heute hartnäckig halten. Man könnte noch weitere irritierende Beobachtungen anführen. Doch lassen wir das Zeugnis einmal so stehen, wie es ist: Aber ein «Fachbuch» ist es definitiv nicht.

Wessen Verantwortung?

Der Artikel spricht ausschliesslich die Verantwortung der Ordensleitung an. Doch ist der Komplexität der Verantwortlichkeiten Rechnung zu tragen. In diesem Fall sind mindestens drei Instanzen involviert: Ordensleitung, Bischöfe, Staat. Dieses Ineinander genauer zu rekonstruieren, ist nun Auf-gabe einer unabhängigen Untersuchungskommission, die der Orden eingesetzt hat. Es mag sein, dass den damaligen Ordensobern Fehler unterlaufen sind, etwa aus Zögerlichkeit oder Unwissen. Dies hat die Kommission festzustellen. Wer aber das Buch von D. Pittet aufmerksam liest, wundert sich, dass Bischof Mamie den religiösen Eifer von D. Pittet – aus welchen Motiven auch immer – geschickt aufnimmt und ihn quasi als «Hausfreund» mit wichtigen Aufgaben betraut, es andererseits aber unterlässt, den Täter J.A. vor die kirchlichen und zivilen Gerichte zu bringen und, was noch schwerer wiegt, den Bischof in Lyon über die Vergehen von J.A. nicht unterrichtet, wohin J.A. versetzt wurde, um in der Pastoral tätig zu werden. Wollte der erwähnte Bischof D. Pittet vor der Öffentlichkeit schützen? Oder hat er schlicht nach der damaligen kirchenrechtlichen Norm (dem «Gesetz des Schweigens») gehandelt? Die Nachforschungen werden es vermutlich zeigen.

Noch mehr wundert man sich über das letzte Urteil des Strafgerichtshofes von Grenoble3, wo J.A. zu zwei Jahren bedingt verurteilt wurde. Obwohl seine massive psycho-sexuelle Störung dem Gericht bekannt war, wurden keine therapeutischen Massnahmen noch solche der Prävention angeordnet. Stattdessen überlässt der Staat, der immerhin dreimal in Gerichten über die Taten von J.A. geurteilt hat, den offensichtlich in seiner Persönlichkeit Gestörten allein dem Orden, der im Umgang mit einer solchen, schwer nachvollziehbaren Abnormität zunächst sicherlich überfordert sein musste. Man kann sich in der Retrospektive fragen, wie weit hier nicht auch Versäumnisse der Öffentlichkeit mit ihren gerichtlichen Instanzen vorliegen. Der Staat mit seinen Gerichts- und Aufsichtsbehörden (z.B. Schulaufsicht) hat hier sicherlich auch selbstkritisch über die Bücher zu gehen.

Meine Bemerkungen und Fragen wollen deutlich machen, dass der «Fall Pittet» so, wie er in Buchform vorliegt, als «Lernstoff» nicht und noch viel weniger für Verallgemeinerungen der Prävention geeignet ist.4 Die Kapuzinerprovinz erhofft sich einiges an Klärungen von der eingesetzten Untersuchungskommission, von der bedauerlicherweise im Artikel von Xaver Pfister nicht die Rede ist.

 

1 So Adrian Holderegger in einem Brief an die Redaktion. Die von Xaver Pfister vorgebrachten Forderungen seien «ohne Abstriche umzusetzen». Vgl. Xaver Pfister: Kann man einem Folterer vergeben? in: SKZ 185 (2017) 384–386.

2 Zuletzt für Appenzell IR U. Hafner, M. Janett: Draussen im Heim, Bern/ Zürich 2017, oder für die Diözese LGF A.-Fr. Praz et al: Enfants placés, Fribourg 2016.

3 Vom 5. Jan. 2012

4 Zum Thema «Pädophilie/ Pädosexualität und Kirche» erschienen inzwischen ausgezeichnete Fachpublikationen. Vgl. C. Lalo, J. Tricou: Crise de la pédophilie dans l’Eglise catholique: une confrontation de scripts sexuels, in: Revue d’éthique et de la théologie morale 292 (2016) 11–21. Association du groupe SAPEC: Abus sexuel au sein de l’Eglise catholique en Suisse et dans le monde, Fey (Valis) Juin 2014. W. Müller, M. Wijlens: Aus dem Dunkel ans Licht. Fakten und Konsequenzen des sexuellen Missbrauchs für Kirche und Gesellschaft, Münster 2011. Im anglophonen Raum wird das Thema seit Jahren intensiv bearbeitet. Es gibt sogar eine eigene Zeitschrift: «Journal of Child Sexual Abuse.»