Zumutungen Gottes - die «Antithesen» der Bergpredigt

Als «Zumutungen Gottes, der an uns arbeitet und uns sein Reich schenkt» bezeichnet Manfred Köhnlein die sogenannten Antithesen der Bergpredigt.1 Diesen Zumutungen hat sich auch die Theologische Ethik zu stellen. Wir kriegen sie systematisch kaum in den Griff.

 Vorgängig muss allerdings eine grundsätzliche Vorbemerkung zum Begriff «Antithesen » gemacht werden: Er suggeriert, dass Jesus sich vom Judentum seiner Zeit distanziert hat. Die «Alten» (5,21) wären demnach die Juden, deren Tora nun von Jesus überboten wird. Rabbi Jesus überbietet nicht, er führt weiter, wie andere Rabbiner auch. Vieles finden wir bereits in der weisheitlich geprägten Paränese. «Antithesen» suggeriert einen Gegensatz zwischen AT und NT , der nicht zulässig ist und der auch in Gefahr ist, ungewollt antijudaistische Polemik zu evozieren. Wir haben es also nicht mit Antithesen, sondern mit Thesen zu tun.

 Die Thesen des Rabbi Jesus sind allerdings radikal. Sie zeichnen paradigmatisch Elemente des «Way of Life» derjenigen, die im Glauben an das angebrochene Gottesreich leben. Dazu gehört, wie es der Tora entspricht, die Lebenspraxis. Diese geforderte Praxis mit ethischen Kategorien zu charakterisieren, hat in den vergangenen Jahrzehnten zu verschiedensten Versuchen geführt.

 Versuche und Versuchungen

 1. Gesinnungsethik

 Die Versuchung, die Bergpredigt auf eine verinnerlichte Gesinnung zu reduzieren (und so zu entschärfen) wird heute meist abgelehnt; denn auch die Bergpredigt fordert zu verantwortetem Handeln auf. Trotzdem schleichen sich bei den Thesen Jesu gesinnungsethische Muster ein, wenn es um die Konsequenzen geht: Die erste These (V. 21–26) setzt bei den Wurzeln an: Zorn und Wut enden, wo sie nicht unter Kontrolle gebracht werden, in Mord und Totschlag. Gegen solche Gefühle können wir uns manchmal nur schwer wehren. Was tun? Gesinnung ist gefragt: Achtung vor der Menschenwürde und Versöhnungsbereitschaft. Analog ist es mit der zweiten These, dem Ehebruch (V. 27–30). Auch hier gilt: Wehret den Anfängen, damit die Ehe der anderen entschieden geschützt wird. Wechselseitige Respektierung der ehelichen Intimität ist gefordert – das ist die rechte Gesinnung! Dass es bei der vierten These (V. 33–37) um die Gesinnung der Wahrhaftigkeit geht, versteht sich von selbst.

2. Tugendethik

Würden wir da nicht besser auf die Tugendethik setzen? Ihr geht es um mehr als nur Gesinnung. Emotionen und Begierden sind unter Kontrolle zu halten, sie gefährden die Ordnung. Das «Gesetz des Zunders» (Thomas von Aquin) wirkt in uns allen. Mit Gesinnung allein kommen wir nicht weiter; wir müssen uns beherrschen und das heisst Übung, denn Tugenden wollen immer eingeübt werden. Da stellt sich nur die Frage, ob wir das zu leisten im Stande sind.

3. Normethik

Warum nicht Normethik? Das Scheidungsverbot der dritten These (V. 31 f.) wurde immer auch normativ verstanden. Allerdings zeigt die Vergesetzlichung des Scheidungsverbotes in der katholischen Kirche, dass sie mit Unbarmherzigkeit einhergeht. Doch die Regel stammt nun mal von Jesus. Wollte er tatsächlich ausnahmslos Härte an Stelle von Barmherzigkeit?

Das Problem ist hier: Wenn wir das Scheidungsverbot normativ verstehen, muss dies auch für das Schwur- und Eidverbot (vierte These, V. 33–37) gelten. Jesus ist hier ebenso radikal: Er verbietet jeden Eid. Schon die alte Kirche hat diese Forderung entschärft. Ein Fahneneid oder Beamteneid gegenüber einem christlichen Kaiser galt als etwas ganz anderes als heidnische Eidesformeln. Und so hat der Eid seinen festen Platz auch in unserer Kirche: Im Jahr 2000 wurde der Treueid mit Verweis auf Can. 833 CIC eingeführt. «Jesu Ablehnung des Eides kann in Konflikt mit dem Zentrum des Evangeliums, der Liebe, kommen», erklärt Luz.2 Doch gilt dies nicht auch für das Scheidungsverbot? Unseren Normbegriff, der eine ethische Systematik voraussetzt, kennt die Bibel nicht. Doch wenn Jesus in zwei Thesen keine Ausnahmen zu machen gewillt ist, müssten diese beiden Thesen formal gleich umgesetzt werden.

Wir sind damit bei der Crux der Theseninterpretation in ethischer Perspektive angelangt: Sie drängen uns zum Handeln, sind normativ «geladen» und lassen sich normethisch trotzdem nicht umsetzen.

Welche Ethik?

Dass eine Vergesetzlichung der Thesen Jesu am Berg nicht möglich sei, ist Gemeingut. Das schliesst die Normethik aus. Doch ist heute im Mainstream philosophischer Ethik die Ethik vor allem Normethik. Es ist darum klug, nicht mehr von «Neutestamentlicher Ethik» oder gar von der «Ethik der Bergpredigt » zu reden.

Ein Ausweg: Moral statt Ethik?

Moral hat den pejorativen Beigeschmack des Moralisierens. Auch das finden wir im Zusammenhang mit den Thesen Jesu: Die Interpretation einer These wird als allgemein verbindlich gesetzt. Predigten waren dafür schon immer anfällig. Früher stellte man gerne die ersten «Spurenelemente» des Ehebruchs in der Gesellschaft fest, um so deren Verderbtheit illustrieren zu können. Faszinierend ist der Versuch der Quäker im 17. Jahrhundert in England, Elemente der Thesen Jesu als verbindlich zu erklären: Die Ablehnung jeder Eidesleistung, die Verweigerung heuchlerischer Höflichkeit gegenüber Autoritätspersonen (mit Verweis auf V. 37), die Verweigerung an der Mitwirkung kriegerischer Handlungen (Fünfte und sechste These, V. 38–47) sowie andere radikale Interpretationen jesuanischer Weisungen zwangen sie letztlich zur Auswanderung in die neue Welt.

Doch die Geschichte der Quäker illustriert auch die unlösbaren Aporien, die sich ergeben, wenn z. B. weltliche Gerichtsbarkeit und staatliche Gewalt grundsätzlich abgelehnt werden.

Ethos – nicht Ethik!

Es ist befreiend, in biblischen Zusammenhängen vom Ethos und nicht von der Ethik zu reden. Die Ethik sucht heute vor allem universalisierbare Normen, die im Diskurs vor dem Forum der Vernunft bestehen können. Das Ethos zeichnet demgegenüber das sittliche Profil von Einzelnen und von Gruppen. Dem Ethos geht es um Identität und Authentizität, es lässt sich nicht auf Gesinnung reduzieren. Das Ethos kennt die überzeugend gelebte Norm, ohne diese für allgemeinverbindlich zu erklären. So kann es ein christliches Eheethos geben, für welches die Scheidung ein Tabu ist. Ein christliches Ethos der Wahrhaftigkeit wird sich um jene Transparenz bemühen, die peinliche Schwüre und Beteuerungen (wenn möglich vor laufender Kamera) überflüssig macht. Ein Ethos der Gewaltlosigkeit wird normativ den Rahmen des realistisch leistbaren Gewaltverzichts von Einzelnen oder Gruppen abstecken. Ein solches Ethos intendiert kairologische Handlungen, die das nahende Gottesreich wenigstens punktuell umsetzen wollen. So wird der Abschluss der sechs Thesen ernst genommen: «Seid vollkommen, wie Euer himmlischer Vater vollkommen ist» (V. 48). Wer den Mut hat, ein anspruchsvolles Ethos zu wagen, ist indes vom Scheitern bedroht. An uns, an der Kirche, ist es darum, die Parallelstelle von Lk 6,36 mit zu bedenken: «Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist!» 

 

 

1 Manfred Köhnlein: Die Bergredigt. Stuttgart 2005, 86. 2Ulrich Luz: EKK 1/1, 289. Dr. Markus Arnold ist Studienleiter und Ethikdozent am Religionspädagogisches Institut (RPI) der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.

Markus Arnold (Bild: reformiert.info)

Markus Arnold

Dr. Markus Arnold ist Studienleiter und Ethikdozent am Religionspädagogisches Institut (RPI) der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.