Wort Gottes: Lebendigkeit und Ausstrahlung

Vor zehn Jahren, am 16. Januar 2011, wurde Felix Gmür zum Bischof geweiht und darf seither als Bischof von Basel wirken.

Unzählige Treffen, liturgische Feiern, Sitzungen und Begegnungen mit Menschen, die zu meinen schönsten Aufgaben gehören, prägten die vergangenen Jahre. Für alle Anregungen, die sich ergeben haben und ergeben, bin ich sehr dankbar.

Ein Thema, das mich in meinem Dienst in vielen Facetten stetig begleitet, ist der Umbruchprozess, in dem sich die Kirche befindet. Die Kirche braucht, wie zu jeder Zeit, Erneuerung. Selbst jenen, welche die Kirche für makellos hielten, musste dies spätestens dann klarwerden, als das dunkle Tuch gehoben wurde, unter dem die Missbrauchsskandale im kirchlichen Milieu versteckt wurden. Die unfassbar bestürzenden Momente des Grauens, die Opfer unter dem Dach der Kirche erlebten, bedrücken mich zutiefst. Die Treffen mit Opfern, das Leid der jeweiligen Personen lassen mich oft sprachlos zurück. Skandalöse Missstände wurden und werden ans Licht gebracht. Sie enthüllen einen Raum des kirchlichen Machtmissbrauchs, der jahrelang grassieren konnte und durch Übersehen und geistliches Überhöhen, durch Vertuschen und Verstecken, durch Mangel an Einsicht und Transparenz strukturell begünstigt wurde. Innerkirchliche Grabenkämpfe heizen die Stimmung zusätzlich auf. Viele Menschen fühlen sich von der Kirche nicht mehr gehört oder angesprochen, wofür auch die jüngst publizierten Zahlen der Kirchenaustritte in der Schweiz sprechen.

Ist das Schiff «Kirche» dem Untergang geweiht? Sind die Gläubigen die Letzten, die noch nicht realisiert haben, dass sie besser abspringen würden und nach anderen Schiffen und Booten Ausschau halten? In der Tat sind wir auf einem lädierten Schiff. Wie die Jünger, deren Boot beim Seesturm von den Wellen in alle Richtungen geschlagen wurde und zu sinken drohte (Mk 4,35ff.), sind auch wir nicht davor gefeit, das Vertrauen zu verlieren, dunklen Gedanken zu verfallen und zu kapitulieren. Und doch: Das Schiff schwimmt. Es schwimmt weiter, weil trotz aller menschenverursachten Widrigkeiten Jesus mit an Bord ist. Es schwimmt, weil sich unzählige Menschen weltweit in der Kirche und für sie engagieren und ein Zuhause in ihr haben. Diesen Menschen begegne ich in meinem Alltag immer wieder. Gemeinsam mit ihnen vertraue ich darauf, dass der Heilige Geist bis heute durch die Kirche als Volk Gottes wirkt. Die Botschaft Jesu Christi, die sich in seiner Person selbst verdichtet und als ganze Wort Gottes ist, verfügt über eine enorme Ausstrahlungskraft. Deshalb ist das Wort Gottes lebendig. Das Konzil zitiert dazu Johannes Chrysostomos und sagt: «Gott selber begegnet uns in seinem Wort, damit wir seine unsagbare Menschenfreundlichkeit kennenlernen» (vgl. Dei Verbum 13).

Gott ist also da, lebendig, menschenfreundlich. Glauben wir an die Wirkkraft seines lebendigen Wortes? Eine Kirche, die gleichsam in einer Nabelschau stets nur klagt und jammert und ihre Wunden leckt, verfügt über ebenso wenig Ausstrahlungskraft wie eine Kirche, die am Leben der Menschen vorbeigeht und ihre Schätze für sich pachtet, die Beulen kaschiert und sich von der Welt abwendet. Wir Getaufte haben den Auftrag, das Wort Gottes im eigenen Leben für uns und andere lebendig werden zu lassen. Wir alle verfügen über Ausstrahlungskraft. Diese Kraft wirkt dann, wenn sie im Gebet und in Werken der Nächstenliebe entdeckt und kultiviert wird.

Ich danke allen, die mit mir in den vergangenen zehn Jahren unterwegs waren, mit mir auch zukünftig unterwegs sein werden und mir dabei helfen, meinen Dienst gewissenhaft, selbstkritisch und voller Freude im Glauben zu erfüllen. Beten wir und helfen wir uns gegenseitig, das grosse und manchmal schwerfällige Schiff «Kirche» auch in stürmischen Zeiten auf Kurs zu halten, sodass es immer mehr zu einem einladenden, offenen Raum der Begegnung mit Gott und untereinander wird.

+ Felix Gmür, Bischof von Basel


Felix Gmür

Dr. theol. Dr. phil. Felix Gmür (Jg. 1966) studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Freiburg (CH), München, Paris und Rom. Die Studien schloss er 1994 mit einem Lizentiat in Theologie, 1997 mit einem Doktorat in Philosophie und 2011 mit einem Doktorat in Theologie ab. Seit 2011 ist er Bischof von Basel und seit 2019 Präsident der Schweizer Bischofskonferenz (SBK).