Wünschelrutengänger der Katholizität

Yves Congar Leben - Denken - Werk

Der Begriff der «Katholizität» verdient neue Aufmerksamkeit, vermag er doch Identität und Dialogfähigkeit, Universalität und Konkretion, Einheit und Vielfalt zusammenzudenken. Zudem steht er für spezifisch christliche Sensibilität gegenüber der Geschichtlichkeit von Mensch und Welt. Als ein bleibend aktueller Lehrer in Sachen Katholizität kann vor diesem Hintergrund der kurz vor seinem Tod von Papst Johannes Paul II. zum Kardinal kreierte französische Dominikanertheologe Yves Congar (1905–1994) gelten. Jüngst erschien in deutscher Sprache eine Biografie, welche das Werk Congars vom Begriff «Katholizität» her deutet. Darin ist die geistliche Fundierung seines traditionsbewussten und damit zukunftsoffenen theologischen Denkens zum Ausdruck gebracht: «Dieser Begriff war der Schlüssel zur Öffnung neuer Perspektiven, als die Situation der Ekklesiologie ins Stocken geraten zu sein schien. Wir sind der Meinung, dass Congar zu grundlegend neuen Einsichten kam, weil er den Horizont seiner Überlegungen diachron und synchron erweiterte. Einerseits erweiterte er seinen Horizont durch eine Rückbesinnung auf die Quellen der letzten zweitausend Jahre oder noch weiter. Andererseits überschritt er die Grenzen der Überlegungen, die sich eingenistet hatten, dadurch, dass er seine Aufmerksamkeit auf andere Orte lenkte, die sein Nachdenken bereicherten, sei es, dass er die Wahrheit bei den anderen Kirchen oder im gegenwärtigen Leben der Kirche suchte.»1

Das Erbe Yves Congars für Kirche und Theologie

Joseph Famerée und Gilles Routhier führen in der bereits 2008 in französischer Sprache erschienenen Werkbiografie und nun von P. Marcel Oswald OP angefertigten deutschen Übersetzung in Congars «theologische Haltung in der Suche nach Wahrheit und christlicher Einheit»2 ein. Diese Haltung kann über die unzähligen anregenden Veröffentlichungen des Dominikanerkardinals zu letztlich allen Themen christlichen Lebens und Denkens hinaus und jenseits aller Grenzen, die auch sein Denken unweigerlich prägen, als sein eigentliches Vermächtnis gelten.

Kaum zu überschätzen ist mit Blick auf das Denken Congars, der im Zweiten Weltkrieg in deutsche Kriegsgefangenschaft geriet und nach der Krise der Arbeiterpriester 1954 in der Grenzstadt Strassburg dank deren Bischof Jean-Julien Weber eine neue Heimat fand, die ständige Überwindung von Grenzen zwischen französischem und deutschem Sprachraum.

Sein ökumenisches Denken war in hohem Masse von Studienaufenthalten in Deutschland bzw. der Lektüre deutschsprachiger protestantischer Theologie geprägt (S. 26). Während das Interesse in Deutschland stärker dem katholisch-protestantischen Austausch galt, öffnete sich Congar zugleich zentralen Einsichten der in Frankreich präsenteren Orthodoxie. Die Rezeption seines Denkens im deutschsprachigen Raum brachte dann langfristig, oft zunächst unbemerkt, auch diesseits des Rheins eine wachsende Sensibilisierung für Themen und Einsichten orthodoxer Spiritualität und Theologie mit sich. Wenn nun eine von zwei frankophonen (germanophilen) Theologen erarbeitete Werkbiografie des Brückenbauers Congar ins Deutsche übersetzt wurde, ist dies ein für das Werkverständnis besonders gelungener Brückenschlag.

Die intellektuelle Biografie

Der erste Teil ist der intellektuellen Biografie Congars gewidmet, in der als Hauptcharakteristikum Theologie und kirchliches Leben sich wechselseitig befruchtet haben.3

Dem zweiten, stärker biografischen, Teil gelingt es eindrücklich, im Rahmen der Darstellung des theologischen Denkens Congars die mit der Katholizität verbundene Vielfalt der Themen, Fragestellungen und Einsichten zu synthetisieren. Dabei sind den Themen der Einheit, der Reform, des Amtes, der Tradition, der Christologie und der Pneumatologie sowie der Ekklesiologie je eigene Abschnitte gewidmet.

Im dritten, stärker chronologisch-thematischen Teil bietet Joseph Famerée eine «Geographie des Werkes», in dem das Zweite Vatikanische Konzil eine zentrale Rolle einnimmt: Congar sah in diesem «die grösste Gnade seines Lebens»;4 er selbst gilt als einer der bedeutendsten Konzilstheologen. Gilles Routhier kommt das Verdienst zu, im vierten Kapitel für das «grosse (...) Erbe» Congars zu sensibilisieren.

Die Bedeutung der Originaltexte

Es zeichnet die vorliegende Einführung aus, dass die Autoren in einem letzten Teil auf den unersetzlichen Wert der Lektüre von Congars Originaltexten nicht nur hinweisen, sondern eine fundierte Auswahl solcher Texte bieten. Nicht wenige zentrale Texte werden hier wenigstens in Ausschnitten in deutscher Sprache zugänglich gemacht. Geradezu kongenial mit Congars Texten erweisen sich dabei die Einführungen Famerées und Routhiers in die ausgewählten Texte. So wird etwa ein Text über das «messianische Volk» folgendermassen eingeleitet: «Congar fühlte sich seit 1968 berufen, auf die Beziehung zwischen dem christlichen Heil und dem unaufhaltsamen Bestreben der menschlichen Befreiungsbewegungen einzugehen. Es war die Zeit, als sich die Theologie der Befreiung in Lateinamerika entwickelte. Für den Autor ist die Kirche als Sakrament des Heils und als messianisches Volk verpflichtet, die Versuche zur Umsetzung der eschatologischen Gerechtigkeit Gottes in der Zeit zu unterstützen, im Bewusstsein ihres transzendenten Charakters im Vergleich zu dem, was die Menschen schaffen. Die Kirche soll Kritik üben an allen Situationen und Handlungen, die dem Plan Gottes mit den Menschen entgegenwirken.»5

Congars theologisches Genie bestand weniger in einer allumfassenden theologisch-philosophischen Synthese von Wesen und Gestalt der Katholizität als vielmehr in einem geistlichen Habitus der Katholizität. Dieser machte ihn nicht nur zu einem Brückenbauer, sondern – untrennbar damit verbunden – zu einem theologischen «Wünschelrutengänger»6: als solcher deckte er «die Quellen und vielversprechenden Kanäle der kirchlichen Tradition auf, um sie für die gegenwärtigen theologischen Reflexionen fruchtbar zu machen».7 Derart ermöglichte er nicht nur Verbindungen über Sprach- und Konfessionsgrenzen hinweg, sondern zeigte oft in überraschender Weise Querverbindungen zwischen den verschiedensten theologischen Fragen, Themen und Methoden auf. Die Einführung in Leben, Denken und Werk des Jahrhunderttheologen eignet sich bestens als «Eingangstor»8 in das Werk dieses «Wünschelrutengängers der Katholizität», das seinerseits ein «Eingangstor» für eine Reflexion auf Leben und Glauben der Kirche in Geschichte, Gegenwart und Zukunft sein kann. 

 

1 Joseph Famerée / Gilles Routhier: Yves Congar. Leben – Denken – Werk. (Verlag Herder GmbH) Freiburg i. Br. 2015, 252.

2 Ebd., 12. Dass dabei speziell auch der Begriff der Katholizität in einen grösseren Zusammenhang gestellt werden muss, zeigt am Beispiel der Grösse und Grenzen von Congars Werk: Peter Walter: Katholizität: Allgemeinheit, Einheitlichkeit, Fülle? Wandlungen eines Begriffs in der jüngeren Theologiegeschichte, in: Christoph Böttig-heimer (Hrsg.): Globalität und Katholizität. Weltkirchlichkeit unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts (= Quaestiones disputatae 276). Freiburg i.Br. 2016, 31–66, bes. 45–50.

3 Siehe dazu auch: Michael Quisinsky, The «Interference» between Nouvelle Théologie and Catholic Practice in Church and Society, in: Ephemerides Theologicae Lovanienses 90 (2014), 71–98.

4 Famerée-Routhier, Yves Congar (wie Anm. 1), 240. Siehe auch: Michael Quisinsky: Geschichtlicher Glaube in einer geschichtlichen Welt. Der Beitrag von M.-D. Chenu, Y. Congar und H.-M. Féret zum II. Vaticanum (= Dogma und Geschichte 6). Münster 2007.

5 Famerée-Routhier, Yves Congar (wie Anm. 1), 310 f.

6 Ebd., 12.

7 Ebd., 12 f.

8 Ebd., 256.  

Michael Quisinsky (Bild: kirchenblogs.ch)

Michael Quisinsky

Dr. theol. Michael Quisinsky studierte Theologie und Romanistik in Freiburg i. Br., Tübingen und Paris und promovierte mit einer Arbeit über das Zweite Vatikanische Konzil. Er ist Lehrer und Lehrbeauftragter für Fundamentaltheologie an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg i. Ü.