Kommt es zu ideologischen Engführungen, wenn jemand Abtreibungen und Geschlechtsumwandlungen kritisch gegenübersteht oder der Nation, der Familie bzw. dem Privateigentum einen hohen Stellenwert beimisst? Kann das nicht genauso in einer anderen Tendenz der Fall sein, wenn jemand Abtreibungen und Geschlechtsumwandlungen propagiert, internationalistisch eingestellt ist, traditionellen Familienstrukturen gegenüber abgeneigt ist oder kollektivistische Ideen vertritt? Und kann sich eine Engführung nicht gerade auch da verbergen, wo man andere auf ihre Engführungen festlegt? Wenn man etwa kritisch auf die USA blickt, wird erkennbar, wie beide grossen Parteien je auf ihre Weise die Politik an gewissen Themen festmachen, die dann mit Schlagworten ideologisiert und ausgeschlachtet werden, was zu unsachgemässen Engführungen und weiter zu gegenseitigen Diffamierungen führt. So gab es eine Zeit, in der die Frontlinie zwischen Abtreibungsgegnern und -befürwortern in den USA quer durch beide Parteien ging. Dann wurde diese Frage immer mehr für die Wahlinteressen instrumentalisiert und in den Mittelpunkt gerückt, so dass heute eine Partei für und eine gegen Abtreibungen ist, um auf Stimmenfang zu gehen. Und Gläubige unterschiedlicher Lager sind gern bereit, politische Allianzen einzugehen und Spiele mitzuspielen, um ihre Interessen durchzusetzen (so war es auch bei den Glaubensstreitigkeiten der Spätantike). Da hätte der Verfasser des Leitartikels die Grundsätze gegensätzlicher Glaubensausrichtungen als fragwürdig hinstellen müssen!
Das Problem besteht sehr oft nicht so sehr in dieser oder jener Auffassung, sondern in der Aufteilung in die Guten und Schlechten. Wie oft haben sich die Parteien in den kirchlichen Glaubensstreiten gegenseitig schlechtgemacht! Das immer noch lesenswerte Buch von Walter Nigg über die Ketzer zeigt, wie gerade auch die im Streit unterlegene Partei etwas Wertvolles zum kirchlichen Glauben hätte beitragen können. Man hat mit unchristlichen Mitteln die christliche Wahrheit zu ergründen versucht. Das Wort vom Balken und Splitter im menschlichen Auge wurde vergessen. Es hätte der Rechthaberei einen Riegel geschoben und bewusst gemacht, dass bei der Auseinandersetzung die Art und Weise genau so wichtig ist wie der Inhalt. So betrachte ich persönlich die queere Bewegung kritisch, sehe aber ebenso, dass sie Ausdruck noch ungelöster spiritueller und gesellschaftlicher Fragen ist, die nach einer Lösung drängen. Auch habe ich den Eindruck, dass in der queeren Bewegung die Meinung sehr uniform ist und es kaum ein kritisches Nachfragen gibt. Das ist sehr konservativen Ideologien ganz ähnlich.
Wendelin Fleischli, Flüeli-Ranft